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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 14.09.2012


Sibylle Berg - Vielen Dank für das Leben
Marie Heidingsfelder

Die Hölle sind die Anderen - Und Sibylle Berg zeigt, warum. Zynisch, grausam und gleichzeitig unglaublich zärtlich führt ihre Geschichte von Toto nachhaltig vor, wie schlecht die Welt ist. Und...




...wofür es sich trotzdem zu leben lohnt.

Die Welt

Sie sind zufrieden mit Ihrem Leben? Sie denken, die Gesellschaft ist auf einem guten Weg? Sie halten die Erde für einen lebenswerten Planeten? Herzlichen Glückwunsch. Bewahren Sie sich ihren Optimismus, kaufen Sie ein Sachbuch zur Rosenzucht und verzichten Sie auf dieses Buch, dessen Titel Sie sofort angesprochen hat. Denn "Vielen Dank für das Leben" eignet sich weder ein für sorglose Strandnachmittage, noch als kreatives Muttertagsgeschenk. "Vielen Dank für das Leben" ist eine zynische Abrechnung mit der modernen Gesellschaft, ihrer Entwicklung und ihren Mitgliedern: So pessimistisch, so schonungslos und so dystopisch, dass mensch sie fast übersieht, die kleinen Momente des Glücks – die winzigen Inseln der Zufriedenheit, während die Welt in einem gewaltigen Strom den Bach runter geht.

Toto

In diese Welt der Kälte, in der sich die Menschen und Gebäude hauptsächlich durch die Facetten ihrer Grautöne unterscheiden und in der nur die Pfützen glänzen, schickt Frau Berg ihre Protagonistin. Oder auch Protagonisten, denn Toto ist, wie der Arzt nach der Geburt mit einem leichten Ekel feststellt, ein Nichts: Geschlechtlich nicht eindeutig bestimmbar und seiner Umwelt damit so wenig sympathisch wie ein Alien.
Und wie von einem fremden Planeten bewegt sich das Wunder Toto auch durch die Umwelt, die das Schicksal ihm/ihr beschert hat: Eine alkoholkranke Mutter, die Kindheit in einem Heim der DDR, die Jugend als unbezahlte Arbeitskraft, die zufällige Flucht in den Westen und das ständige AußenseiterInnendasein zwischen schlechten Jobs, schlechteren Wohnungen und ganz schlechten Menschen – Toto begegnet allen metaphorischen und tatsächlichen Schlägen mit einem Sanftmut, die seine Mitmenschen im besten Fall zur Verachtung, im schlechtesten zur maßlosen Wut bringt. Zu groß, zu dick und jenseits des heteronormativen Rahmens ist Toto in den Augen ihrer/seiner Mitmenschen nichts wert – Grund genug, ihm oder ihr selbst die bescheidenen Momente des Glücks zu rauben.

Etwas Gutes

Die Wut und die Empörung, mit der Sibylle Berg teilweise sachlich-nüchtern, teilweise schrill überzeichnet die Entwicklungen und Ausformungen der Gesellschaft anklagt, ist zwar der lauteste, nicht aber der bestimmende Ton des Romans. Hinter all dem Schrecken, dem Ekel und der Gewalt wird "Vielen Dank für das Leben" vor allem von der großen Zärtlichkeit zu Toto getragen. Von dem Glauben an das Gute – oder zumindest an etwas Gutes.
"Ein erfahrenerer Mensch, als Toto es war, hätte sich zum Sterben hingelegt im Bewusstsein, dass er nichts verpasste, aber Toto glaubte noch an Wunder."

AVIVA-Tipp : Eine harte Gesellschaftsanalyse und eine zärtliche Außenseitergeschichte: "Vielen Dank für das Leben" ist ein Roman zum Haare Raufen, zum Lachen, zum Weinen, zum Verzweifeln und zum ganz leise Hoffen – wie eine moderne Kassandra steuert die Autorin zielsicher dem Untergang entgegen und nutzt die letzten scharfen Blicke um die Gesellschaft mit Intelligenz, Humor und Bosheit gründlich auseinander zu nehmen. Ein kraftvoller und kontrastreicher Roman, in dem die Meisterin der literarischen Hiebe und Tiefschläge ein weiteres Mal ihr Können beweist. Und ihre Romantik.

Zur Autorin: Sibylle Berg, geboren in Weimar, lebt heute in Zürich. Sie schreibt Romane, Theaterstücke, Essays und Kolumnen. Zuletzt erschienen "Das unerfreuliche zuerst – Herrengeschichten" (2001), "Ende gut" (Roman, 2004), "Die Fahrt" (Roman, 2007). 2008 wurde sie mit dem Wolfgang Koeppen-Preis ausgezeichnet. 2009 erschien ihr erster Roman bei Hanser: "Der Mann schläft." (Quelle: Hanser-Verlag)
Weitere Infos finden Sie unter: www.sibylleberg.ch und die Kolumne "Fragen Sie Frau Sibylle" auf: Spiegel Online

Sibylle Berg
Vielen Dank für das Leben

Hanser Verlag, 30. Juli 2012
Broschiert, 400 Seiten
ISBN: 978-3446239708
21,990 Euro
www.hanser.de









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Beitrag vom 14.09.2012

AVIVA-Redaktion