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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 11.11.2010


Wir sitzen im Süden - Ein Film von Martina Priessner
Evelyn Gaida

Integrationsdebatte andersherum: Bülent (30), Murat (39) und Fatos (43) sprechen ausgezeichnet Deutsch, sind ausgebildet und möchten arbeiten. Nach Deutschland dürfen sie jedoch nicht zurück.




Freiwillig hat in Priessners Dokumentation nur die Unternehmerin Çigdem (33) der Bundesrepublik den Rücken gekehrt, um vorerst Projektleiterin in einem Callcenter zu werden. Alle vier "sitzen im Süden", wie es gegenüber AnruferInnen gelegentlich heißt. Gemeint ist jedoch nicht Süddeutschland - worauf Fatos´ breiter Schwarzwälder Dialekt schließen lässt - sondern Istanbul.

Wer bei Neckermann, Lufthansa oder Quelle.Contact anruft, wird freundlich von Sandra, Illona oder Ralf empfangen, nicht ahnend, dass sie/er eigentlich mit Bülent, Fatos und Murat spricht. Die Filmemacherin, Kuratorin und kulturelle Aktivistin Martina Priessner wirft in ihrem Film "Wir sitzen im Süden" einen Blick hinter eine Vielzahl von Kulissen: Die merkwürdigen deutschen Callcenter-Parallelwelten in der Türkei und die manchmal kuriosen Überschneidungen der beiden Kulturen in den Lebensläufen ihrer MitarbeiterInnen – teils heimatlose Deutsch-TürkInnen, die dort "Asyl" suchen. Vor allem bringt der Film den ZuschauerInnen aber unkommentiert sehr verschiedene Menschen persönlich nahe, deren Biographien im eklatanten Widerspruch zu Abschiebungs- und MigrantInnenklischees stehen. Ihre Geschichten rufen Beklemmung hervor statt den Eindruck europäischer Bewegungsfreiheit.

Drinnen wird Käsekuchen gegessen, zu Weihnachten Glühwein getrunken, tragen die Pappwölkchen an der Decke animierende Aufschriften wie "Gerne", "Selbstverständlich", "Das tut uns sehr leid" – außerhalb des Callcenters flimmert die türkische Metropole in der Sonne. "Außen Toppitz, innen Geschmack", grinst Murat, als er den Käsekuchen bäckt. In Deutschland geboren, lebte er 15 Jahre lang in einem Vorort von Frankfurt am Main bis er "da rausgerissen" wurde. Seine Eltern schoben einen Urlaub vor und ließen ihn nicht zurückkehren. "Ich möchte es einfach nicht aufgeben, ein Teil von mir gehört dorthin." Zudem dürfe er sich in der Türkei nicht offen zu seiner Homosexualität bekennen und diese leben. "Im Hinterkopf hatte ich immer den festen Glauben daran, dass ich durch meinen früheren Aufenthalt und durch meine Geburt in Deutschland bestimmt irgendwelche Rechte hätte." Die deutschen Behörden sehen es anders: Nach 25 Jahren hat er immer noch keinen Weg gefunden, dauerhaft zurückzukehren.

Çigdem, die einen deutschen Pass hat, gehen "deutsche Inseln" am Bosporus mittlerweile eher auf die Nerven. Sie ist hier auf der Suche nach Heimat, die für sie immer bei den gelben Taxis am Istanbuler Flughafen anfing, wenn sie zu Besuch kam. Hier möchte sie alt werden, aber in Bezug auf eine Rückkehr auch niemals nie sagen. Ganz anders sieht es bei Fatos aus: "Ich wollte überhaupt nicht in die Türkei. Ich wusste ja nicht, dass es für immer ist." Ihre türkischen Eltern hatten sie mit ihrem ersten Freund gesehen und sie daraufhin postwendend in ihr Herkunftsland geschickt. Kaum war sie am Flughafen auf der anderen Seite der Absperrung, wurde ihr deutscher Pass als ungültig abgestempelt. "Ungültig", wiederholt sie noch immer fassungslos. Jahrzehnte, zwei Kinder und einen gewalttätigen Ehemann später nimmt sie endlose Behördengänge auf sich, um wenigstens ein Touristinnenvisum für Deutschland zu erhalten. Als es schließlich klappt, kommen ihr vor Freude die Tränen. Aufgewachsen ist sie bei deutschen Pflegeeltern, wo sie bis zu ihrem 13. Lebensjahr wohnte. "In meinen Adern habe ich türkisches Blut, in meiner Seele habe ich Deutschland", sagt sie. Nur Hochdeutsch könne sie nicht – "Ich komme aus dem Schwarzwald!"

