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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 27.11.2005


Vittula liegt nicht in Schweden
Jana Scheerer

"Populärmusik aus Vittula" läuft im Januar an, doch der tragikkomische Ausflug in die schwedische Provinz ist bereits jetzt auf dem VERZAUBERT FESTIVAL zu sehen. Egal wann – reingehen lohnt sich.




"Wohnst du noch oder lebst du schon?" Mit dieser Frage könnte jede zweite Szene aus "Populärmusik aus Vittula" aufhören und gäbe dann den perfekten Ikea-Werbespot ab. Denn hier sitzen raubeinige Schweden an langen Holztischen und essen aus geblümten Schüsseln –und Wohnzimmer sehen aus wie aus einem Ikeakatalog von 1967. Oder 2005. Doch die Szenen hören nicht einfach auf, sondern zeigen uns Hochzeitsessen und Elchjägerveteranentreffen bis zum bitteren Ende in Form von Besäufnissen mit reinem Spiritus und der Verführung (oder schon Vergewaltigung?) minderjähriger Jungen durch mittelalte Matronen.

So zeichnet dieser Film ein dichtes Bild der 60er Jahren in der nördlichsten Ecke Schwedens: An der Grenze zu Finnland liegt Vittula, fernab von allen kulturellen Zentren, egal, ob sie Stockholm oder London heißen. Hier fühlt sich die Bevölkerung auch sprachlich in der Peripherie: Gesprochen wird eine Mischung aus Finnisch und Schwedisch, die in der Schule mit der Aufforderung "Sprich Schwedisch!" sanktioniert wird. "Vittula liegt nicht in Schweden", ist entsprechend ein Satz, der in diesem Film mehr als einmal fällt.

In dieser Welt wachsen die beiden Freunde Matti und Niila auf, Matti als Spross einer nicht eben feinfühligen, aber doch intakten Familie, Niila unter der Knute eines gewalttätigen Vaters. Aus dieser Konstellation könnte ein Film werden, der entweder in Selbstmitleid versinkt, einen "versöhnlichen Blick" auf all das wirft – oder aber die Emanzipation aus dieser Hölle als Entwicklungsgeschichte erzählt. "Populärmusik aus Vittula" tut nichts von alledem, und das ist die große Stärke dieses Films. So werden die vielen komischen Momente immer wieder durch plötzliche Ausbrüche von Gewalt konterkariert. Die Erwartung des Schrecklichen liegt ständig über den bunten Bildern und überträgt die emotionale Spannung der Figuren geradezu körperlich auf den Betrachter.

So führt auch der Einsatz des neuen, aus Südschweden stammenden Musiklehrers für eine Schülerband nicht zum Aufbrechen der alten Muster. Zwar haben Matti, Niila und ihre Bandkollegen einigen Erfolg, doch nur der begabte Niila nutzt die Chance, aus der Enge auszubrechen. Matti zieht es vor, seinen neuen Status als Rockstar bei den Mädchen auszunutzen und verrät schließlich sogar die Freundschaft zu Niila. Und auch als Niila und sein Bruder den schlagenden Vater überwältigen und seine Gewaltherrschaft brechen, lässt sich schon erahnen, dass fortan der Bruder das grausame Regiment weiterführen wird.

Einzig die traumartigen Szenen, die manchmal fast an einen tschechischen Märchenfilm erinnern, lassen Raum für Hoffung auf Befreiung und ein zwangloseres Leben. Doch Momente wie der, in dem Niila in einem Ofen eingeschlossen heranwächst, schließlich den Ofen sprengt und nackt durch den Schnee läuft, vermitteln nur stilistisch die Illusion einer Erlösung – tatsächlich geht Niilas und Mattis Leben nach dieser Szene weiter wie bisher, nur dass sie jetzt eben sechzehn sind und nicht mehr acht oder neun.

Hier kommt dann auch der Verdacht auf, dass solche Einschübe mehr der narrativen Struktur dienen als der inhaltlichen Entwicklung. Denn Mikael Niemis Romanvorlage erzählt die Geschichte in Form von Fragmenten und Shortstories, die Regisseur Reza Bagher erst in ein linear erzähltes Drehbuch umarbeiten musste. Diese Notwendigkeit von narrativer Linearität ist im Film deutlich zu spüren. So verheißt die arg konstruiert wirkende Rahmengeschichte ein erzählerisches Ziel, dass der Film letztendlich nicht einlöst. Zurück bleibt das Gefühl, eine Vorgeschichte erzählt bekommen zu haben, doch eine Vorgeschichte zu was?

"Populärmusik aus Vittula" hätte locker auf narrative Stringenz verzichten können, doch sollte dem Film diese Unentschlossenheit nicht übel genommen werden. Sie wird mehr als wettgemacht durch die emotionale Spannung, die der Film über die ganzen 100 Minuten hält – was nicht zuletzt dem überwältigend von Andreas af Enehjelm gespielten Niila zuzurechnen ist.

Bedauerlich ist eigentlich nur, dass aus der angedeuteten Romanze zwischen Matti und Niila nichts wird. Niila wäre sicher nicht abgeneigt, doch Matti treibt sich lieber mit Mädels herum. Schade, dabei hatte man sie schon fast zusammen durch Ikea flanieren und ihre gemeinsame Wohnung in Stockholm einrichten sehen. Aber Vittula liegt eben nicht in Schweden.

Am Montag, den 28. November um 19:30 Uhr ist Populärmusik aus Vittula im Rahmen des VERZAUBERT FESTIVALS im Berliner Kino International zu sehen.


Populärmusik aus Vittula
Reza Bagher

Nach einem Roman von Mikael Niemi
DarstellerInnen: Tommy Vallikari, Andreas af Enehjelm, Kati Outinen
Schweden 2004
Länge: 100 min
Kinostart: 19.01.2006


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Beitrag vom 27.11.2005

AVIVA-Redaktion