Clair Obscur. Regie und Drehbuch Yesim Ustaoglu. Kinostart: 7.12.2017. Zum Filmstart zeigt das fsk-Kino den Film mit anschließendem Filmgespräch mit Ayfer Schultz von Terre des Femmes - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kultur



AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 27.11.2017


Clair Obscur. Regie und Drehbuch Yesim Ustaoglu. Kinostart: 7.12.2017. Zum Filmstart zeigt das fsk-Kino den Film mit anschließendem Filmgespräch mit Ayfer Schultz von Terre des Femmes
Helga Egetenmeier

Mit ihrem feministischen Drama "Clair Obscur" greift die renommierte Regisseurin und Drehbuchautorin Yesim Ustaoglu facettenreich in die aktuelle Debatte um die sexuelle Selbstbestimmung der Frau ein. Zwei scheinbar unterschiedliche Welten begegnen sich in einer Klinik nahe Istanbul, als die moderne und liberale Psychologin Sehnaz an ihrem Arbeitsplatz auf die junge Elmas trifft, die als Kind an einen älteren Mann verheiratet wurde.




Graue Novemberbilder, mal regnerisch, mal mit stürmischen Böen, begleiten Sehnaz (Funda Eryigit) und Elmas (Ecem Uzun) durch die wenigen Tage, in der ihre Geschichte erzählt wird. Moderne und Tradition scheinen an diesen zwei Frauen aufeinander zu prallen, doch Yesim Ustaoglu macht in ihrem Film deutlich, wie sich in beiden Lebenswelten freiheitsraubende patriarchale Strukturen wiederfinden.

Immer wieder geht die Kamera mit Close-Ups auf die Suche nach den Gedanken der Beiden. Mit grandioser Mimik gelingt Ecem Uzun dabei ein eindrucksvolles Spiel, für das sie als Beste Schauspielerin auf dem Istanbul International Filmfestival ausgezeichnet wurde. Aber auch Funda Eryigit überzeugt durch ihre einfühlsame Darstellung der sich langsam ihres fremdbestimmten Lebens bewusst werdenden Sehnaz.

Sozialer Hintergrund und häusliche Gewalt

Als die Psychologin auf die unter Mordverdacht an ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter stehende junge Frau trifft, drückt das Erscheinungsbild bereits ihre sozialen Unterschiede aus. Dem modischen Haarschnitt und dem selbstbewussten Auftreten von Sehnaz stehen das Kopftuch und die eingeschüchterte Sprachlosigkeit von Elmas gegenüber.

Nach den aktuellen Annahmen von Terre des Femmes waren 250 Millionen Frauen bei ihrer Verheiratung unter 15 Jahre alt - denn diese finden trotz teilweise gegenteiliger Gesetzeslage bei traditionell ausgerichteten Familien weltweit dennoch statt. Knapp und eindringlich führt der Film dazu aus, weshalb ein von ihren Eltern abhängiges Mädchen sich nicht traut, diese wegen der Änderung ihres Geburtsdatums zu verraten.

Die Regisseurin verhandelt jedoch nicht nur die Vergewaltigungen, sondern parallel auch die Suche der Frauen nach ihrer Sexualität. Die studierte Psychologin scheint mit ihrem erfolgreichen Mann auch körperlich glücklich zu sein und dennoch versteckt sich hinter seiner Fürsorglichkeit eine aggressive Kontrollsucht und egoistisches Sexualverhalten. Die junge Elmas, die nur sexuelle Gewalterfahrungen hat und noch mitten in der Pubertät steckt, schaut sehnsüchtig dem herumalbernden Nachbarsmädchen hinterher.

Yesim Ustaoglu - allgemeingültige Themen am Beispiel der Türkei

Die Regisseurin und Drehbuchautorin verhandelt in ihren Filmen globale Themen anhand der türkischen Gesellschaft. Dabei fokussiert sie auf Familienstrukturen, Freundschaften und die Geschlechterverhältnisse, die sie mit aktuellen Diskussionen verknüpft, wie die um kulturelle und weibliche Identitäten und die Möglichkeit der Freiheit der Einzelnen. Ihren neuesten Film, "Clair Obscur", was "Hell Dunkel" bedeutet, begann sie nach einer langen Recherche, Gesprächen mit Patient*innen und Psycholog*innen und Beobachtungen von Psychodrama-Therapien vergleichbarer Fälle.

Ihr Spielfilmdebüt hatte Ustaoglu 1994 mit dem Istanbul-Thriller "The Trace", danach folgte mit "Journey of the Sun" (1999) eine Geschichte um eine kurdisch-türkische Freundschaft zweier Männer, die in Istanbul auf eine bessere Zukunft hoffen. Der 2003 erschienene Film "Waiting for the Clouds" dreht sich um die Vergangenheit einer älteren Frau mit griechischen Wurzeln und der Deportation von Menschen aus der Türkei nach Griechenland. In "Pandora´s Box" (2008) porträtiert sie die Familie einer dementen Mutter, deren Versorgung unter den Geschwistern ein Familiendrama heraufbeschwört. 2012 geht sie mit "Araf - Somewhere in Between" (2012) in das ländliche Anatolien und zeigt die Hoffnungslosigkeit junger Menschen bei ihrer Suche nach einer lebenswerten Zukunft.

