Der Auftrag - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kultur



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 27.01.2004


Der Auftrag
Gastautorin: Jutta Croll

Ulrich Mühe inszeniert in den Berliner Festspielen ein Stück von Heiner Müller. Darstellerinnen: Inge Keller, Christiane Paul, Herbert Knaup, Florian Lukas, Udo Samel und Ekkehard Schall




Hinweis: Für alle, die keine Karten mehr bekommen (haben): Am 12. Mai 2004 um 22.35 Uhr läuft der Mitschnitt auf ARTE.

Ulrich Mühe inszeniert in den Berliner Festspielen "Der Auftrag" von Heiner Müller.
Kurz vor dessen Tod habe er Heiner Müller die Zusage gegeben, zu seinen runden Geburtstagen jeweils eines seiner Stücke zu inszenieren, so Ulrich Mühe. Nun, am 9. Januar 2004, wäre Heiner Müller 75 Jahre alt geworden und Mühes Zusage ist zu erfüllen. Er entscheidet sich für den "Auftrag". Es stellt sich bereits angesichts dieser "Anekdote" die Frage, inwieweit Mühe sein Versprechen vielmehr als die Annahme eines Auftrags durch einen Sterbenden versteht. Dass im Stück Galloudec, einer der Empfänger des Auftrags, die jamaikanischen Sklaven zu einer Revolution zu bewegen, diesen Auftrag sterbend zurück gibt an den Bürger Antoine, obwohl dieser Auftrag zuvor bereits vom Auftraggeber zurückgenommen worden ist, zeigt, dass Heiner Müller sich ebenso wie der ihn geburtstäglich ehrende Ulrich Mühe auseinandersetzt mit der Frage von Beauftragtem und Auftraggeber.

Damit ist der politische Rahmen vorgezeichnet: Kern der französische Revolution, um deren "Erinnerung" - wie der Untertitel sagt - es hier geht, ist die Aufhebung der Standesunterschiede und damit die Ermöglichung des Rollenwechsels zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer, zwischen Herrscher und Befehlsempfänger. Die drei Auftragnehmer, Galloudec, Sasportas und Debuisson, haben die Ideale der französischen Revolution verinnerlicht: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, und sich wahrhaft und kämpferisch darum bemüht, diese den jamaikanischen Sklaven zu vermitteln. Das Stück ist Kampf, und der Zuschauer erlebt das unmittelbar mit, ja wird geradezu absorbiert durch die Intensität, mit der die Darsteller agieren. Der Schweiß fließt unter den Masken, die die Charaktere markieren, ohne die Individualität der Personen zu überdecken. Die Kostüme der drei Revolutionäre: Kampfanzüge und ausschließlich schwarz oder weiß, wie auch die der übrigen Mitspieler. Bis auf den Bürger Antoine, der wirkt, als habe ihn der (blut)rote Sand der jamaikanischen Wüste, der die Bühne bedeckt, mit einer alles individuelle auslöschenden Schicht überzogen. Er ist assimiliert und tritt doch als Einziger aus der historischen Handlung, indem er in der Mitte des Stücks einen minutenlangen Monolog rezitiert. Die Fahrstuhlszene überträgt die Frage des "Auftrags" auf Chef und Untergebenen der Moderne. Leise wird hier die Revolution in Frage gestellt und zugleich eine individualisierte Auseinandersetzung mit "dem Auftrag" angebahnt.

Als das Schreiben, aus dem hervorgeht, dass der Auftrag mit der Übernahme der Macht durch Napoleon seinen Gegenstand verloren hat, die drei Revolutionäre erreicht, gibt Galloudec, der Bauer, vor, die Welt und deren Entwicklungen nicht mehr zu verstehen. Sasportas versucht es mit Bauernschläue: Was, wenn das Schreiben nicht angekommen wäre? Was, wenn ein General, dessen Namen (Bonaparte) er schon wieder vergessen habe, und seine Handlungen sie in Jamaika sowenig erreichten wie interessierten? Nur Debuisson - durch sein schwarz-weißes Kampfkostüm bereits als der Dazwischenstehende markiert - erkennt, dass er nicht länger Befehlsempfänger sein kann, einer der tut oder lässt, was man ihm sagt. Er schreit sie heraus, seine Enttäuschung über den Missbrauch und die Entwertung seiner Ideale.

