1000 Arten Regen zu beschreiben - der Debütfilm von Isa Prahl. Kinostart: 29. März 2018 - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kultur Kino



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 07.03.2018


1000 Arten Regen zu beschreiben - der Debütfilm von Isa Prahl. Kinostart: 29. März 2018
Tina Schreck

Das hochkarätig besetzte Drama handelt von der Zerrissenheit einer Familie, die damit kämpft, dass sich einer von ihnen abwendet, ohne Gründe dafür zu nennen. Der Film wurde 2017 beim Tallinn Black Nights Film Festival als bestes Debüt und von der Deutschen Film- und Medienbewertung mit dem Prädikat besonders wertvoll ausgezeichnet.




"Mike, we love you", steht auf einem bereits verwitterten Laken, das trostlos im Garten vor einem geschlossenen Fenster gespannt ist. Mikes Familie ist verzweifelt, denn dieser hat schon seit Wochen sein Zimmer nicht verlassen. Alles Betteln, flehen, drohen und reden ist vergebens. Die Türe bleibt eisern geschlossen.

Die verschwundene Jugend

Hikikomori, der japanische Begriff für das Phänomen des sich Abschottens, gehört in Japan schon seit einigen Jahren zum festen Sprachgebrauch und verbreitet sich auch in Westeuropa zunehmen. Er bezeichnet das soziophobe Verhalten von Menschen, die freiwillig den Kontakt zur Außenwelt abbrechen, beziehungsweise auf ein Minimum reduzieren. Meist sind es Jugendliche. Die Gründe dafür, sich komplett von der Gesellschaft zurückzuziehen liegen dabei zumeist in einem Gefühl der Überforderung, in der Versagensangst, den Erwartungen und Verantwortlichkeiten des Erwachsenenlebens nicht standhalten zu können. Auch Mike, der unsichtbare Protagonist des Films, befindet sich in dieser Phase der Selbstfindung, die ihn schließlich in die Isolation drängt. Seit vielen Wochen weigert er sich, sein Zimmer zu verlassen. Sein Vater Thomas (Bjarne Mädel), seine Mutter Susanne (Bibiana Beglau) und seine Schwester Miriam (Emma Bading) sind der quälenden Situation hilflos ausgeliefert. Sie können nur vor der verschlossenen Türe stehen und warten. Dabei wird die Tür mehr und mehr zum Spiegel ihrer eigenen Ängste und Neurosen.

1000 Arten der Verzweiflung

Während der Vater seinem Ärger freien Lauf lässt, klammert sich die Mutter an die Hoffnung, Mike mit genug Liebe und Verständnis zur Vernunft bringen zu können. In einer herzzerreissenden Szene verbrennt Thomas Mikes alte Sachen vor dessen Fenster – Spielzeug, Kuscheltiere, Kinderbücher. "Hab ich dir vorgelesen", brüllt er unter Tränen. Susanne hingegen stellt ihrem Sohn tagtäglich geduldig frisches Essen vor die Tür und weigert sich, das Haus für längere Zeit zu verlassen, aus Angst, Mike noch weiter von sich wegzutreiben. Als alle Bemühungen ihrerseits scheitern, sucht sie seinen ehemaligen besten Freund auf, um mit dessen Hilfe Kontakt zu ihrem Sohn aufzunehmen. Aus dieser Begegnung entwickelt sich nach und nach eine prekäre Beziehung, die zwischen sexueller Anziehung und mütterlicher Obsession fluktuiert. Bibiana Beglau verkörpert ihren Part der verzweifelten Mutter mit kraftvoller Intensität und viel Feingefühl, was ihr widersinniges Handeln für die Zuschauer_innen nachvollziehbar erscheinen lässt. Schon bald trägt ihr Wahlsohn dieselbe Haarfarbe wie Mike, isst sein Lieblingsessen und taucht in die Welt des Ringsports ein. Bei ihrem unerbittlichen Kampf vergisst sie allerdings ihre Tochter, die ihrerseits unter dem Bruch mit ihrem großen Bruder leidet und sich von ihren Eltern im Stich gelassen fühlt.

Lauter Gegenprotest

Im Gegensatz zu Mikes stillem Widerstand setzt Miriam alles daran, von ihrer Umwelt gehört und wahrgenommen zu werden. Allein versucht sie sich, durch die ohnehin schwierige Teenagerphase zu schlagen und durch vehement provozierendes Verhalten die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Emma Bading brilliert in der Rolle der pubertierenden Jugendlichen, die an dem Liebesentzug und ihrer Sehnsucht nach Mike zu zerbrechen droht. Hinter dem von ihr forciertem ersten Sex und den aus Trotz unternommenen Alkoholexzessen spiegelt sich in ihrem sensiblen Spiel auch die große Unsicherheit und Fragilität einer vernachlässigten Teenagerin wider, die vergeblich nach Zuspruch und Beständigkeit sucht. Für ihre beeindruckende Darstellung ist sie zu Recht als Beste Nachwuchsschauspielerin nominiert.

