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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 23.08.2012


Elena Chizhova - Die stille Macht der Frauen
Dana Strohscheer

Susanna ist sechs Jahre alt, ein waches und aufmerksames Mädchen. Sie beobachtet die Welt um sich herum sehr genau und verständigt sich durch Mimik und Gestik. Denn sie hat seit ihrer Geburt...




...noch kein Wort gesprochen. Ihre Mutter Antonina ist überzeugt, dass Susanna irgendwann reden wird, auch wenn die Hoffnung langsam schwindet.

Das Prekäre an der Situation: Mutter und Tochter leben im sowjetischen Leningrad der 1960er Jahre. Die staatlichen Zugriffsmöglichkeiten sind zahlreich - bereits in Kindergarten und Schule wird Einfluss auf die Erziehung zu künftigen StaatsbürgerInnen im sozialistischen Kollektiv genommen.

Privatsphäre und persönliches Miteinander in der Sowjetunion

Antonina wuchs in einem Dorf auf und kam wie viele junge Menschen in die Stadt, um zu arbeiten. Ein älterer Mann verführte sie, ohne sich um die Folgen zu kümmern. Mit der Geburt ihrer unehelichen Tochter ergab sich für Antonina die Möglichkeit, aus ihrem ArbeiterInnenwohnheim in eine "kommunalka", eine Gemeinschaftswohnung zu ziehen, in der mehrere Familien jeweils ein Zimmer bewohnen. Dies sollte von staatlicher Seite dem Wohnungsmangel in den Städten entgegen wirken. Gleichzeitig bedeutete es für die Menschen aber auch den Verlust jeglicher Privatsphäre, gegenseitige Bespitzelung unter den BewohnerInnen war an der Tagesordnung.

Die junge Mutter hat jedoch Glück: in ihrer kommunalka wohnen drei alte Frauen (babuschki), die sich der Frau und deren Tochter annehmen. Denn Antonina befürchtet, dass ihre Tochter wegen der "Sprachlosigkeit" in einem Heim oder Krankenhaus behandelt werden soll und möchte dies um jeden Preis verhindern. Während Antonina arbeiten geht, übernehmen die babuschki die Betreuung des kleinen Mädchens. Als Gegenleistung verpflichtet sich Antonina, sich um die Greisinnen zu kümmern und sie zu versorgen.

Susannas Erziehung erfolgt jedoch entgegen dem sowjetischen Leitbild: da die drei Damen selbst gebildet sind und im adeligen, vorrevolutionären Russland aufwuchsen, bringen sie dem Mädchen die französische Sprache bei, führen sie ins Theater und taufen sie heimlich auf den biblischen Namen der heiligen Sofia. Damit setzen sie das Kind einer großen Gefahr aus, denn in der Sowjetunion wurden religiöse Handlungen streng verfolgt. Susannas Schweigen kommt ihnen somit entgegen.

Doch dann geschieht das Unglück: Antonina erkrankt unheilbar an Krebs. Die drei alten Frauen setzen nun alle Hebel in Bewegung, um das Kind dem staatlichen Zugriff zu entziehen, gehen dabei äußerst erfinderisch zu Werke und lassen sich nicht einschüchtern.

Lebenswirklichkeit und Zukunftsglaube

In ihrem Roman fängt die Gewinnerin des russischen Booker-Prize 2009, Elena Chizhova, die Lebenswirklichkeit in der Sowjetunion authentisch ein. Eindringlich und trotzdem beiläufig schildert sie den Alltag der BewohnerInnen, die immense Aufbauarbeit, welche die Menschen nach Kriegsende leisteten, aber auch die Schrecken des stalinistischen Terrors, die im Schweigen der älteren Generation nachwirken. Die schwierige Versorgungslage der StädterInnen und das Streben nach dem kleinen persönlichen materiellen Glück kontrastiert sie mit absurden bürokratischen Bedingungen. So werden in Antoninas Betrieb Listen für die Ausgabe von Fernsehgeräten erstellt, in die sich alle eintragen müssen, ohne dass es jemals genügend Geräte geben wird, um die Nachfrage zu befriedigen.

Aus unterschiedlichen Perspektiven - mal aus Sicht des Kindes, mal aus Sicht der Mutter oder einer der babuschki webt Chizhova einen vielschichtigen Erzählteppich, der mehr verschweigt, als er Preis gibt. Diese Verschlossenheit drückt sich auch in der Sprache aus - rau und schnörkellos berichten die Figuren über ihre Gefühlswelten und Erlebnisse. Gerade daraus bezieht das Buch seine Spannung und lässt die LeserInnen die Angst vor Verrat oder Repressionen nachempfinden. Gleichzeitig macht diese Erzählung deutlich, dass menschliche Würde auch in totalitären Systemen möglich und notwendig ist. Ja, die Macht der Frauen ist still - aber dafür umso wirkungsvoller.

Zur Autorin: Elena Chizhova, 1957 in Leningrad geboren, studierte Wirtschaftswissenschaften und war an der Universität und in der freien Wirtschaft tätig, bevor sie sich Mitte der neunziger Jahre dem Schreiben zuwandte. Ihre bislang sieben Romane wurden mehrfach ausgezeichnet, für "Die Stille Macht der Frauen", der jetzt erstmalig auf Deutsch erschienen ist, erhielt sie 2009 den angesehenen russischen Booker-Prize. Chizhova ist Vorsitzende der St. Petersburger Sektion des PEN-Clubs. (Quelle:Verlagsinformationen)

Zur Übersetzerin: Dorothea Trottenberg studierte Slawistik in Köln und Leningrad. Sie arbeitet als Bibliothekarin und als freie Übersetzerin klassischer und zeitgenössischer russischer Literatur, unter anderem von Michail Bulgakov, Nikolaj Gogol, Vladimir Sorokin, Lev Tolstoj, Ivan Turgenev und Ivan Bunin. 2007 wurde sie mit dem Cristoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis ausgezeichnet. Im Oktober 2012 erhält sie den Paul-Celan-Preis für ihre Arbeit. (Quelle:Verlagsinformationen)

AVIVA-Tipp: Sprachlosigkeit als Form des passiven Widerstands gegen ein repressives System - mit diesem Buch nimmt Elena Chizhova die LeserInnen mit in eine Zeit, die von der Sehnsucht nach dem Unangepassten geprägt war. Sie zeigt, dass es auch aus der Überwachung in der Sowjetunion Auswege gab und Individualität und Humanität sich durchsetzen konnten, wenn auch unter großen Gefahren.

Elena Chizhova
Die stille Macht der Frauen

Originaltitel: Vremja ženšèin
Aus dem Russischen übersetzt von Dorothea Trottenberg
DTV premium, erschienen Juni 2012
Broschiert, 280 Seiten
ISBN: 978-3-423-24919-5
14,90,- Euro
www.dtv.de

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Beitrag vom 23.08.2012

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