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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 04.12.2011


Marc Weitzmann - Mischehe
Susann S. Reck

Zwölf Jahre nach dem Erscheinen in Frankreich, wo er einen Skandal auslöste, erschien der umstrittene Roman des Schriftstellers Marc Weitzmann "mariage mixte" im August 2011 in deutscher Sprache




Die Mischehe
Weizmanns Roman ist eine Wucht, verstörend, kontrovers - nicht nur weil es darin um einen echten Kriminalfall geht, um jüdische Identität und Frankreich im Allgemeinen - all diese Aspekte lassen die Leserin immer wieder nachfragen worum es eigentlich geht, was der Sinn des Ganzen ist. Genau das aber macht die Stärke des Romans aus. Die Erzählweise von Mischehe ist unkonventionell, das ganze Buchprojekt ein Wagnis.

Der Fall Turquin
Der Kriminalfall Turquin inspiriert Weitzmann zu seinem Roman Mischehe: Der reiche Tierarzt Turquin wird 1991 in Nizza zu 20 Jahren Haft verurteilt, weil er seinen acht Jahre alten Sohn ermordet haben soll. Eine Leiche allerdings wird nie gefunden. Als Hauptbeweis für die Verurteilung dient die Tonbandaufnahme mit einem Geständnis, das die Mutter des Kindes Turquin heimlich und während des eigens dafür provozierten Geschlechtsaktes entlockt. Vorausgegangen ist ein Ehekrieg, den die Medien gnadenlos ausschlachten:
die zahllosen Liebhaber der Frau, darunter auch ein jüdischer Bohemien, angeblich der eigentliche Vater des verschwundenen Kindes, die Rache Turquins. Er soll dem untergeschobenen Sohn eine Swastika um den Arm gebunden und gezwungen haben, sie zu Hause zu tragen, nachdem seine Frau ihn endgültig verlassen, nachdem sie Turquin zu allem Überfluss das Kind überlassen hat. Noch während der Verhandlung tauchen Gerüchte auf, der Junge würde noch leben, es gäbe eine Spur, die nach Israel führt. Die Spur jedoch verläuft im Sand.

Cottard
Dass Weitzmann über einen authentischen Kriminalfall schreibt, erschließt sich der Leserin zunächst nicht.
Der Roman beginnt aus der subjektiven Wahrnehmung eines Ehemannes, Jean-Christoph Cottard, der wie der Tierarzt Turquin von seiner Frau verlassen wurde und deren gemeinsames Kind verschwunden ist.
Die Romanfigur Cottard entpuppt sich für die Leserin als materialistisch, gefühlsarm, bevormundend und zunehmend verstiegen. Er neigt zu Sadomasochismus und kurz vor seiner Verhaftung führt er eine ins Detail beschriebene Selbstbeschneidung an sich aus. Cottard wird wegen Mordes an seinem Sohn angeklagt. Das Kind jedoch bleibt unauffindbar und Weitzmann ändert abrupt die Erzählperspektive.

Der Autor
Nach 70 Seiten Cottardscher Innenschau präsentiert Weitzmann seinen LeserInnen plötzlich einen Erzähler. Es ist ein jüdische Autor, der durch einen flüchtigen Ausschnitt im Fernsehen Interesse an dem Fall Cottard (authentisch Turquin) gewinnt und seine Schlüsse zieht:

Cottard hat ihn (den Sohn) verbrannt. /.../ Eingeäschert in einem dieser Verbrennungsöfen, die zu den Gerätschaften von Tierärzten gehören./.../ Hier, in Frankreich, kurz vor Anbruch des 21. Jahrhunderts. Fantastisch! /.../ Nichts als Leere , eine Abwesenheit. Ein Name (der des Sohnes) für alle denkbaren Projektionen.

Der LeserIn wird schnell klar, dass es sich bei Mischehe um einen Tatsachenroman handelt, bzw. dass Weitzmann mit Fakten und Fiktion jongliert. Der jüdische Autor, er trägt unmissverständlich autobiographische Züge, wendet sich, inspiriert durch den Ausschnitt im Fernsehen, seiner eigenen Familiengeschichte zu, "meinen eigenen Leichen". Die Beziehung zum Vater ist schwierig und seit dem Erscheinen seines letzten Romans, in dem der Autor den noch lebenden Vater literarisch zu Grabe getragen hat, wird er von seiner Familie geächtet.

Weitzmann begründet die Zusammenführung beider Handlungsstränge mit der Faszination für ein bestimmtes Moment im Roman, dem Erscheinen des Anti-Vaters schlechthin, dem Goi und Killer im Fernsehen. Für den Autor steht Cottard vor allem für die Abwesenheit seines Sohnes. Abwesenheit aber ist ein zentrales Thema in der Beziehung zwischen ihm und seinem eigenen Vater.
Weitzmanns Assoziationsketten sind halsbrecherisch und nicht immer einleuchtend, und dass er den Kriminalfall zu nichts anderem als zur Selbstreflexion nutzt, wirkt zum Teil eitel und deplaziert. Dennoch, als Virginie, die neue Freundin des Autors in die Handlung eingeführt wird, kristallisiert sich mehr und mehr heraus, worum es in Mischehe auch und vor allem geht. Es geht um das Schreiben selbst.

