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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 23.01.2008


Jutta Ditfurths Ulrike Meinhof-Biografie
Anna Opel

Zu nah dran, um kritisch zu sein. Keine sensationell neuen Erkenntnisse über die Legende Meinhof, aber eine detailliert recherchierte, minutiös geschilderte Darstellung der Lebensumstände.




Die Baader-Befreiung

Ditfurth beginnt ihr Meinhof-Buch mit der legendären Befreiung Andreas Baaders aus dem Lesesaal des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen im Mai 1970. Hier begann für Ulrike Meinhof mit einem Mal das Leben als gesuchte und heroisierte RAF-Terroristin, das sechs Jahre später in ihrer Zelle in Stuttgart-Stammheim tödlich enden sollte.

Nach diesem Paukenschlag wendet Ditfurth sich der chronologischen Schilderung des Lebens einer Frau zu, die Erich Fried in seiner Grabrede als die bedeutendste deutsche Frau seit Rosa Luxemburg bezeichnete. Jutta Ditfurth ist - so heißt es im Klappentext - bei ihrer sechsjährigen Recherche auf bisher unbekannte Quellen gestoßen.

Detaillierte Lebensgeschichte

Neue Zusammenhänge der Lebensgeschichte werden nicht aufgedeckt. Stattdessen zeigt sich die Autorin als überaus gewissenhaft in der Schilderung des familiären Umfeldes Ulrike Meinhofs, die als Tochter eines nationalsozialistischen Kunsthistorikers und einer späteren Historikerin im Jahr 1934 geboren wurde. Nach dem Tod der Mutter wurden Ulrike und ihre Schwester Wienke von Renate Riemeck, der ehrgeizigen und rigiden Lebensgefährtin der Mutter, als Pflegekinder betreut.
Jutta Ditfurth verfolgt in ihrer Schilderung zwei Stränge, die eng geführt werden: die Lebensgeschichte Meinhofs und die politische und soziale Geschichte des ausgehenden Dritten Reiches und der jungen Bundesrepublik.

Ditfurths Meinhof-Biografie beschreibt die Geschichte der Anfänge der Bundesrepublik aus dem Blickwinkel der extrem politisierten, hochbegabten konkret-Kolumnistin und Chefredakteurin und späteren RAF-Gründerin: der Bogen von der gescheiterten Entnazifizierung, einer stark repressiv geprägten Nachkriegsgesellschaft, deren Geschicke zum großen Teil von Personen gelenkt wurden, die sich mit den Nazis mindestens arrangiert hatten, bis zu den Aufbruchsversuchen der nachfolgenden berühmten 68er Generation liest sich spannend, wie ein Krimi. Neben den politischen Entwicklungen und Meinhofs Verwicklungen und Reaktionen geht es durchaus auch um das Privatleben. Die Ehe mit Klaus Röhl, Geburt der Zwillinge Bettina und Regine, Trennung von Röhl und Umzug nach Berlin mit den Kindern.

Terroristin und Stimme der RAF

Dieses sehr gelungene Ineinander der Ebenen verliert etwas bei der Schilderung der letzten Jahre. Die Perspektive des Buchs bleibt hier sehr auf die Situation der Protagonistin in der Haft verengt, auf die Haftbedingungen und Schilderungen des Prozesses. Nach der Baaderbefreiung vergingen bis zur Verhaftung im Sommer 1972 zwei aufreibende Jahre mit Schießübungen, Waffentransporten und Banküberfällen im Untergrund. Meinhof war in dieser Zeit an fünf Bombenanschlägen beteiligt, denen vier Menschen zum Opfer fielen. Über 50 Personen wurden verletzt. Es folgten die Jahre in der Isolationshaft, zuletzt als Gruppenisolationshaft gemeinsam mit Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in Stammheim. Der Staat beantwortete die Gewalttaten der Terroristen mit Entzug der Grundrechte in der Haft und überschritt dafür selbst die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit. Ditfurth legt auch die ungeklärten Todesumstände Meinhofs dar, die verdächtige Hast in der Spurenbeseitigung und die Weigerung von Seiten der Justiz, Obduktionsergebnisse weiterzugeben. Ein Zweifel, der traditionell in der Linken gehegt und gepflegt wird, in Ditfurths Darstellung auch berechtigt erscheint.

Was unterschlagen wird

Die detailversessene und auf Vollständigkeit bedachte Chronik eines Lebens täuscht allerdings über dessen Brüche hinweg. In Ditfurths Darstellung ergibt sich eins organisch aus dem anderen. Die Frage, wie eine Pazifistin jedoch dazu kommt, den bewaffneten Kampf zu propagieren wird hier weder gestellt, noch kritisch beleuchtet. Ein Satz, wie der, den Meinhof nach der Baaderbefreiung in einem Interview äußerte, wird unterschlagen, weil er die Legitimität dieses Kampfes von vornherein untergräbt:

"Wir sagen natürlich, die Bullen sind Schweine. Wir sagen, der Typ in Uniform ist ein Schwein, kein Mensch. Und so haben wir uns mit ihnen auseinander zu setzen. Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden. Und natürlich kann geschossen werden."

Hier ist jemand deutlich in die Irre gegangen. Auf diesem Auge bleibt Jutta Ditfurths emphatische Lebensbeschreibung allerdings blind. Dabei wirkt das Buch bei der Lektüre nur selten polemisch. Es stellt aber – und da liegt das Problem – seinen Gegenstand konsequent einseitig dar. Die vielen Rechtsübertritte der Justiz während der Haft und während des Prozesses werden aufgezählt. Die aufgeheizte Abenteuerlust unter den Anwälten und deren Bereitschaft, sich auf kriminelles Terrain zu begeben, werden dagegen verschwiegen. Auch die Differenzen zwischen den Häftlingen und alle übrigen Hinweise, dass die RAF sich auf einem Irrweg befand, bleiben blinde Flecken. Meinhofs Aussage, die anlässlich der Olympiade 1972 äußerte, die israelische Regierung habe ihre Sportler "verheizt wie die Nazis die Juden" reflektiert Jutta Ditfurth nicht. Ditfurth hat sich Ulrike Meinhof angenähert und wird so ihrer subjektiven Sicht gerecht, letztlich aber nicht der Geschichte.

Zur Autorin:
Jutta Ditfurth
ist bekannt geworden als Bundesvorsitzende der Grünen (1984-1988). 1991 trat sie aus der Partei aus. Seit 2001 ist sie Stadtverordnete für ÖkoLinX-Antirassistische Liste im Frankfurter Stadtparlament und – seit 1970 – aktiv in der außerparlamentarischen Linken. Ditfurth ist Sozilogin und Autorin und schrieb als Auslandsreporterin u.a. über die Sowjetunion, China, Algerien und Kuba. Sie schreibt Drehbücher, Romane und Sachbücher. Weitere Infos und Kontakt unter: www.jutta-ditfurth.de

AVIVA-Fazit:
Ditfurth steht deutlich auf der Seite ihrer Protagonistin, die sie als Mensch und politisch Handelnde porträtiert, ohne jedoch die Problematik der Gewalt, also Meinhof in der TäterInnenrolle, ins Visier zu nehmen. Ein Buch für Leserinnen, die sich für die Lebensumstände und Fakten um die faszinierende Persönlichkeit Ulrike Meinhof interessieren, das der historischen Einordnung der Person jedoch nicht gerecht wird.

Jutta Ditfurth
Ulrike Meinhof. Die Biografie

Ullstein, 2007
ISBN 978-3-550-08728-8
Euro (D) 22, 90 CHF 41,50
Hardcover, 487 Seiten


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Beitrag vom 23.01.2008

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