Art/Violence. Ein Film von Batoul Taleb, Mariam Abu Khaled und Udi Aloni. Kinostart: 17. Oktober 2013 - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kultur



AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 08.10.2013


Art/Violence. Ein Film von Batoul Taleb, Mariam Abu Khaled und Udi Aloni. Kinostart: 17. Oktober 2013
Judith Wolff

Gewalt hat viele Gesichter. Gegengewalt auch. Berührend und erhellend werden im diesjährigen GewinnerInnenfilm des Preises "CINEMA fairbindet" oft übersehene Facetten des Nahostkonflikts beleuchtet…




…– und einen alternativen Umgang mit diesem.

Der Lebensweg der Schauspielerinnen - und nun auch Regisseurinnen - Batoul Taleb und Mariam Abu Khaled wurde durch das 2006 vom jüdisch-palästinensischen Aktivisten Juliano Mer-Khamis gegründete "Freedom Theatre" maßgeblich beeinflusst. Im palästinensischen Flüchtlingslager Dschenin im Westjordanland entstand mit seinem Projekt neben einem breiten kulturellen Angebot für Jugendliche und Kinder 2008 die erste palästinensische Theaterschule, in der junge PalästinenserInnen ausgebildet werden. 2011 wurde Mer-Khamis vor den Türen des Theaters erschossen. Wer hinter den Schüssen steht, ist bis heute ungeklärt. Zusammen mit Udi Aloni, der selbst am "Freedom Theatre" beteiligt ist, schufen Taleb und Khaleb einen bewegenden Nachruf, der zugleich in die Zukunft des mittlerweile international anerkannten Projekts weist und zeigt, was Kunst bewirken kann. Dies sah auch die Jury des jährlich verliehenen Preises "CINEMA fairbindet" des Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, das den Film nun auf eine bundesweite Roadshow in deutsche Kinos schickt.

"Alice im Wunderland", "Warten auf Godot" und "Antigone" in Dschenin

Der Film durchläuft drei Kapitel, in denen anhand von jeweils einer Theaterproduktion eine Chronologie des "Freedom Theatre" entsteht. Interviews, Statements, Ausschnitte von Proben, Konzerten und Aufführungen, Performances, Animationen und Collagen zeichnen ein Profil der Aktivitäten des Theaters und der sie anleitenden Ideen. Eine einfache Handkamera begleitet die RegisseurInnen und SchauspielerInnen bei ihrer Arbeit, die oftmals mit den prekären Umständen in Dschenin zu kämpfen hat. Diskussionsmitschnitte zeigen nicht nur die Auseinandersetzung der Beteiligten mit der Frage, wie es nach der Ermordung von Mer-Khamis weitergehen soll, sondern auch mit den Zielen des Projekts.

Kunst gegen Gewalt – Kunst als Gegengewalt

Der inhaltliche Schwerpunkt des in "Art/Violence" entstandenen Mosaiks liegt auf den verschiedenen Facetten der im Titel angeführten Verknüpfung von Kunst und Gewalt. Schnell wird deutlich, dass Gewalt hier nur begrenzt für die sich sofort aufdrängenden Assoziation von Auseinandersetzungen zwischen Israelis und PalästinenserInnen oder der Ermordung des Initiators des Freedom Theatre steht. Vielmehr geht es um die im Hintergrund wirkenden Mechanismen, die Slavoj Zizek, einer der zeitgenössischen PhilosophInnen, mit dem Regisseur Adoni rege Zusammenarbeit pflegt, als "systemische" oder auch "objektive" Gewalt bezeichnet. Angelehnt an Zizeks Interpretationen des Gewaltmotivs zeigt sich, dass künstlerisches Schaffen andererseits selbst ein gewaltiges, die Grenzen sprengendes Mittel gegen Gewalt und für einen Ausstieg aus der Gewaltspirale sein kann.

"Haben sie uns unsere Rechte genommen?" - "Wir haben sie aufgegeben."

Dieses Zitat aus der Inszenierung von Becketts "Warten auf Godot" (hier: "While Waiting") steht paradigmatisch für die Idee hinter dem vorgestellten Projekt. Die Jahre der alltäglichen Sorge um die existenziellen Lebensgrundlagen haben eine Generation heranwachsen lassen, der es an Identifikationen abseits vom palästinensisch-israelischen Konflikt fehlt. Eine bewusst gewählte kulturelle Identität, die sich eben nicht von der politischen Situation und medialen Bildern bestimmen lässt, ist dabei viel zu lange vernachlässigt worden. Das "Freedom Theatre" arbeitet gegen diese, wie es im Film heißt, "Zerrüttung des Nervenzentrums der Gesellschaft" an, die als eine untergründige Gewalt als Wurzel der offensichtlichen gesehen werden kann. Dies gilt sowohl für die Aggressionen gegen Israel als auch die physische und psychische Gewalt innerhalb der palästinensischen Gesellschaft. Bereits der Prolog fordert, die Verantwortung für die desolate politische, ökonomische und soziale Situation nicht nur dem unüberschaubaren machtpolitischen Spiel staatlicher, religiöser und wirtschaftlicher Kräfte zuzuschieben. Stattdessen müssten die palästinensische Gemeinschaft sich selbst ein Versagen eingestehen, dem systematischen Druck mit einer eigenen Stimme entgegenzutreten.

"Militante Kunst ist die Kunst der Schwachen."

