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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 15.05.2012


Hilde Schramm - Meine Lehrerin, Dr. Dora Lux. 1882-1959. Nachforschungen
Sharon Adler

Die Mitbegründerin der "Stiftung Zurückgeben" würdigt mit ihrer Recherche- und Erinnerungsarbeit eine außergewöhnliche Frau, die trotz ihres Wirkens in keiner Studie zur Frauenbildung oder zum ...




... Nationalsozialismus erwähnt wird.

Mehrere Jahre lang hat Hilde Schramm dem Leben von Dora Lux, geborene Bieber, akribisch nachgeforscht. Die Lehrerin Lux gehörte zu den fünfzig ersten Abiturientinnen Deutschlands, war Schülerin von Helene Lange und selbst eine Wegbereiterin des Frauenstudiums. Sie gehörte zu den ersten Frauen, die vollimmatrikuliert studieren konnten. Unter den NationalsozialistInnen verweigerte sie sich rigoros den gesetzlichen Vorschriften, sich als Jüdin registrieren zu lassen, und überlebte dadurch. Im Nachkriegsdeutschland schließlich konnte sie wieder unterrichten, sie lehrte Latein und Geschichte und bot regelmäßig Arbeitsgemeinschaften in Griechisch und Philosophie an.

"Dr. Dora Lux… war von 1953 bis zum Abitur 1955 meine Geschichtslehrerin … Mein Vater ist Albert Speer. Meine Herkunft zwang mir eine frühe und nicht abschließbare Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auf. Für meine Selbstfindung war jedoch der Einfluss von Menschen entscheidend, die eine Gegenwelt zur NS-Ideologie verkörperten, ... eine solche Erfahrung verdanke ich meiner Lehrerin." so Hilde Schramm in ihrer Einführung.

Hilde Schramm, deren Vater als Kriegsverbrecher in Berlin-Spandau im Gefängnis saß, traf mit ihrer Lehrerin die erste Jüdin, die sie bewusst wahrnahm. Für die Schülerin eine prägende und aufwühlende Erfahrung, deren Aufarbeitung sie lange plante, der sie jedoch erst nach Ende ihrer eigenen Berufstätigkeit nachgehen konnte. Eines der größten Probleme ihrer jahrelangen Recherche war der Umstand, dass der Name Dora Lux in keinem Archiv gelistet war und ihr als Informationen lediglich einige knappe Lebensläufe dienten. Jedoch gab ein zehnseitiger Brief, den sie an ihre 1940 in die USA emigrierte Schwester Annemarie Bieber geschrieben hatte, Aufschluss über ihre Situation und Haltung.

Hier schildert sie, die stets als unprätentiös und unbeirrbar beschrieben wird, ihre Verzweiflung über das Leben in Nazi-Deutschland:

"Wo soll ich nun anfangen zu berichten, was uns diese furchtbaren Jahre gebracht haben? Wenn ich daran denke, verliere ich fast den Mut, es ist ja alles so entsetzlich traurig, und kein Lichtblick dringt durch das Dunkel.
Merkwürdig, dass man trotzdem immer noch den Wunsch hat, sich zu erhalten, ich hätte nie geglaubt, dass ich noch so am Leben festhalten würde, auch wenn es einem nur Trübes bringt. Aber es ist immer noch eine leise Hoffnung da, dass es noch einmal besser werden wird und man dann noch Freude an irgendetwas haben kann, so viel inzwischen auch schon unwiderruflich verloren ist."


In ihrer Spurensuche nähert Hilde Schramm sich ihrer ehemaligen Lehrerin von mehreren Seiten an. Sie zog nicht nur ihre eigenen Erinnerungen, sondern auch die ihrer damaligen Mitschülerinnen zu Rate. Über dreißig der ehemaligen Schülerinnen des evangelischen Mädchengymnasium Wieblingen bei Heidelberg schickten der Autorin fünfzig Jahre nach ihren Schulabschlüssen ihre aufgezeichneten Erinnerungen. Diese zeigen, dass Frau Dr. Lux nicht nur im Nachhinein viele nachhaltig beeindruckt hatte, sondern auch, dass ihr der Ruf einer ungewöhnlichen Lehrkraft vorauseilte. So wurde Hilde Schramm nach ihrer Rückkehr von einem einjährigen Schulaufenthalt 1952/1953 in den USA von einer Mitschülerin über die Neuigkeit informiert, die Klasse habe jetzt eine Geschichtslehrerin, die, würde man abschreiben, was im Brockhaus steht, alles für falsch erachte. "Ich erinnere mich noch an die Irritation der Mitschülerin und zugleich an meine Neugier auf eine Frau, die klüger zu sein beansprucht als ein Lexikon." so Hilde Schramm in ihren Erinnerungen.