Bülent aus Frankfurt am Main hat ein zwiespältiges Verhältnis zu seinem Geburtsland, der BRD. Er hat dort viel durchgemacht, auch die Abschiebung war hart, die Türkei kannte er zuvor nur aus dem Urlaub. "Der Flughafen steht da, aber du kannst nicht zurück." Nach dem Tod seines Vaters hatte er "keinen Anfang und kein Ende mehr gesehen", war in die Drogenszene abgerutscht. Die Art des höflichen und einnehmenden Callcenter-Agenten, die Bedeutung der Farben von Bomberjacken in seiner früheren Frankfurter Gang "Türkische Power" zu erklären, ist rührend. Die Gang sei seine Familie gewesen, habe Geborgenheit gegeben. Damals trug er die türkische Flagge auf der Jacke, in Istanbul überkam ihn ein heimatliches Gefühl beim Betreten des deutschen Callcenters: "Ich dachte, `du bist wieder da!´ … Hier kann man sich verstehen. Das war echt schön!" Er habe sich jedoch in der Türkei eingelebt, es ginge ihm gut. Über Deutschland sagt er rückblickend: "Obwohl ich dort geboren und aufgewachsen bin und alles drum und dran: Immer wieder wirst du als Ausländer gesehen." Wohin er stets zurückkehre und "von wo ich eigentlich nie wegkam, das ist die Einsamkeit. Immer."

AVIVA-Tipp: Am Ende des Films nickt Bülent im Callcenter-Shuttlebus nach einem weiteren harten Arbeitstag erschöpft ein. Um ihn herum verschmelzen die türkische und deutsche Sprache zu einem diffusen Summen. Ebenso führt Priessners Film auf nachdrückliche und sehr berührende Weise die vielgestaltige und komplexe Mehrstimmigkeit kultureller Identität vor Augen, die sich weder automatisch nach biologischen Gesichtspunkten, noch bürokratischen Mauern richtet, ihnen aber undifferenziert unterworfen wird.

Zur Regisseurin: Martina Priessner lebt und arbeitet als Filmemacherin, Kuratorin und kulturelle Aktivistin in Berlin. Nach einem Studium der Sozial- und Kulturwissenschaften an der Humboldt Universität Berlin arbeitete sie über zehn Jahre als Autorin für den Hörfunk. Von 1998 bis 2007 war sie als Kuratorin und Redakteurin für das Filmfestival Türkei/Deutschland aktiv. Von 2008 bis 2010 arbeitete sie als Dramaturgin und Kuratorin am postmigrantischen Theater Ballhaus Naunynstraße in Berlin. "Wir sitzen im Süden" ist ihr erster abendfüllender Dokumentarfilm.

Wir Sitzen Im Süden
Deutschland/Türkei April 2010
Buch und Regie: Martina Priessner
Verleih: Pangeafilm
Lauflänge: 88 Minuten
Kinostart: 11. November 2010

Weitere Informationen finden Sie unter:

www.wir-sitzen-im-sueden.org

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20 Jahre Städtepartnerschaft Berlin–Istanbul. Konferenz Zivilgesellschaften am 19. Juni in Istanbul und am 6.–9. Oktober 2009 in Berlin

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Beitrag vom 11.11.2010

Evelyn Gaida