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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 16.02.2013


Drachenmädchen. Kinostart: 28.02.2013
Claire Horst

Schon vor zwei Jahren machten chinesische Erziehungsmethoden Schlagzeilen. Damals hatte die US-amerikanische Autorin Amy Chua ein Buch veröffentlicht, in dem sie ihre ostasiatisch geprägte, ...




... autoritäre Pädagogik darstellte. "Die Tigermutter" empfanden viele als Rechtfertigung brutalen Drills.

Auch "Drachenmädchen" zeigt eine Erziehungsmethode, für die Disziplin und Gehorsam ganz oben auf der Liste der wichtigsten pädagogischen Werte stehen. Regisseur und Drehbuchautor Inigo Westmeier dokumentiert den Alltag von drei Mädchen, die in einem Kung-Fu-Internat in der chinesischen Provinz Henan aufwachsen.

Kung Fu, das bedeutet übersetzt "harte Arbeit", und das ist es auch, wie der Film eindrücklich zeigt. 26.000 Schülerinnen und Schüler werden hier trainiert, und schon die ersten Bilder machen deutlich: Eine Schule ist das hier eigentlich nicht, eher ein militärisches Trainingslager, auch wenn die Kinder nebenbei Unterricht in den klassischen Schulfächern erhalten. Um 5.40 Uhr beginnt ihr Tag, und noch vor dem Frühstück wird zwei Stunden lang trainiert. Nach dem Frühstück geht es weiter, und nach dem Mittagessen – ganze zwanzig Minuten haben die Kinder dafür – geht es in den Unterricht. Schläge und verbale Demütigungen vor der ganzen Gruppe gehören selbstverständlich dazu.

Xin Chenxi ist neun Jahre alt und lebt seit zwei Jahren hier. Als sie noch klein war, hätten die Eltern sie noch einmal im Monat besucht, sagt sie. Wie viel ein Kind aushalten kann, zeigt sie eindrücklich, und es ist herzzerreißend, wie sie versucht, Verständnis für Eltern und Lehrer aufzubringen. Der Vater wird sie erst wieder besuchen, wenn sie im Wettkampf Erste wird, erklärt sie – und sinkt in sich zusammen, als sie ihm am Telefon von ihrem zweiten Platz erzählen muss. Dass die Erwachsenen nur ihr Bestes wollen, davon ist sie überzeugt – und doch ist sie von ihren Eltern enttäuscht: "Die Kinder sind heute sehr einsam. Klar, die Arbeit ist wichtig, aber Kinder sind noch wichtiger." Aber weinen, behauptet die Kleine, würde sie nie. "Tränen sind Ausdruck von Unfähigkeit. Weinen bringt nichts, man muss sich mutig der Situation stellen."

Die Lebenssituation der Eltern ist ein Grund für den Erfolg solcher Internate:
Ein großer Teil der chinesischen LandarbeiterInnen muss sich in weit entfernten Provinzen verdingen, lange an einem Ort können die meisten nicht bleiben. Für Kinder ist da kein Platz. Ein noch wichtigerer Grund ist die Hoffnung, den Kindern ein besseres Leben ermöglichen zu können. Wer das hier durchhält, ist fürs Leben gestärkt, so formuliert es Jang Hualei, einer der TrainerInnen, die im Film ebenfalls zu Wort kommen. Auch er war hier Schüler – er kennt die Härte, der die Kinder ausgeliefert sind.

Neben dem Training haben die Kinder sehr selten Zeit zum Spielen. Nur in zwei Szenen sind sie außerhalb des Reglements zu sehen: An einem Abend inszenieren sie einen Tanzwettbewerb in einem der Gruppenschlafzimmer, und einmal haben sie eine kurze Pause, in der die Mädchen ihre Narben vergleichen. Sechzehn Stiche ohne Betäubung, das ist die Folge einer ganz gewöhnlichen Kampfverletzung. Kung Fu ist schließlich kein Ballett, und die Kinder hier kämpfen mit ganzem Körpereinsatz.

Auch die 15-jährige Chen Xi spürt die Härte des Lagers. Anders als ihrer jüngeren Mitschülerin gelingt es ihr nicht immer, ihren Lebensalltag positiv zu sehen. So leidet sie sehr unter der Kritik ihrer Trainerin, die sie vor der gesamten Gruppe abkanzelt, wenn ihre Leistungen nicht gut genug sind. Beziehungen zu Jungen sind selbstverständlich nicht erlaubt, und von ein wenig Privatsphäre kann sie nur träumen, die sie sich den ungeheizten Schlafsaal mit etwa zwanzig anderen Mädchen teilt.

