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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 20.06.2012


Nadeschda Mandelstam - Erinnerungen an Anna Achmatowa
Dana Strohscheer

Die Chronistin Mandelstam und die russische Dichterin Anna Achmatowa verband vier Jahrzehnte eine unerschütterliche Freundschaft, der auch stalinistischer Terror und Krieg nichts anhaben konnten.




Erst vor kurzem wurden im Nachlass der 1980 in Moskau gestorbenen Nadeschda Mandelstam ihre Erinnerungen an die Poetin Anna Achmatowa entdeckt. Diese zeigen ihren ganz persönlichen Blick auf eine unkonventionelle Frau, große Künstlerin und aufrichtige Freundin.

Blütezeit der Poesie in Russland

Die russische Dichtkunst erlebt Anfang des 20. Jahrhunderts einen Höhepunkt. Sie geht als das Silberne Zeitalter in die Literaturgeschichte ein. Anna Achmatowa (1899-1966) ist in den Petersburger Salons jener Zeit keine Unbekannte mehr, ihr Stern leuchtet bereits am Dichterhimmel. Der jüdische Poet Ossip Mandelstam lebt derweil im Untergrund und verkehrt ebenfalls in den Künstlerlnnenkreisen der Stadt. Ihn und Anna Achmatowa verbindet bereits eine tiefe Freundschaft. Nach ihrer Heirat lernt auch Nadeschda Mandelstam die Dichterin kennen und knüpft erste freundschaftliche Bande mit ihr, geprägt von Leichtigkeit und intellektuellen Diskussionen. Auch wenn Nadeschda Mandelstam anfangs nur als die Frau an der Seite ihres Mannes wahrgenommen wird, ist sie doch vielmehr, nämlich eine exzellente Theoretikerin die den Austausch mit der Dichterin sucht.

Gemeinsam mit Achmatowas erstem Ehemann Nikolai Gumiljow begründen sie die literarische Richtung des Akmeismus, dessen unbeugsame VertreterInnen Achmatowa und Ossip Mandelstam werden. Die Gruppe entscheidet sich bewusst gegen den vorherrschenden Symbolismus der Zeit und dessen metaphysische Tendenzen, der Akmeismus steht für Klarheit und Nüchternheit, für eine Rückkehr zur "eigentlichen" Sprache. Mit dieser künstlerischen Opposition setzen sich Ossip und Achmatowa öffentlichen Anfeindungen aus.

Verfolgung und Repressalien

Gumiljow wird 1921 als "Konterrevolutionär" verurteilt und getötet. Auch der Sohn von Achmatowa und Gumiljow, Lew Gumiljow, wird in den nächsten Jahren mehrmals in Lagern inhaftiert, um die Mutter mundtot zu machen und sie davon abzuhalten, etwas "Falsches" zu publizieren.
In ständiger Angst um ihren Sohn lebend, klammert sich Achmatowa an ihre Freundin Nadeschda und tauscht sich mit ihr aus. Auch diese ist vom stalinistischen Terror betroffen: Ihr Ehemann kommt, ebenfalls als "Konterrevolutionär" verurteilt, 1938 in einem sowjetischen Lager um. Daraufhin macht es sich Nadeschda Mandelstam zur Lebensaufgabe, die Dichtungen ihres Mannes zu bewahren. Sie lernt dessen gesamte Werke auswendig, fertigt handschriftliche Kopien an und versteckt diese bei FreundInnen. Achmatowa veranlasst dies zu der bewundernden Aussage: "Nadenka, mit Ossja ist alles in Ordnung. Er braucht Gutenberg nicht."

Die beiden Frauen verbindet die immer drohende Verhaftung eng. Nadeschda Mandelstam schildert die Situation, in der sich die Frauen und die Gesellschaft insgesamt in den 1930er Jahren befanden: "Frauen gingen weit weniger deformiert aus diesen Prüfungen hervor als Männer (...) obwohl auch sie geschlagen und mit Hunger und Schlafentzug gequält wurden. Sogar ihre Lagerzeit ertrugen sie standhafter als Männer."
Diese in Schonungslosigkeit und Offenheit dargelegten Gedanken finden sich immer wieder in Mandelstams Einschätzung der Terror- und Kriegsjahre zwischen 1920 und 1953. Gemeinsam mit der Dichterin widersetzt sie sich immer wieder dem staatlichen Zugriff.

Für Achmatowa ist Nadeschda Mandelstam nicht nur eine enge Freundin, sondern auch deren Bezugsperson zum Dichter Mandelstam: "Jetzt sind Sie alles, was uns von Ossip geblieben ist. Das beschreibt Ihr Verhältnis zu mir am besten."
Dieses Verhältnis sieht Nadeschda selbst ganz anders. Im Laufe der Jahre hat sie sich als eigenständige Person etabliert, mit eigenen, scharfsinnigen Einschätzungen zu Kunst und Literatur und der sowjetischen Gesellschaft. Sie sieht sich selbst nicht als "Sekretärin" ihres Mannes, sondern vielmehr als Bewahrerin seines Werkes.