Den Regen spüren

Die einzige Kommunikation, die Mike während seiner Isolationsphase zulässt, sind knappe Nachrichten, die er auf Zetteln geschrieben unter seiner Türe durchschiebt. Darauf zitiert er aktuelle, globale Regenphänomene, welche er aus seinem einzigen Fenster zur Außenwelt zieht: dem Internet. Der Regen spielt eine wichtige Rolle im Film. Er ist Sinnbild für ein Leben, das der Eingeschlossene nur noch aus der Distanz beobachtet. Und auch die anderen Figuren haben den Bezug zur Wirklichkeit verloren. Am Ende lernen sie, den Regen in seiner Unterschiedlichkeit und somit auch das Leben neu zu betrachten. Denn: "Regen der auf Haut fällt, ist der schönste Regen."

AVIVA-Tipp: "1000 Arten Regen zu beschreiben" ist ein spiel- und bildstarkes Erstlingswerk, dessen Tiefgang durch die klug inszenierte Symbolik und die reduzierten, mit Bedacht gewählten Dialoge zum Ausdruck gebracht wird. Eine außergewöhnliche, sensibel erzählte Geschichte über Einsamkeit, Schmerz und Verstehen.

1000 Arten Regen zu beschreiben
Deutschland 2017
Regie: Isa Prahl
Drehbuch: Karin Kaci
Darsteller_innen: Bibiana Beglau, Bjarne Mädel, Emma Bading, Louis Hofmann, Janina Fautz, David Hugo Schmitz, Béla Gabor Lenz, u.v.m.
Verleih: Film Kino Text
Lauflänge: 92 Minuten
Kinostart: 29.03.2018
Filmwebsite und Trailer: 1000arten.de
Facebook: www.facebook.com
Mehr Infos und der Trailer unter:
1000arten.de und www.facebook.com/1000arten

Zur Hauptdarstellerin: Bibiana Beglau wurde am 16. Juli 1971 in Braunschweig geboren. Seit dem Beginn ihrer Karriere arbeitet sie mit Regisseur_innen, die das Theater und den Film der Gegenwart prägen. Für ihre Hauptrolle in Volker Schlöndorffs Spielfilm "Die Stille nach dem Schuss" (2000) erlangte sie internationale Anerkennung, wurde als Beste Darstellerin mit dem Silbernen Bären preisgekrönt und für den Europäischen Filmpreis nominiert Seitdem war sie in zahlreichen Filmen wie in Aelrun Goettes "Unter dem Eis" (2005) sowie in diversen Tatort-Folgen zu sehen. Für ihre herausragenden Leistungen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem Silbernen Bären der Berlinale, dem Ulrich-Wildgruber-Preis sowie dem Adolf-Grimme-Preis. Neben den vielen, großen Film- und Fernsehproduktionen spielt Bibiana Beglau an allen wichtigen deutschsprachigen Theaterbühnen. Sie ist Mitglied der Akademie der Künste und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.
Weitere Infos zu Bibiana Beglau unter: www.residenztheater.de sowie > www.imdb.com

Zur Hauptdarstellerin: Emma Bading kam am 12. März 1998 in Monheim am Rhein zur Welt. Im Alter von 13 Jahren debütierte sie in Nicolas Wackerbarths Kinofilm "Halbschatten" (2013). Darüber hinaus spielt sie eine der fortlaufenden Rollen in der Usedom-Krimi-Reihe. Bereits zwei Mal war die Schauspielerin für den Deutschen Förderpreis Schauspiel (zum einen für Nico Sommers "Lucky Loser" (2016), zum anderen für Markus Sehrs "Die Kleinen und die Bösen" (2014) nominiert. Bei ihren Fernseh- und Kinoproduktionen arbeitete sie mit namhaften Regisseuren wie Ulrich Köhler, Florian Gallenberger und Marco Petri zusammen.
Weitere Infos zu Emma Bading unter: www.imdb.com

Zur Regisseurin: Isa Prahl wurde 1978 in Münster geboren. Zunächst studierte sie Grafik-Design in Hamburg sowie Literatur, Kultur und Medien in Siegen. Nach einem Redaktionsvolontariat in Köln begann sie ein Postgraduiertenstudium an der Kunsthochschule für Medien. Während des Studiums konzentrierte sie sich vor allem auf die kurze Form des Geschichtenerzählens. Mit ihrem Social Spot "Armut kennt viele Geschichten" (2009) gewann sie zahlreiche Preise, unter anderem den Young Directors Award in Cannes. 2011 schloss sie ihr Studium mit dem Film "Ausreichend" ab, der mit dem FIRST STEPS Award ausgezeichnet wurde. 2012 erhielt sie den Förderpreis des Landes NRW.
Weitere Infos zu Isa Prahl unter: www.isaprahl.de

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Beitrag vom 07.03.2018

Tina Schreck