Zusätzlich forschte Schramm unter anderem in den Archiven der Staatsbibliothek in Berlin, wo sie zu ihrer großen Überraschung entdecken konnte, dass Dora Lux von 1933 bis 1936 an die dreißig regimekritische Artikel in der Zeitschrift "Ethische Kultur" veröffentlicht hat. In Berührung mit der Ethischen Kultur kam Dora Lux bereits in ihrer Jugend, um 1900, über ihren Onkel Dr. jur. Richard Bieber und seine Frau Hanna Bieber-Böhm, eine bekannte Frauenrechtlerin.

In ihren Beiträgen verteidigte Dora Lux die Pressefreiheit und die BürgerInnenrechte für alle, einschließlich der RegimegegnerInnen und Minderheiten. Sie trat für die Selbstbestimmung der Frauen ein und erinnerte an die Verdienste nun verfemter deutscher Juden im Staat und in der Kulturnation - so in einem Nachruf auf Jakob Wassermann, dessen Bücher verbrannt worden waren, und in einem Beitrag zum Oratorium "Elias" von Felix Mendelsohn, dessen Werke nicht mehr aufgeführt werden durften.

Weitere Informationen zum beruflichen Werdegang und privatem Leben bezog Frau Schramm aus diversen persönlichen Gesprächen mit ZeitgenossInnen und den Töchtern von Lux, die Aufschluss darüber gaben, wie und warum diese so und nicht anders handelte. Ein Kapitel widmete sie insbesondere den Jahren 1933-1945 und der Komplexität, die in der Weigerung lag, sich als Jüdin registrieren zu lassen, was ein nicht geringes Risiko darstellte:
Ab Ende 1938 galt der "Kennkartenzwang" für Juden, zudem wurden sie gezwungen, die Vornamen "Sara" oder "Israel" anzunehmen, um als Jude bzw. als Jüdin identifizierbar zu sein. Es wurde außerdem von ihnen verlangt, alle Eintragungen, so im Postausweis, in den Lebensmittelkarten, im Adressbuch "unaufgefordert" vornehmen zu lassen.

Hierzu zitiert die Verfasserin die Tochter Gerda Voss: "Fast jeder befolgte die Anordnung, so auch Mutters Schwestern, weil sie die angedrohten Repressalien fürchteten. Friedl – [gemeint ist Friedrich Bieber, der Bruder von Dora Lux, der in Auschwitz ermordet wurde] - und meine Mutter haben es nicht getan. (...).`Ich lege keinen Strick um meinen Hals, nur weil sie es mir befehlen`, sagte sie. `Ich bin nichtjüdisch und mein Name ist nicht Sara. Lass sie kommen.`"

Dora, die in einer sogenannten "Mischehe" mit dem Physiker und politischem Publizisten, Redakteur für technische Zeitschriften, Sozialisten, Patentanwalt und Freimaurer Dr. Heinrich Lux einigermaßen geschützt lebte und deren Eltern bereits, wie so viele, Ende des 19. Jahrhunderts konvertiert waren, erlaubte es den Nazis nicht, sie aufgrund ihrer perfiden Rassegesetze zur Jüdin zu erklärten. Die eigene ständige Gefährdung hielt sie nicht davon ab, anderen zu helfen. So hat sie Anfang 1943 über mehrere Wochen eine Jüdin in ihrer Wohnung versteckt, bis sie für diese eine weniger unsichere Unterkunft bei nichtjüdischen FreundInnen gefunden hatte. Auch ihrem inhaftierten Bruder versuchte sie, zu helfen. Vergeblich.

In den Kontext der Lebensgeschichte der Dora Lux neben ihrer beruflichen Laufbahn bettete Schramm besonders auch die Frühzeit des universitären Frauenstudiums und der akademischen Berufsausbildung, insbesondere der Gymnasiallehrerinnen ein. Gegründet worden waren die Gymnasialkurse von Helene Lange, einer der Wortführerinnen der bürgerlichen Frauenbewegung. Bis dahin endeten alle höheren Mädchenschulen nach der neunten oder bestenfalls zehnten Klasse.
In ihren Erinnerungen über Dora Lux spannt die Autorin den Bogen über die Biographie der von ihr verehrten Lehrerin zu historischen Zusammenhängen.
Im Zuge ihrer Recherche fand sie auch heraus, wer den Grundstein für deren liberale Einstellung gelegt hatte: Georg Bieber, ihr Vater, der seine beiden Töchter für die "Gymnasialkurse für Frauen zu Berlin" anmeldete und bereits Studienpläne für sie machte, als sie noch gar kein Abitur hatten.
1901 bestanden Dora und Annemarie Bieber die Reifeprüfung. Dora studierte in Berlin, Heidelberg und München, wo sie 1906 in Latein, Griechisch und Geschichte promovierte. Anschließend machte sie das beide Staatsexamen für das Höhere Lehramt und schloss ihre Ausbildung zur Gymnasiallehrerin im Jahr 1909 ab.

