Lila Lili und Petites révélations - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kultur



AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 21.03.2012


Lila Lili und Petites révélations
Clarissa Lempp

"Lila Lili" und "Petites révélations" von Marie Vermillard tragen eine ganz eigene Handschrift. Zwischen Sozialstudie und experimentellem Film finden die beiden Filme einen einzigartigen Blick.




Die deutschsprachige Filmzeitschrift Revolver beglückt seit einigen Jahren CineastInnen mit klugen Interviews, Texten von und zu FilmemacherInnen und Themenschwerpunkten. Das aktuelle Arthouse Kino hat hier ein Forum gefunden in der Redaktion um Christoph Hochhäusler und Benjamin Heisenberg, selbst Regisseure der viel beschworenen Berliner Schule. Gemeinsam mit der Filmgalerie 451 veröffentlicht das Revolver Magazin außerdem eine DVD-Edition mit Perlen des weltweiten aber oft weniger bekannten Filmschaffens. Neben dem ausgezeichnetem Frühwerk "Blisfully yours" des thailändischen Regisseurs Apichatpong Weerasethakuls wurden auch andere gefeierte Filme wie "Der Sohn" von Jean-Pierre und Luc Dardenne für den deutschen Markt aufbereitet. Nach Angela Schanelecs "Marseille" ist mit Marie Vermillard das zweite Mal eine Regisseurin im Fokus der Revolver Edition. Gleich zwei Filme der französischen Regisseurin finden sich auf der DVD. Der Lang-Spielfilm "Lila Lili" aus dem Jahr 1998 und der 55-minütige experimentelle Spielfilm "Petites révélations" von 2006.

Lila Lili - der Titel entspringt dem Ende des Films, wenn die Wehen-geplagte Protagonistin dies als mögliche Namen ihres Kindes hinausschreit. Überhaupt ist Micheline eine recht lautstarke, unentschlossene und eigensinnige Figur. Ihr ungebändigtes Haar scheint ihrem Wesen vorauszueilen. Mit der Feststellung der Schwangerschaft taucht Regisseurin Marie Vermillard in das Leben von Micheline ein. Micheline ist ein schräger Charakter, eine Außenseiterin. Sie lebt in einem Frauenhaus für Schwangere, in dem sie wenige Kontakte hat, außer einer Freundin. Mal ist Micheline unglaublich redebedürftig, dann wieder still und undurchsichtig. Als sie Simon kennenlernt, verliebt der sich in ihre Freundin und da Micheline keine weiteren Bemühungen um Simon anstrengt gibt es kein Happy End, aber eben auch kein Drama. Selbst die Frage nach dem Vater ihres Kindes bleibt unbeantwortet. Nichts will sich so recht entwickeln bei Micheline und wo sie hin will, wird nicht klar. Auch wenn die Kamera immer wieder ihre Perspektive einnimmt, bleibt doch vieles an der Protagonistin fremd - und eigenartig. Ihr Inneres erklärt sie nicht, vielmehr rückt die Kamera ihrem Erleben nach, ohne eine Reflektion dessen auf der Erzählebene abzuverlangen. Manchmal gleitet die Kamera auch ab, bleibt kurz an Neben-Geschichten hängen, die dann doch nicht zu Ende erzählt werden. Auch auf der filmischen Ebene wechseln realistische Sozialstudie und atmosphärisch stilisierte Alltagsbilder. Aber dieses Dazwischen, das Angerissene, Fragmentarische, das Widersprüchliche lenkt nicht ab oder irritiert, sondern legt vielmehr die Konzentration noch stärker auf die prekären Verhältnisse, in denen Micheline sich bewegt.

"Petites révélations" ist ein mittel-formatiger Spielfilm, der 19 kurze und in gewisser Weise sehr intime Momente offenbart. Ein Wiedersehen, das die Erwartungen nicht erfüllt. Ein Blickaustausch, ein gemeinsames Lachen unter Unbekannten. Kleine Momente zwischen Fremden, Entfremdeten und Momente der Annäherung, die von einer berührenden Zärtlichkeit bis zur irritierenden Ehrlichkeit erzählen. Eine filmische und eindrückliche Anordnung von emotionalen Fragmenten und den Augenblicken, die das Leben im Großen und Kleinen verändern können.

Marie Vermillard wurde 1954 in Tulle geboren. Nach dem Studium der Architektur und Sozialwissenschaften arbeitete sie von 1979 bis 1986 als Sozialpflegerin. 1986 ging sie zum Film, zunächst als Skriptgirl. Seit 1992 realisiert Vermillard eigene Filme als Regisseurin. Sie lebt und arbeitet in Paris.

AVIVA-Tipp: Trotz ihres eigenen sozialwissenschaftlichen Hintergrunds macht Marie Vermillard aus "Lila Lili" keine glatte Sozialstudie oder ein tränenreiches Sozialdrama. Wie die Protagonistin selbst bleibt auch der Film außerhalb von Kategorien und Eindeutigkeiten. Vermillard schöpft vor allem auch aus einer filmischen Vision von Alltagsfragmenten, von den Welten im Augenblick. Das wird nicht zuletzt auch in den detaillierten Bildern von "Petites révélations" deutlich, der viel mehr als eine filmische Fingerübung über menschliche Emotionen ist. Die Revolver-Edition bleibt sich hier treu und macht wieder einmal eine Filmschaffende zugänglich, die eine eigene Filmästhetik entwickelt hat.

"LILA LILI" und "PETITES RÉVÉLATIONS"
Frankreich 1998 und 2006
Regie: Marie Vermillard
Drehbuch: Jacques Bablon, Marie Vermillard
Darsteller: Alexia Monduit, Geneviève Tenne, Simon Abkarian, Zinedine Soualem, u.a.
Kamera: Pascal Lagriffoul
Länge:105 min ("LILA LILI") und 55 min ("PETITES RÉVÉLATIONS")
Sprache: Französisch mit englischen und deutschen Untertiteln
FSK: 12 Jahre
EAN: 9783941540392
ISBN: 3941540394
17,90 Euro

Erschienen im Dezember 2011 in der Revolver Edition der Filmgalerie 451:
www.filmgalerie451.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Angela Schanelec in der Filmgalerie 451: Nachmittag und Mein langsames Leben



Kultur

Beitrag vom 21.03.2012

Clarissa Lempp