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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 25.04.2013


Karin Weimann - Sisyphos´ Erbe. Von der Möglichkeit schulischen Gedenkens
Dr. Martina Emme

Das 2013 im Lichtig Verlag erschienene Buch der Soziologin Karin Weimann untersucht die Herausforderungen, denen LehrerInnen in der schulischen Gedenkarbeit begegnen. Diese Publikation gibt ihnen..




... das Material für Lösungen an die Hand.

Warum heute noch Erinnern und Gedenken?
Wir leben in einer Zeit, in der allenthalben in Deutschland und im Ausland die Vorbildlichkeit der "Aufarbeitung" der deutschen Verbrechen belobigt wird.
Wir leben in einer Zeit, in der in "Sonntagsreden", Gedenkveranstaltungen, bei Preisverleihungen, auf Kongressen, in der Literatur, auf Theaterbühnen die deutschen Schuld bekannt, das "Nie-Wieder" beschworen wird.
Wir leben in einer Zeit, in der die Soziologin Dana Giesecke und der Sozialpsychologe Harald Welzer ex cathedra bestimmen, es sei heute nicht mehr nötig zu fordern, an den "Holocaust" zu erinnern, weil "niemand" einen Zweifel und die geringste Kritik daran habe und weil man heute nicht mehr so richtig wisse, wogegen eigentlich anerinnert werden solle.
In dieser Zeit, im Jahr 2013, erscheint das Buch "Sisyphos´Erbe. Von der Möglichkeit schulischen Gedenkens" von Karin Weimann.

Warum ein solches Buch?

Die Antwort der Autorin findet sich in der von Saul Friedländer so bezeichneten "paradoxen Entwicklung": Die intensive Beschäftigung mit den deutschen Verbrechen in der öffentlichen Gedenkkultur und der spürbar widerwillige Widerstand der Mehrheitsbevölkerung, der Alten wie der Jungen, zur persönlichen Auseinandersetzung mit der politischen und familiären Geschichte während der Zeit des Nationalsozialismus und dem beharrlichen Schweigen in den Familien nach 1945 bis in die Gegenwart.

Den Finger in die Wunde legen

Vor dem Hintergrund einer nunmehr sechzehnjährigen intensiven Gedenkarbeit anlässlich des 27. Januar, Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, in der Ruth-Cohn-Schule in Berlin-Charlottenburg, begründet die Soziologin Karin Weimann in neun unterschiedlich ausführlichen Essays, aufeinander bezogen und auch unabhängig zu lesen, ihr kritisches Anliegen, den Finger in eine noch immer blutende Wunde zu legen.

Zum Inhalt des Buches

Zu Beginn setzt sich die Autorin mit der Sprache als Instrument zur Verschleierung auseinander.
Sie schreibt an gegen die verbreitete Desavouierung der Moral.
In einem der Herzstücke der Arbeit, das Kapitel Komplementarität, weist sie auf die innere und äußere Bezogenheit der Zufügenden und Erleidenden hin – ungeachtet ihrer existentiellen Gegensätzlichkeit.
Die auf die Nachkommen einer schuldig gewordenen Gesellschaft gekommene Mit-Gift wird anhand der Auswahl von Beispielen "deutscher Mentalitätsbestände" zusammengetragen und kritisch kommentiert. Scharfzüngig. Mit spürbar wütendem Vergnügen an polemischer Zuspitzung.
Im Wissen um die Interdependenz – Drinnen ist wie Draußen - zwischen der Gesellschaft und ihren Subsystemen werden unter der Überschrift "Blinde Flecke" die Auswirkungen kultureller und politischer Ideologien auf Schule und der in ihr erfolgende Widerhall thematisiert.

Ein weiteres zentrales Kapitel beschreibt als Ergebnis blinder Flecke und Folge der weitergereichten Mit-Gift die (Ver)Weigerungen und deren Begründungen: gebetsmühlenartig vorgetragene Klagen von Schülerinnen/Schülern und Studierenden angesichts der Gedenk-"Zumutungen". Diese Klagen werden als vier Lamenti und zwei Dilemmata bezeichnet.
Drängende Intensität wird auch im Kapitel Plädoyer spürbar. Ungeachtet aller Widerständigkeiten, gereizter Zurückweisungen besteht die Autorin darauf: Es ist nicht vorbei. Nicht für die Überlebenden. Nicht für ihre Angehörigen. Nicht für deutsche Nachgeborene, auf die das barbarische Erbe gekommen ist.
Die an ihrer und einigen anderen Schulen erfahrenen "Widerstände und Konflikte" werden benannt, kritisch kommentiert und nach Lösungen zu deren Minderung gesucht.

Der sittliche Mensch fordert die Aufhebung der Zeit

Den Abschluss des Buches bildet das Kapitel "Ihr sollt die Wahrheit erben", in dem noch einmal die Notwendigkeit des Erinnerns und Gedenkens betont wird. Die Feststellung Dan Diners, das Leben nach Auschwitz werde so fortgesetzt, als habe sich das Ereignis nicht zugetragen, erleben Autorin und Rezensentin als einen der schlimmsten Sätze im Zusammenhang des Themas. Karin Weimann verbindet sich mit dem von ihr seit vielen Jahren hochgeschätzten und geliebten Autor Jean Améry:
"Recht und Unrecht des Menschen ist es, daß er sich nicht einverstanden erklärt mit jedem natürlichen Geschehen, also auch nicht mit dem biologischen Zuwachsen der Zeit… Sittliche Widerstandskraft enthält den Protest, die Revolte gegen das Wirkliche, das nur vernünftig ist, solange es moralisch ist. Der sittliche Mensch fordert Aufhebung der Zeit" (S. 321 im Buch)
Das ist die sich durch das gesamte Buch als "roter Faden" ziehende, bewegend-dringliche Forderung der Autorin Weimann.