Das dritte Mädchen, die 17-jährige Huang Luolan, ist geflohen. Sie hat den Druck nicht ausgehalten und lebt jetzt wieder bei ihrem Vater in Shanghai. Doch auch ihr Alltag hier sieht nicht gerade rosig aus. Der Vater ist mit der Erziehung überfordert und hat neben der Arbeit kaum Zeit für sie, und so spielt Luolan den ganzen Tag am Computer. Eine Alternative zu strengem Drill oder der totalen Leere scheint es für sie nicht zu geben.

Interviews mit LehrerInnen, Eltern und TrainerInnen erhellen den Hintergrund, vor dem die Schule zu einem so großen Erfolg gelangen konnte. So zeigt ein Gespräch mit einem Mönch aus dem benachbarten Shaolin-Kloster, wofür Kung Fu in China steht: Es sei ein Weg zur inneren Stärke und Weisheit, sagt der Mönch – allerdings nur in Verbindung mit dem buddhistischen Glauben. Der Schulleiter setzt dem seine strengen Regeln entgegen. Stärke erreichten die SchülerInnen auch ohne Glauben, allein durch den Drill.

Ziel der Schule ist einerseits der sportliche Erfolg, und so kann der Leiter hunderte von nationalen und internationalen Preisen aufzählen, die seine SchülerInnen gewonnen haben. Auf der anderen Seite steht aber das Ziel, die Kinder auf ein Leben im beinharten Wettbewerb vorzubereiten. Wer diese Schule absolviert hat, kann vielleicht einen Job bei der Polizei oder beim Militär ergattern – ein von vielen erträumter Ausweg aus dem harten Schicksal als WanderarbeiterIn, für den arme Eltern einen großen Teil ihres Einkommens zahlen.

Ein gemeinsames Familienleben ist Luxus, wenn nicht einmal das nackte Überleben im kapitalistischen Wettbewerb gesichert ist. Schon den kleinsten Mädchen ist bewusst, dass ihr Kampf um eine Stellung im Leben nie zu Ende sein wird. Der Vater der kleinen Chenxi hofft, das Beste für sein Kind zu tun: "Die Zeit kann ich nicht mehr nachholen. Ich hoffe, sie wird mir das später einmal verzeihen."

AVIVA-Tipp: Mehrere Jahre kämpfte Inigo Westmeier um die Drehgenehmigung, und ihm sind intime Einblicke in den Lebensalltag der Mädchen gelungen. Trotz aller Härte und Vereinsamung der Kinder wird eins deutlich: Auch der Zwang zum Kollektiv kann ihre Individualität nicht zerstören. Denn die portraitierten Mädchen beeindrucken und berühren auf ganz unterschiedliche Weise. Ihre Einzigartigkeit hat keine von ihnen verloren.

Zum Regisseur: Inigo Westmeier studierte an der Filmhochschule in Moskau am WGIK ("Allrussisches Staatliches Institut für Kinematographie"), wo neben der Kameraarbeit auch die Regiearbeit zu seiner Ausbildung gehörte. Nach seinem Abschluss absolvierte er ein Aufbaustudium an der Filmakademie Baden-Württemberg mit Spezialisierung auf Kamera (Diplom 2003). Er arbeitete als Kameramann für Spielfilme, internationale Werbefilme und zahlreiche preisgekrönte Kino-Dokumentarfilme. "Drachenmädchen" ist sein erster abendfüllender Kino- Dokumentarfilm als Regisseur.

Drachenmädchen
Deutschland, 2011/12
Filmlänge: 90 Minuten
Gaps Films und Open Window Film Produktion, in Koproduktion mit Bayerischer Rundfunk und Arte
Darstellerinnen: Xen Chenxi, ChenXi, Huang Luolan, Yang Ziyu, Quan Ling, Xu Manyu
Buch: Inigo Westmeier, Benjamin Quabeck
Kamera: Inigo Westmeier
Schnitt: Benjamin Quabeck
Ton: Clemens Becker
Musik: Lee Buddah
Co-Producer: Benjamin Quabeck
Ausführender Produzent: Tom Wommer
ProduzentInnen: Andreas Simon, Inigo Westmeier, Bettina Brokemper
Regie: Inigo Westmeier

Kinostart: 28.02.2013

Der Film im Netz: www.drachenmaedchen-derfilm.de

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