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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 23.12.2009


Das Zimmer im Spiegel - Ein Film von Rudi Gaul
Claudia Amsler

Was macht frau, wenn sie eingeschlossen ist in einem Zimmer? Wenn niemand von ihrer Existenz wissen darf? Wenn sie alleine ist in einem Raum mit immer dunkler werdenden Wänden und...




... einem Spiegel? Wo flüchtet frau hin?

Es klopft an der Tür. Luisa (Kirstin Fischer) zieht sachte ihre hölzerne Nachttischschublade auf und nimmt einen Schlüssel heraus - den Schlüssel, der Freiheit ankündigt und zugleich ihren Tod bedeuten könnte. Denn Luisa ist Jüdin und wurde von ihrem nichtjüdischen Ehemann Karl (Maximilian Berger) in einer leerstehenden Dachgeschosswohnung vor den Nationalsozialisten versteckt. Auf sein Klopfen wartet Luisa jeden Tag sehnsüchtig, denn es impliziert für kurze Zeit eine vertraute Zweisamkeit. Doch die Umstände - wie sie in diese Wohnung gefunden hat, wer Luisa und Karl sind - das erfährt die Zuschauerin nicht. Sie ist auf dieselbe Weise wie Luisa in diesem Zimmer eingepfercht und sieht nur das Licht des Fensters - alles andere bleibt ihr verborgen.

Einsam und ausgegrenzt von der Gesellschaft fühlt sich die elegante, modebewusste Luisa. Die Begegnungen mit Karl, der Blick durchs Fenster und die Geräusche aus dem Treppenhaus sind ihre einzigen Verbindungen zur Außenwelt. Diese sind jedoch mit Terror und Kontrollwahn verknüpft. Eingeschlossen in diesem Zimmer flüchtet sie sich in die Welt der Literatur. Ihr Ehemann versorgt sie mit im Dritten Reich verbotenen Büchern, die er von der Schauspielerin und Widerstandskämpferin Judith (Eva Wittenzellner) erhalten hat. So sind die Literatur und die Jazzmusik, welche Luisa von ihrem Untermieter zu Ohren bekommt, das einzige, was ihr nicht genommen werden kann. Kein Terrorregime kann die Kunst und insbesondere die eigene Phantasie - den Geist - austilgen.

Der Spiegel im Zimmer hilft Luisa, in eine Phantasiewelt einzutauchen und die Grenze zwischen Realität und Traum aufzubrechen. Sie verbringt viele Stunden vor ihm, flüchtet sich in ihr eigenes Gesicht und macht sich schön für sich und Karl. Der Spiegel nimmt so stets einen zentralen Platz ein, wenn Luisa in sehr persönliche Momente eintaucht, und das Publikum erhält durch die eigentlich kalte Spiegeloberfläche die intimsten Eindrücke von der sehr kontrollierten Luisa. Doch die Einsamkeit verformt ihre phantastischen Gedankenbilder zu wahnhaften Gebilden. Als Karl sie nicht mehr besucht, entstehen absurde Konstrukte in ihrer Vorstellung - zum Beispiel, dass Karl der schönen Schauspielerin Judith verfallen sei. In diesem Moment wirkt Luisa so, als sei sie ihren Gedanken hoffnungslos ausgeliefert. Niemand ist da, um sie über die wahren Gegebenheiten aufzuklären, und so verharrt sie in der Einsamkeit mit ihrem Spiegelbild. Dieser Höhepunkt und zugleich Tiefpunkt ihrer Subjektivität wird durch die selbstsichere Judith aufgebrochen. Plötzlich steht sie in der Wohnung, erst als dunkler Schatten und dann als Hoffnungsschimmer.

Anfangs herrscht ein Konkurrenzverhalten zwischen den zwei Frauen, das sogar als Kampf ausgetragen wird. Die beiden Opponentinnen verfließen jedoch bald ineinander, sie schwelgen in ihrer Phantasie und durch das Du - das Gegenüber, können sie die Grenze der Realität vollkommen ausmerzen. Im Spiegel spielt sich ihr phantastisches Leben ab. Sie tauchen in ihr Spiegelbild ein und leben dort in ihrer Phantasiewelt fort, weit weg von jeglichen Konventionen oder Verboten. Dieses Sein im Spiegel nimmt reale Formen an, so dass Phantasie und Wirklichkeit nicht mehr von einander zu unterscheiden sind. Der Höhepunkt dieses Zusammenseins findet sich in erotischen Szenen zwischen den beiden Darstellerinnen. Sie küssen und lieben sich, sind nackt in dieser eisernen Kälte des nationalsozialistischen Regimes und versprühen dennoch Wärme - Ein Freiheitsakt von Luisa und Judith, welche sich immer noch in demselben kargen Zimmer befinden. Doch die einengenden Wände wurden längst aufgesprengt von ihren Gedanken, und der Spiegel wirkt als Sprengkraft - als Tor zur Phantasie. Und dennoch ist es eine stetige Flucht, ein Entfliehen aus dem unerträglichen alltäglichen Sein.

Das Melodram "Das Zimmer im Spiegel" erinnert in der Produktionsweise an Technicolor-Dramen aus den 50er Jahren. Der Film strebt wenig ästhetische Perfektion an, hier und da sind aufgrund der sehr kontrastreichen Aufnahmen Puderspuren und Unreinheiten in den Gesichtern zu sehen. Doch diese Unebenheiten entsprechen der Realität: Sie symbolisieren das Schreckliche, was sich vor Luisas Fenster abspielt - gezeigt wird die nackte Wahrheit, kalt und hässlich wie das Zimmer, in dem Luisa eingeschlossen ist.

AVIVA-Tipp: Rudi Gaul schafft mit seinem Low-Budget Filmdebüt "Das Zimmer im Spiegel" einen sehr ungewohnten Blick in die Geschichte des Nationalsozialismus. Die Perspektive ist eine absolut subjektive, die Zuschauerin erfährt keine geschichtlichen Fakten, sondern es wird ihr eine Tür in die Seele einer Jüdin geöffnet, die während dieser Zeit gelebt hat. Der Film bietet einen Einblick in die Gedankengänge und Gefühle, die entstehen, wenn frau kein Hab und Gut besitzt, sondern nur noch ihren Geist. Die Aufnahmen sind unüblich und anstrengend. Doch gerade dies macht das Drama authentisch, denn das Eingeschlossensein auf engstem Raum ist ein quälendes Verweilen mit sich selbst, und kein spannungsvolles Ereignis. Luisa trifft mit der Aussage: "Das Wort ist die einzige Waffe, aber diese wird überleben." die Essenz des Filmes. Alles kann frau genommen werden, doch was ihr bleibt, ist stets die eigene Phantasie, der eigene Geist.


Das Zimmer im Spiegel
Deutschland 2006 bis 2008
Buch und Regie: Rudi Gaul
ProduzentInnen: Schattengewächs Filmproduktion - Rudi Gaul, Isabella von Klass, Florian Nöhbauer
DarstellerInnen: Kirstin Fischer, Eva Wittenzellner, Maximilian Berger, Klaus Münster Musik: Konstantin Wecker, Indigo Landscapes, Kilian Kemmer
Kamera: Christian Hartmann
Länge: 107 Minuten
Kinostart: 07. Januar 2010


Weitere Infos zum Film finden Sie unter: www.schattengewaechs.de


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Beitrag vom 23.12.2009

AVIVA-Redaktion