AVIVA-Tipp: Reduziert auf einige wenige Figuren und Schauplätze, konzentriert sich die ausgezeichnet ausgearbeitete Geschichte anhand von zwei Frauenschicksalen auf die wichtige Frage nach den Möglichkeiten der Selbstbestimmung von Frauen in der Türkei. In ruhigen und unaufdringlichen Bildern zeigt die Regisseurin atmosphärisch dicht und klar die folgenreichen Veränderungen der beiden Frauen. Beeindruckend gelingt es ihr in kleinen Szenen zu zeigen, wie stark die Zukunft in der Vergangenheit verankert ist.

Filmgespräch
Zum Filmstart am 7.12.2017 zeigt das fsk-Kino in Berlin-Kreuzberg den Film mit anschließendem Filmgespräch.
Real Fiction Filmverleih, Terre des Femmes und fsk-Kino am Oranienplatz freuen sich, Yeşim Ustaoğlu am Start-Donnerstag (7.12.2017, Beginn 19:45 Uhr) in einem Filmgespräch vorzustellen.
Terre des Femmes wird von Ayfer Schultz vertreten, und für die Moderation konnte die Regisseurin Ayşe Polat gewonnen werden.

Auszeichnungen
53. Antalya Internationales Filmfestival 2016: Bester Spielfilm, Beste Regisseur*in und Ecem Uzun als Beste Schauspielerin im Nationalen und Internationalen Wettbewerb
32. Haifa Film Festival 2016: Golden Anchor Competition - Special Mention
36. Istanbul Film Festival 2017: Beste Regisseur*in, Beste Schauspielerin (Ecem Uzun), Beste Originalmusik (Antoni Komasa-Lazarkiewicz)

Zur Regisseurin: Yesim Ustaoglu, geboren 1960 in Caykara, wuchs am Schwarzen Meer auf und arbeitete nach ihrem Architekturstudium an der Yildiz-Universität in Istanbul als Architektin und Journalistin und leitete Video-Workshops. Mit "The Trace" hatte sie 1994 ihr Spielfilmdebüt und gewann damit den Best Film Award beim Istanbuler Filmfestival. Auf der Berlinale war sie 1999 mit "Journey to the Sun" im Wettbewerb vertreten und erhielt den Blue Angel Best European Film Award, den Heinrich Böll Friedenspreis und den John Templeton Award. Für diesen international gefeierten Film bekam sie weitere Preise auf den Filmfestivals in Istanbul, Ankara, Troya, Valladoid und Sao Paulo. Mit ihrem 3. Spielfilm "Waiting for the Clouds" war sie 2005 im Panorama der Berlinale vertreten und und erhielt dafür auf dem Sundance Filmfestival den International Filmmakers Award. Mit "Pandora´s Box" (2008), gewann sie ebenfalls Preise, wie auch mit dem darauffolgenden "Somewhere in Between" (2012).
www.yesimustaoglu.com

Zur Hauptdarstellerin: Funda Eryigit, geboren 1984 in Zwolle (Niederlande), studierte an der Universität Sabanci Internationale Beziehungen der Fakultät für Politische Wissenschaften. Erste Bühnenerfahrungen sammelte sie 1998 auf dem Kadir Has Anadolu Gymnasium und begann zwischen 2002 und 2003 mit dem Theaterstück "Orman Postacisi" ihre professionelle Karriere. Seit 2008 spielt sie in TV-Serien und Kinofilmen, wie 2016 in "Poyraz Karayel" (TV) und 2015 in "Limonata" (Film). Für ihr Spiel in dem Theaterstück "Sessizlik" am Istanbul State Theatre in der Saison 2012-2013 erhielt sie den Best Actress Award in der Kategorie Musical und Comedy der 18. Sadri Alisik Theater and Cinema Player Awards (2013), wie auch den 1. New Theatre Magazine Exertion and Achievement Award.

Zur Hauptdarstellerin: Ecem Uzun, geboren 1992 in Istanbul, studierte Theater an der privaten Kadir Has Universität in Istanbul. Als Schauspielerin wirkt sie sowohl in Fernsehproduktionen wie auch Kinofilmen mit. 2016 spielte sie die weibliche Hauptrolle in dem international mehrfach ausgezeichneten Kinofilm "Koca Dünya" ("Big Big World"). Für "Clair Obscur" erhielt sie auf dem Istanbul International Film Festival 2017 die Goldene Tulpe als beste Schauspielerin, dafür wurde sie auch auf dem 53. Antalya International Film Festival ausgezeichnet.

Clair Obscur
Originaltitel: Tereddüt
Türkei, Deutschland, Polen, Frankreich 2016
Buch und Regie: Yesim Ustaoglu
Produzent*innen: Yesim Ustaoglu, Titus Kreyenberg, Marianne Slot
DarstellerInnen: Funda Eryigit, Ecem Uzun, Mehmet Kurtulus, Okan Yalabik, u.a.
Verleih: Real Fiction
Lauflänge: 105 Minuten
Kinostart: 7.12.2017

Mehr Infos zum Film und der Trailer unter:
www.realfictionfilme.de/filme/clair-obscur und auf Facebook www.facebook.com/clair.obscur.derfilm

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Weitere Informationen

www.frauenrechte.de
Stop Frühehen. Laut TERRE DES FEMMES leben weltweit über 700 Millionen Mädchen und junge Frauen, die vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet wurden. Davon waren 250 Millionen bei ihrer Verheiratung unter 15 Jahre alt.


Kultur

Beitrag vom 27.11.2017

Helga Egetenmeier