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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 12.03.2012


Glückwunsch! Carolin Emcke mit mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. AVIVA-Rezension: Carolin Emcke - Wie wir begehren, Stumme Gewalt
Sonja Baude

Ein sehr persönliches und sehr politisches Buch, in dem die preisgekrönte Journalistin Zusammenhänge zwischen sexuellem Begehren und eigener Identität erkundet. Eine Ermutigung für das Anders-Sein!




Die Verleihung fand während der Frankfurter Buchmesse am Sonntag, 23. Oktober 2016, um 10.45 Uhr in der Frankfurter Paulskirche statt und wurde live im Fernsehen übertragen. Die Philosophin Seyla Benhabib hielt die Laudatio. Carolin Emckes Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2016 - Es gilt das gesprochene Wort - können Sie online nachlesen unter: www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de

Herzlichen Glückwunsch!

"Heimat ist das, von wo wir ausziehen, wo wir beginnen." Mit diesen Worten zitiert die Autorin an einer Stelle ihres gedanklich faszinierenden Buches über das Begehren den englischen Psychoanalytiker D.W. Winnicot. Heimat ist also "nicht das, wo wir bleiben". Und so ist diese Erzählung vielleicht zuallererst ein Reisebericht, die Wiederholung einer Wanderschaft, die ihren Ausgang nimmt in der Kindheit der 1970er und 1980er Jahre in der Bundesrebublik. Es ist eine Reise, deren großes Thema das sexuelle Begehren ist, nicht verstanden als Seinszustand, sondern das in seiner Form einer Vielzahl von Modulationen und Modulationswegen unterliegen kann. Es ist eine Reise mit Erlebnissen, Fragen und Erkenntnissen. Und damit ist auch der Rhythmus dieser Erzählung bestimmt: Das konkrete Erleben wird erinnert und der Reflexion unterzogen, die ihrerseits ein Verstehen möglich macht. An diesem Verstehensprozess, obwohl ein ganz persönlicher, lässt Carolin Emcke ihre LeserInnenschaft teilnehmen. Auch das "wir" im Titel ist ein offenes, es meint keine Gruppe, keinen bestimmten Kreis.

Carolin Emcke beginnt ihre Erzählung mit einer Kinderszene auf dem schlammigen Pausenhof am ersten Gymnasiumsschultag, in der sich, wie aus dem Nichts, eine Stimmung der Feindseligkeit und Bösartigkeit zusammenbraut. Sie soll sich mit ihrem Mitschüler Daniel schlagen, so fordern es die anderen. Beide sehen den Grund nicht und die Prügel bleiben aus. Es war ein Test und er zeigt, wie allerorts im schulischen Alltag Machtverhältnisse schon früh erprobt werden, wie die Mechanismen von Ausgrenzung und Cliquenbildung vonstattengehen.

Der Selbstmord Daniels viele Jahre später am Ende der Schulzeit ist "vielleicht [...] der Grund für diese Geschichte. [...] Und vielleicht lässt sich nur so, erzählend, die lange Wahrheit dieser Geschichte begreifen." Dieses "vielleicht" ist keineswegs beliebig, sondern mit ihm tut die Autorin einen weiten Möglichkeitsraum auf, in dem sie Differenzen, Tiefen und Höhen des Begehrens auslotet, immer im Widerstreit mit Zuschreibungen und Festlegungen. Vielleicht war Daniel schwul und ist daran, keinen Ausdruck für sein Begehren zu finden, zerbrochen. Es ist eine Vermutung, ein vielleicht, mit dem Emcke ihre differenzierte Analyse gesellschaftlicher Kodierungen in Gang setzt.

Die Autorin macht deutlich, wie diese Codes mit moralischen Normierungen verwoben waren und sind, wie sie uns Tabus auferlegen, die wir zuweilen ungebrochen verinnerlichen. Wie die Öffentlichkeit und auch eine Jugendzeitschrift wie "Bravo" an dieser Sozialisierung ihren Teil haben. Sie betont, dass an allen Orten der Welt sich Menschen immer wieder ihre "ästhetische, existentielle oder politische Freiheit erst gegen den Widerstand einer Familie, einer Religion, einer Gesellschaft erobern" müssen. Dass viele auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben verzweifelt daran scheitern, ihre eigene Identität und also auch ihr ganz eigenes Begehren aufspüren und frei leben zu können.