An dieser eigenen Stimme arbeitet das Theater mit einer alternativen, friedlichen Form des Widerstandes, die zugleich das konstatierte Grundproblem der fehlenden internen Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstverständnis angeht. "Der Widerstand gegen die Besatzung ist nicht wichtiger als die Frauenrechte. Das sollte sich nicht ausschließen. Es sollte ein gemeinsamer Kampf sein." Mit diesem Statement macht Tamer Nafer, MC der mit dem "Freedom Theatre" arbeitenden Musikgruppe "DAM", deutlich, dass die Beschäftigung und das Wirken gegen patriarchale, rückständige Konventionen innerhalb der palästinensischen Gemeinschaft Teil der gesellschaftlichen Stärkung sein muss und zentrales Anliegen der KünstlerInnen ist. Die Reaktionen – von Männern wie Frauen - auf die Tatsache, dass Frauen wie Batoul Taleb und Mariam Abu Khaled selbstbewusst auf der Bühne stehen, zeigen, dass die Arbeit des Theaters ein doppelter Widerstand nach außen wie nach innen ist. Die Mitwirkenden erspielen sich dabei neue Selbstwahrnehmungen und Außenwirkung, die den Raum für Diskussionen, Anders- und Umdenken - für ein gleichberechtigtes Zusammenkommen öffnet.

"Wir spürten, dass wir einen neuen Ort schaffen könnten. Einen Ort der Freiheit. Einen Ort, an dem wir bestimmen, wen wir lieben."

Auch frühere Arbeiten von Udi Aloni konzentrierten sich auf die Schnittstellen von Theorie, Praxis und Kunst. Dieses Anliegen spiegelt sich nicht nur in der Erzählweise, die die RegisseurInnen in "Art/Violence" gewählt haben, sondern auch in dem Gegenstand der Dokumentation: Das "Freedom Theatre" ist ein Paradebeispiel dafür, wie künstlerische Arbeit es schaffen kann, Theorie und Praxis zu vereinen und dabei etwas wirklich Neues zu schaffen. Wie der Film, der nicht nur über die Arbeit des Freedom Theatres berichtet, sondern selbst ein Teil von dieser ist, findet im kreativen Prozess eine selbstreflektierte Auseinandersetzung statt. Dabei eröffnen sich konkrete Alternativen, Hoffnung, Zusammenhalt und Kampfgeist.

Zu den RegisseurInnen:

Batoul Taleb
begann ihre Schauspielkarriere am "Freedom Theatre". Hier spielte sie unter anderem in "Animal Farm", "Fragments of Palestine", "Alice in Wonderland", "While Waiting" und "Miss Julie". Mit den Produktionen tourte sie durch Europa und die USA, nahm an zahlreichen Workshops in der ganzen Welt teil. "Art/Violence" ist der erste Film für die Zweiundzwanzigjährige.

Mariam Abu Khaled fing mit fünfzehn Jahren an, zu schauspielern. Drei Jahre später kam sie zum "Freedom Theatre", um bei Mer-Khamis zu studieren. Die Zwanzigjährige war an den Produktionen "Fragments of Palestine", "Alice in Wonderland", "Waiting for Godot", und "Miss Julie" beteiligt. Sie ist in den Palästinensischen Gebieten, Europa sowie den USA aufgetreten. Auch für sie ist "Art/Violence" der erste Film.

Udi Aloni, 1959 in Tel Aviv geboren, ist israelisch/US-amerikanischer Theater-/ Filmregisseur, Schriftsteller und Künstler. Seine Filme "Kashmir: Journey to Freedom" (2009), "Forgiveness" (2006), "Local Angel and Innocent Criminals" (2003) wurden im Panorama der Berlinale gezeigt. 2009 begann er am Cinema Department des "Freedom Theatres" zu arbeiten. Nach dem Mord an Juliano Mer-Khamis übernahm Aloni die Regie von "While Waiting". Das Stück tourte in Ramallah, Jaffa, Helsinki, Berlin und Kassel. Adoni bezieht offen und aktiv Position in Bezug auf den Nahostkonflikt, dies führte bereits in der Vergangenheit immer wieder zu Kontroversen. Er ist Verfechter der Zweistaatenlösung und prangert eine politische und juristische Ungleichheit zwischen IsraelInnen und PalästinenserInnen an, deren Verantwortung der Israeli maßgeblich bei der israelischen Politik sieht.

AVIVA-Tipp: Unbedingt anschauen - am besten gemeinsam! Die Fragmente von Theaterszenen, Interviews, Diskussionen und Animation erschaffen ein berührendes, zum Nachdenken und zu Diskussionen anregendes Bild. Ein Plädoyer für Menschlichkeit und Hoffnung, das neue Sichtweisen provoziert.

Art/Violence
Palästinensische Gebiete/USA 2013
Sprachen: Arabisch, Englisch
Regie: Udi Aloni, Batoul Taleb, Mariam Abu Khaled
Schnitt & Co-Regie: Adi Golan-Bikhnafo
Kamera: Amnon Zlait
ProduzentInnen: Udi Aloni, Batoul Taleb, Tamer
Nafar, Aviva Zimmerman
Musik: DAM (Tamer Nafar, Suhell Nafar & Mahmoud Jreri), Shadia Mansour
Animation: Eilona Givon. Mitwirkende: Udi Aloni, Batoul Taleb, Mariam Abu Khaled, Milay Mer, Saleh Bakri, Amer Hlehel, Adi Khalifa
Filmlänge: 75 Minuten
Verleih:arsenal distribution
Kinostart: 17. Oktober 2013


Weitere Informationen:

www.artviolence.com

Zum "Freedom Theatre"

Zum Filmpreis "CINEMA fairbindet"

Slavoj Zizek: "Violence" im Verlag "Macmillan"

Slavoj Zizek an der University New Orleans "Loyola" zum Thema
"The Uses and Misuses of Violence"

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

AVIVA-Berlin im Interview mit Udi Aloni zu "Forgiveness", (2006)


(Quelle: Arsenal – Institut für Film- und Videokunst e.V.)



Kultur

Beitrag vom 08.10.2013

AVIVA-Redaktion