Arroganz einer durch die "Gnade der späten Geburt" Verschonten?

"Ausgewogenheit", gar der Versuch zum "Verstehen" des Tuns und Unterlassens der Vorfahren finden sich in keinem Kapitel, auf keiner Seite des Buches. Die von vielen gestellte Frage: "Wie hätte ich mich verhalten?" veranlasst die Autorin zu keinem nachdenklichen Innehalten, keinem Selbstzweifel, denn diese Frage sei "irrelevant", diene sie doch zur "Ent-schuldung der Vorfahren. Wichtig ist für sie demgegenüber die Erkenntnis: Auch das eigene vermutete, wahrscheinliche Versagen hilft im moralischen Diskurs nicht.
Etliche Menschen werden diese Art der Auseinandersetzung mit Müttern und Vätern, Großmüttern und Großväter, anderen Verwandten als bornierte Attacke einer Angehörigen der Nachkriegsgeneration erleben, der die "Gnade der späten Geburt" unverdient zuteil wurde und sich anmaßt, in unbedrohter Zeit Abrechung zu halten.
Das Buch zeigt: Hier leidet und schreibt eine, die nicht allein Erfahrungen in schulischer Gedenkarbeit erworben hat, sondern die durch private Verbindungen mit Überlebenden und deren Nachkommen verstanden hat. Ihr Held ist Sisyphos – ein zu unsäglich absurdem Tun Verurteilter, der sein grausames Geschick in eine sinnvoll- unverzichtbare Lebensaufgabe verwandelt.

Am Ende stellt die Rezensentin und mit ihr gewiss viele andere die Frage: Was läßt sich "billigerweise" von einer Gesellschaft, einer Bevölkerung bei der Auseinandersetzung, der "Verarbeitung" dieses großen Menschenheitsverbrechens dauerhaft erwarten?

AVIVA-Tipp: Ich habe das Buch mit Spannung und anteilnehmender Sympathie gelesen, denn es stellt und beantwortet Fragen, die auch mich schon lange beschäftigen. Die von dem Buch ausgehenden Provokationen sind von vielen Menschen nicht leicht nachzuvollziehen, noch weniger hinzunehmen, am wenigstens wohl zu akzeptieren. Eine Debatte muss sich anschließen.
Ich wünsche dem Buch Verbreitung, denn es legt, ich wiederhole es, den Finger auf eine noch immer blutende Wunde.

Über die Autorin: Karin Weimann war fünfunddreißig Jahre Lehrerin in der Ausbildung zur Erzieherin/zum Erzieher für die Fächer Soziologie, Psychologie, Pädagogik und Politik. Sie versteht sich als Bewahrerin. Bewahrt wird die Erinnerung an die Verfolgten, Deportierten, Ermordeten. Bewahrt wird die Erinnerung an die inzwischen gestorbenen Gäste des Gedenktages 27. Januar. Gewürdigt werden die Überlebenden und ihre Nachkommen. Bewahrt wird auch - und dies mit eindrucksvoller Sorgfalt - das Engagement des Kollegiums und der Schülerinnen/Schüler/Studierenden der Ruth-Cohn-Schule, die sich in ihrer Mehrheit Jahr um Jahr auf den Gedenktag interessiert- anteilnehmend einlassen und ihn mitgestalten.

Über die Rezensentin: Dr. Martina Emme ist Gründungs- und Vorstandsmitglied von OnebyOne, Inc. (Berlin/Boston). Seit 1996 organisiert OnebyOne Dialogtreffen für Menschen aus Familien von Shoah-Überlebenden und Nazi-Familien. Die fünftätigen, einmal jährlich stattfindenden Treffen beginnen mit der Frage: "Welche Spuren hat es in meinem Leben hinterlassen, aus einer verfolgten oder einer verfolgenden Familie zu stammen?" Im Versuch, die jeweils fehlende Perspektive zu erfahren und sie sich und einander zuzumuten, entstehen Augenblicke zwischenmenschlicher Nähe, die die Gegenwart der Vergangenheit aushaltbarer machen können. Martina Emme ist Kontaktperson in Deutschland, sie führt die Dialoggruppen in Zusammenarbeit mit ihren Kolleg/innen aus den USA durch. Das Konzept von OnebyOne ist im Journal of Humanistic Psychology, Vol. 2, 1999 beschrieben.
Mehr Infos unter: www.one-by-one.org

Karin Weimann
Sisyphos´ Erbe. Von der Möglichkeit schulischen Gedenkens.

Herausgegeben von Nea Weissberg
Lichtig-Verlag, Berlin, Neuerscheinung Januar 2013
624 Seiten
ISBN: 978-3-929905-28-1
Preis: Euro 21,50
Informationen und Bestell-Möglichkeit unter: www.lichtig-verlag.de




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