Im Fokus dieser Erzählung steht Emckes eigene Lebensgeschichte, die Entdeckung ihres eigenen Begehrens , die ohne die Erkundungen im Wald, vor allem aber ohne die Musik nicht denkbar gewesen wäre. So unternimmt sie mit der Geschichte auch eine musikalische Wanderung, initiiert durch einen klugen Musiklehrer, der sie genaues Hinhören gelehrt hat und zu vermitteln wusste, dass es ein weites Klangspektrum gibt, auch im Denken und Fühlen.

Dass sich in ihren Erinnerungen auch Abgründe auftun, verwundert bei dieser ungeschönten Perspektive nicht und zeigt den unbedingten Anspruch Emckes, verstehen zu wollen: dazu gehört die Scham über sich selbst, das schmerzliche Eingeständnis, nicht immer heldinnenhaft die Würde anderer verteidigt zu haben. Dazu gehört ebenso der vermeintlich liberale Sexualunterricht Ende der 70er Jahre, der doch nichts weiter vermittelte als ein biologistisches Verständnis von der körperlichen Vereinigung. Um Lust und Liebe ging es in diesen aufklärerischen Stunden nicht. Sie entlarvt Diskriminierungen, die in der politischen Klasse salonfähig waren, als immer mehr Menschen in Deutschland und weltweit an AIDS erkrankten. Gleichzeitig räumt sie auf mit den noch heute herrschenden Klischees ihrer heterosexuellen Umgebung, die Homosexualität als Schicksal verkennt und einzig als genetische Bedingheit begreift, die es zu tolerieren gelte. Nein, es ist eben auch eine freie Wahl und die Autorin nimmt für sich in Anspruch: "Ich bin auch homosexuell, weil es mich glücklich macht, weil ich mich in Frauen hineinlieben möchte, weil sich meine Lust und mein Leben so richtig anfühlen." Carolin Emcke spricht hier vom großen Glück, das eigene Begehren im Alter von 25 Jahren entdeckt zu haben, als sie sich zum ersten Mal in eine Frau verliebte und ein unbedingtes Wollen die Folge war.

Dieses Buch, das in der Rubrik Sachbuch für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist, zeugt von denkerischer Präzision und Großzügigkeit und ist ein radikales Plädoyer für die Liebe, in all ihren möglichen Spielarten.

AVIVA-Tipp: Ein Buch über das Glück, die eigene Homosexualität erkannt zu haben und sie leben zu können. Emcke gelingt es in ihrer biografischen Erzählung, persönliche Erlebnisse in übergeordnete Zusammenhänge zu rücken. Sie erkundet, inwiefern politische und religiöse Bedingtheiten die Menschen in ihrer Sozialisierung bestimmen, wie sehr diese Sozialisierung Einfluss hat auf die Art und Weise wie wir begehren, womöglich ohne zu ahnen, wie wir begehren wollen. Ein bemerkenswert kluges und feinsinniges Buch! Carolin Emcke führt vor, dass umfassendes Verstehen immer auch das Verstehen der/des Anderen meint.

Zur Autorin: Carolin Emcke wurde 1967 geboren. Sie studierte Philosophie, Politik und Geschichte. 1998-2006 war sie als Spiegel-Auslandsredakteurin in vielen Krisengebieten. Seit 2007 ist sie freie internationale Reporterin, u.a. für das "ZEITmagazin". Für ihr Buch "Von den Kriegen" bekam sie den Preis "Das politische Buch" der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie den Förderpreis des Ernst-Bloch-Preises. 2008 erschien ihr Buch "Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF". Im selben Jahr erhielt Carolin Emcke den Theodor-Wolff-Preis, 2010 wurde sie mit dem Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus, mit dem Deutschen Reporterpreis und als "Journalistin des Jahres" ausgezeichnet. (Verlagsinformationen)

Carolin Emcke
Wie wir begehren

S. Fischer Verlag, erschienen 08.03. 2012
Gebunden, 256 Seiten
ISBN 978-3-10-017018-7
19,99 Euro


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Beitrag vom 12.03.2012

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