Die Angst vor klaren Worten

Nach Kriegsende wird Achmatowa mit einem Publikationsverbot belegt, sie wird verunglimpft, ihre Gedichte werden als bourgeois und antisowjetisch gebrandmarkt. Sie wohnt bei FreundInnen, ihr Sohn bleibt weiter inhaftiert, um die Dichterin ruhig zu stellen. Was die Machthabenden als so gefährlich an ihr ansehen, beschreibt Nadeschda Mandelstam so: "Sie riss überall die Hüllen des Anstands ab und nannte die Dinge unverblümt beim Namen... ich erkannte, dass die Analyse das wesentliche Strukturelement ihres Denkens ist". Dies konnte unbequem und gefährlich werden. Mit ihrer wahrheitsgetreuen Ausdrucksweise stellte sich Achmatowa gegen die Täuschungen der offiziellen Parteipropaganda. Gleichzeitig litt sie unter der künstlerischen Ausgrenzung. Dies alles fasst Nadeschda Mandelstam in einem einzigen Satz zusammen: "Sie fand die Kraft, Frau und Dichterin zu sein, aber beides kam sie teuer zu stehen"

Die Autorin zeichnet ein liebevolles Bild der Dichterin. An manchen Stellen wird jedoch auch das vereinnahmende Wesen Achmatowas deutlich: "Sie wollte uneingeschränkt über alle Menschen aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verfügen. Wäre sie nicht gewesen hätte ich die schrecklichen, finsteren Jahre nicht ertragen." Dies ist Freundschaftserklärung und Einschränkung zugleich, denn Achmatowa ließ niemanden neben sich gelten. So beschreibt Nadeschda Mandelstam lakonisch, wie sie des Öfteren Einladungen von gemeinsamen Bekannten absagte, um ihrer Freundin nicht den Spaß zu verderben. Anna Achmatowa stand gern im Mittelpunkt. Drang eine andere Frau in den inneren Kreis Nadeschda Mandelstams vor, so wurde diese von der Dichterin eifersüchtig beäugt. Doch macht die Chronistin auch deutlich, wie sehr Achmatowa sie prägte: "A.A. versteckte nicht ihre Seele - um mir das einzugestehen brauchte ich dreißig Jahre nächtlicher Grübeleien und bitterer Einsamkeit ...Sie war Taube und Raubtier und die eifersüchtigste und vorbehaltloseste Freundin, die ich je hatte."

Durch und durch wertend und klar die eigene Meinung vertretend (so spricht Nadeschda Mandelstam durchweg abfällig von den russischen Symbolisten und lässt neben Achmatowa und ihrem Mann niemanden außer Boris Pasternak gelten), geben ihre Worte dem Buch eine Kraft und Intensität, die von der ersten Seite an beeindruckt. Weder chronologisch geordnet noch einem klassischen Erzählmuster folgend springt die Autorin von Thema zu Thema. Dies setzt eine gewisse Kenntnis der russisch-sowjetischen Geschichte und Literaturgeschichte voraus, um mit den Abkürzungen und Personenbeschreibungen etwas anfangen zu können. Allerdings wird Vieles durch die Fähigkeit der Autorin, zu abstrahieren, aufgewogen.

Zur Autorin: Nadeschda Mandelstam, als Nadeschda Jakowlewna 1899 in Saratow in einer jüdischen Familie geboren, heiratete im März 1922 den ebenfalls jüdischen Dichter Ossip Mandelstam. Im Mai 1938 verhaftete ihn die sowjetische Staatsmacht wegen konterrevolutionärer Aktivitäten, kurz darauf starb er in einem Übergangslager. In den 1960er Jahren begann Nadeschda Mandelstam ihre Erinnerungen an Ossip Mandelstam aufzuzeichnen. "Das Jahrhundert er Wölfe" erschien1970 in Amerika und London, Übersetzungen in viele europäische Sprachen folgten. 1970 schloss die Chronistin ihre Arbeit am Folgeband "Generation ohne Tränen" ab, der die literarische Entwicklung in der Sowjetunion zum Thema hatte. Ein drittes Buch blieb unvollendet. Ihm sind die Erinnerungen an Anna Achmatowa entnommen. Nadeschda Mandelstam starb 1980 in Moskau. (Verlagsinformationen)

AVIVA-Tipp: Dieses aufwendig gestaltete Buch mit teilweise bislang unveröffentlichten Fotos wird durch Kommentare des Mandelstam-Forschers Pawel Nerler detailreich ergänzt. Auch wer nicht zum Kreis der KennerInnen der russischen Dichtung des 20. Jahrhunderts gehört, kann sich an den klugen und pointierten Aussagen Nadeschda Mandelstams erfreuen und noch einmal das Bild der großen russischen Dichterin auferstehen lassen. Gleichzeitig ist "Erinnerungen an Anna Achmatowa" ein eindringliches Manifest für die Freiheit des Geistes und des Wortes. Es macht auch in unserer Zeit deutlich, welch hohes Gut die Meinungs-, Presse- und Publikationsfreiheit ist.

Nadeschda Mandelstam
Erinnerungen an Anna Achmatowa

Mit einem Vorwort und Kommentar von Pawel Nerler
Originaltitel: Nadezda Mandelstam, Ob Achmatovoi
Aus dem Russischen von Christiane Körner
Suhrkamp Verlag, erschienen am 24. November 2011
Gebunden, 206 Seiten
ISBN-10: 3518224654
ISBN-13: 978-3518224656
18,90 Euro
www.suhrkamp.de

Weitere Informationen finden Sie unter:

www.fembio.org über Anna Achmatowa

www.fembio.org über Nadeschda Mandelstam

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