Ulrich Mühe nimmt sich einige Freiheiten bei der Besetzung der Rollen und Zuweisung der Texte. Weder die Handlung noch der Text rechtfertigen, warum die Eingangsbotschaft, die Suche nach dem Bürger Antoine, anstatt von dem Matrosen, wie von Heiner Müller ursprünglich vorgesehen, in der Mühe-Inszenierung von dem "Engel der Verzweiflung" überbracht wird. Für diejenigen unter den Zuschauern, die "ihren Müller" nicht gelesen haben, ist das nicht nachvollziehbar, die übrigen grübeln über den Sinn und Zweck dieses Kunstgriffs. Die Neuzuweisung der Rolle des Untergebenen im Fahrstuhl erklärt sich hingegen aus der Besetzung: Der jugendliche Florian Lukas glänzt in der Rolle des Sklaven Sasportas. Den Angestellten, der seine Unterwürfigkeit den langjährigen Erfahrungen in einer modernen Unternehmenshierarchie verdankt, hätte man ihm kaum abgenommen. Da ist Udo Samel die eindeutig bessere Wahl, erhält er doch somit zugleich die Chance zu einem Monolog, in dem er seine schauspielerischen Qualitäten eindrucksvoller unter Beweis stellen kann, als in den kurzen Auftritten des Bürgers Antoine.

Die Frage nach dem Rollenbild der Frau im Stück erübrigt sich, wenngleich die 80 jährige Inge Keller in der Rolle der ersten Liebe Debuissons mit einer großen darstellerischen Leistung eine starke Frau verkörpert. Das unschuldige Weiß ihres Kleides steht in hartem Kontrast zur Gebrechlichkeit ihres Alters. Dass sie Debuisson eine jugendliche schwarze Schönheit zum Geschenk macht, unterstreicht einerseits das Festhalten an männlichen und weiblichen Rollenklischees und provoziert andererseits zugleich Debuissons Auseinandersetzung mit den drei Geliebten der Revolution: der Hure Freiheit, der Hure Gleichheit und der Hure Brüderlichkeit. Grausam-zärtlich sind die Texte Heiner Müllers, wenn es um die Liebe geht, denn für die "wahre Liebe" zwischen den Menschen bietet das Stück keinen Raum. Und die "Schwarz-Weiß-Malerei" in Personen wie Kostümen kann auch als eine Auseinandersetzung um "schwarze" und "weiße" Menschen verstanden werden. Die Chance, mit dem in der französischen Revolution angelegten Aufbrechen der Rollen auch einen Schritt in die Auseinandersetzung um die Gleichberechtigung der Frau zu gehen, wird von Heiner Müller so wenig genutzt wie von seinem Schüler Mühe.

Die Frage, ob Heiner Müller sein Schreiben als einen - von wem gegebenen? - Auftrag betrachtet hat, den er erfüllt oder unerfüllt zurückgeben muss, der ihm als nicht mehr relevant genommen wird, bleibt offen. Darf aber getrost mitgedacht werden, wenn man versucht nach knapp zwei Stunden prallem Theater, das festzuhalten, was das Stück für einen selbst bedeuten kann.


Heiner Müller
Der Auftrag

www.derauftrag.net
Haus der Berliner Festspiele
Schaperstraße 24 (U-Bahn Spichernstraße)
Inszenierung: Ulrich Mühe
Darstellerinnen: Inge Keller, Christiane Paul, Herbert Knaup, Florian Lukas, Udo Samel, Heike Kroemer und Ekkehard Schall
Bühnenbild: Erich Wonder
Kostüme / Mitarbeit Bühnenbild: Michaela Bürger
Musik: Jakob Diehl
Licht: Franz Peter David
Dramaturgische Mitarbeit / Regieassistenz: Silke Koch, Ingolf Müller
DarstellerInnen: Debuisson: Herbert Knaup, Galloudec: Ekkehard Schall, Sasportas: Florian Lukas, Erste Liebe: Inge Keller, Antoine: Udo Samel, Engel der Verzweiflung: Christiane Paul, Frau: Heike Kroemer, Sklavin: Adwoah Prah
Produzent: Alexander Deibel

Karten:
telefonisch unter: 030-2548 9254
oder
an der Kasse im Haus der Berliner Festspiele,
Kassenöffnungszeiten: Mo. - Sa. 12.00 - 18.00 Uhr
oder per E-Mail unter: kartenbuero@berlinerfestspiele.de

Weitere Aufführungsorte:
Wiener Festwochen Freitag, 30. April 2004, Samstag, 1. Mai 2004
Grand Théâtre de la Ville de Luxembourg Termine werden noch bekannt gegeben


Kultur

Beitrag vom 27.01.2004

AVIVA-Redaktion