Der Fokus auf die ehemalige Lehrerin und das Wissen um deren Kampf um Anerkennung sensibilisierte die Autorin für die Frauenbewegung ebenso wie der Besuch der Elisabeth-von-Thadden-Schule das Fundament für ein antifaschistisches Selbstverständnis gelegt hat. Dies mündete bei Schramm in der Gründung der "Stiftung Zurückgeben" und in ihrem Engagement als Abgeordnete der Alternative Liste im Berliner Landesparlament.

"Gelegentlich ließ unsere Lehrerin in ihren Geschichtsunterricht Bruchstücke ihres Lebens einfließen, die mich staunen ließen. So zum Beispiel, dass ihr Mann unter Otto von Bismarck als Sozialist im Gefängnis war.
Ein anderes Mal erwähnte sie, dass sie durch die Nationalsozialisten ihre Stelle verlor. Aus diesem Hinweis schloss ich, sie sei Jüdin. Vielleicht hatten mich entsprechende Gerüchte aber auch bereits davor erreicht. Gerne hätte ich gewusst, wie sie und ihre Familie die NS-Herrschaft überlebten. Aber danach zu fragen, lag damals jenseits des für mich Vorstellbaren. Und sie selbst hat nie darüber gesprochen."


Im Frühjahr 1956 nahm Frau Lux zum letzten Mal ein Abitur ab, danach schied sie aus dem Schuldienst aus. Eine Weile noch gab sie Nachhilfestunden in Wieblingen, bis ihre Parkinsonsche Krankheit auch dies nicht mehr zuließ. Ende 1958 holte ihre Tochter Eva sie nach Hamburg. Dort starb Dora Lux im Juni 1959 mit sechsundsiebzig Jahren.

Zur Autorin: Hilde Schramm, 1936 in Berlin geboren, studierte Germanistik, Latein, Erziehungswissenschaften und Soziologie, promovierte und habilitierte. Für die Alternative Liste saß sie als Abgeordnete im Berliner Landesparlament. Sie setzt sich öffentlich für die Interessen der Opfer des Nationalsozialismus ein und ist Mitbegründerin der Stiftung Zurückgeben, die jüdische Frauen in Kunst und Wissenschaft fördert. Sie tut dies im Wissen um die Beraubung der Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus und der Vorteilsnahme vieler nicht-jüdischer Deutscher. 2004 erhielt Dr. Hilde Schramm den Moses-Mendelssohn-Preis für ihr Lebenswerk.

Weitere Infos finden Sie unter: www.stiftung-zurueckgeben.de

Aktuelle Lesungstermine erhalten Sie unter: www.rowohlt.de

Fünf Exkurse erweitern und vertiefen die Biografie über Dr. Dora Lux kulturhistorisch, bildungs- und frauengeschichtlich, darunter sind "Die Gymnasialkurse für Frauen 1893 bis 1909 und Helene Lange als Pädagogin", "Gesuch von Abiturientinnen von 1902 auf Immatrikulation an preußischen Universitäten", "Zeitschrift und Gesellschaft ethische Kultur 1931 – 1936" und "Aus den Memoiren des Dr. Heinrich Lux – der Zeitraum 1863 bis 1909". Sie stehen auf den Seiten des Rowohlt Verlags zum kostenlosen Download bereit unter: www.rowohlt.de

AVIVA-Tipp: Hilde Schramms Anliegen war es, mit ihrer Recherche, die nun mit diesem Buch der Öffentlichkeit zugänglich ist, ihrer Lehrerin ein ehrendes Gedenken zu geben, ohne sie auf ihre jüdische Herkunft und ihre daraus folgende Geschichte unter der NS-Herrschaft zu reduzieren. Das ist ihr gelungen, mehr noch – durch ihre intensive Arbeit und ihre Beharrlichkeit, sich durch ein Wirrwarr von Daten hindurchzuarbeiten, gibt sie nicht nur Dr. Dora Lux ein Gesicht, sondern auch denen, die bis heute in Vergessenheit geraten sind und es wohl auch für immer bleiben werden.

Hilde Schramm - Meine Lehrerin, Dr. Dora Lux
1882-1959. Nachforschungen

Rowohlt, erschienen April 2012
Hardcover, 432 Seiten, mit Lesebändchen
19,95 Euro
ISBN 978-3-498-06421-1




(Quelle: © Hilde Schramm, Sharon Adler)


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Beitrag vom 15.05.2012

Sharon Adler