Virginie
Virginie verkörpert das selbstbewusste, kulturell versierte BürgerInnentum, das Bücher liest, vertreibt und rezensiert, aber nicht selbst schreibt.
Virginie hat - laut Autor - einen tollen Körper mit "Körbchengröße 95 B". Sie bringt sein Leben, zumindest kurzfristig, in geregelte Bahnen. Sie hat die richtigen Freunde, er hört vorübergehend auf zu schreiben bis Virginie ihn auf die Hochzeit von Freunden nach Nizza mitnimmt. Ausgerecht Nizza, wo sich der Fall Cottard zugetragen hat. Fast ist es überflüssig zu erwähnen, dass sich die Einstellung des Autors zu Virginie dadurch verändert. Er beginnt sie zu verachten.

Showdown mit Claude
Claude, die Mutter des verschwundenen Kindes, lebt noch immer in Nizza und der Autor setzt alles daran, sie dort aufzuspüren. Er verfällt in die berufsbedingte Rolle eines voyeuristischen Autors, der sich obsessiv fremder Leben bemächtigt und sich darin suhlt, ein Drang der, laut Weitzmann, signifikant für Schreibende ist und andere Menschen, in diesem Fall natürlich Virginie, abstößt.
Weitzmann beschreibt eine regnerische Nacht, in der sich der Autor stundenlang vor der Haustüre von Claude herumtreibt in der Hoffnung, sie möge irgendwann auftauchen - was auch tatsächlich passiert.
Die folgende, auf 60 Seiten angelegte Begegnung zwischen dem Autor und Claude ist eine echte Höllenfahrt und natürlich der Höhepunkt des Romans:
das Aufeinandertreffen ist unheimlich und gefährlich, schäbig und banal, sexuell aufgeladen und abgründig, witzig, unverschämt, peinlich und schweißtreibend.

Schreiben
Wer von uns beiden verfasste die Geschichte? Wer von uns erträumte den anderen?, fragt sich der Autor gegen Ende der Begegnung. Und auf der letzten Seite des Romans stellt Weitzmann klar:
"Um Danilo Kis noch einmal zu paraphrasieren, hat sich mein Bericht, der am Rande der Tatsachen beginnt - ohne sie voll und ganz preiszugeben - in jenem Halbdunkel fortgesetzt, wo die Dinge einen Schatten, Umrisse bekommen, die leicht verrückt sind. Das heißt, dass die Bedeutung, die man diesem Buch gern beimessen würde, vor allem auf gewisse frühere oder gegenwärtige reale Ereignisse oder Personen bezogen, nicht größer sein kann als die Bedeutung, die man Träumen zugesteht."

Der verurteilte Tierarzt Turquin droht Weitzmann nach dem Erscheinen des Romans im Jahr 2000 wegen Verletzung der Menschenwürde mit einer Schadenersatzklage und dem Veröffentlichungsverbot. Die Presse reagiert gespalten. Vor allem Weitzmanns "Bearbeitung des Realen" wird heftig kritisiert. Aber natürlich ist es genau das, was den Roman Mischehe so lesenswert macht, denn er zeigt auf, dass es Literatur ohne Leben nicht geben kann und dass dieses Leben auch dafür da ist, um interpretiert zu werden, dunkel, drastisch, obsessiv.

Zum Autor: Marc Weitzmann, geboren 1959 in Paris, aufgewachsen in Reims und Besançon. Von 1995 bis 2000 ist Weitzmann Chefredakteur des Literaturteils und bis 2005 Kolumnist der Zeitschrift INROCKUPTIBLES.
Von Marc Weitzmanns neun Buchveröffentlichungen: Notes sur la terreur, Fraternité, Une place dans le monde, Livre de guerre, 28 raisons de faire détester, Chaos, und zuletzt Quand j´étais normal, ist bis lang nur Mariage mixte (Mischehe) in deutscher Sprache erschienen.
Marc Weitzmann lebt in Paris und New York.
Weitere Infos unter: www.marcweitzmann.com

AVIVA-Tipp: Marc Weitzmanns Roman Mischehe wird die Meinung seiner LeserInnen in zwei Lager spalten. Die einen werden begeistert von dem Provokativen seiner Schreibweise, der unkonventionellen Darstellung des Judentums, insgesamt von der schonungslosen Sicht auf alles Menschliche sein, den anderen wird genau das zu extrem, und im schlechtesten Fall zu aufgesetzt und eitel erscheinen.

Marc Weitzmann
Mischehe

Originaltitel: mariage mixte, erschienen 2000
Aus dem Französischen von Uli Aumüller und Patricia Klobusiczky
Schöffling & Co, erschienen Herbst 2011
291 Seiten, gebunden,14,90 Euro
ISBN 978-3-89561-417-0




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Beitrag vom 04.12.2011

Susann S. Reck