Wiktoria Lomasko/ Anton Nikolajew - Verbotene Kunst. Eine Moskauer Ausstellung - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Buecher



AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 29.07.2013


Wiktoria Lomasko/ Anton Nikolajew - Verbotene Kunst. Eine Moskauer Ausstellung
Veronika Siegl

Gekaufte Zeug_innen, Segenssprüche, Drohungen, Gefühlsausbrüche. Was sich während des Prozesses gegen die Kuratoren der gleichnamigen Ausstellung ereignete, grenzt an ein tragikomisches Schauspiel ..




... ohne Happy End. Die zunächst nur auszugsweise in Zeitungen und Blogs veröffentlichten Gerichtsaufzeichnungen der Künstlerin Lomasko und des Journalisten Nikolajew sind nun als Buch in deutscher Übersetzung erschienen.

Inoffizielle Zensur

Justizia irrt mit verbundenen Augen durch das Gerichtsgebäude, das Gewand zerfetzt, der Rücken in blutigen Striemen, in der einen Hand eine Waage und in der anderen ein Plastikschwert. Es sind solche Performances der politischen Kunstgruppen Bombily, Woina und My, die den ersten Prozesstag am Taganer Bezirksgericht in Moskau prägen. Doch schon bald bevölkern die ewig betenden alten "Mütterchen" mit ihren Kreuzen, Bibeln und Ikonen den Gerichtssaal, während die Journalist_innen aus Platzgründen auf der Anklagebank hinter Gittern zusammengepfercht werden.

Auslöser für den Prozess war eine Ausstellung des Andrei-Sacharow-Zentrums in Moskau im Jahr 2007. Unter dem Titel "Verbotene Kunst" versammelten die Kuratoren Andrej Jerofejew und Juri Samodurow Werke, die aus russischen Galerien und Museen ausgeschlossen wurden, weil sie religiöse Symbole beinhalteten oder im politischen Sinn systemkritisch waren – Jesus als Micky Maus, eine mit Kaviar verzierte Ikone, sich küssende Polizisten, nackte Körper.

"Geistiges Gift"

Die orthodox-nationalistische Organisation Volkskirche klagte die Kuratoren wegen "Erregung nationaler und religiöser Feindschaft" an. Um die hundert Personen konnten sie als Zeug_innen mobilisieren, deren religiöse Gefühle durch die Ausstellung verletzt seien. Nein, selbst gesehen hätten sie Ausstellung nicht, erklären die "Statist_innen" und lesen die sich wörtlich wiederholenden Anschuldigungen von ihren schlecht versteckten Spickzetteln herunter. Fast harmlos wirken ihre Aussagen jedoch gegen die Wortmeldungen der aktiveren Mitglieder religiöser Vereinigungen. Priester Pawel Burow zitiert beispielsweise im Zeugenstand den umstrittenen Erzbischof von Konstantinopel mit den Worten "Schlag ihm auf den Mund, bis ihm alle Zähne ausfallen, und segne die Rechte".

Zwischen Comic, Reportage und Tagebuch

Wiktoria Lomasko und Anton Nikolajew begleiteten den einjährigen Prozess und dokumentierten mit Zeichnungen, Sprechblasen und Notizen nicht nur die Aussagen vor Gericht, sondern auch die Zwischenrufe sowie sämtliche Beobachtungen und persönlichen Erlebnisse außerhalb der Sitzungen. "I listened carefully to every word and every detail", so Lomasko in einem Interview mit dem Online-Magazin n+1. "At such moments, the excitement of the artist awakens in me, the excitement of someone who runs like a hound on someones trail without knowing how it will end."

Trotz der durchaus ernsten Situation wohnt den Ereignissen und Gesprächen auch etwas Komisches inne. Dieser Meinung scheint auch der Direktor des Moskauer Museums für zeitgenössische Kunst zu sein – "Können Sie mich nicht öfter einladen? Bei Ihnen ist es so lustig", meint er im Zeugenstand und lädt die Richterin im Gegenzug zu seiner Einzelausstellung ein – Sie verspricht zu kommen.

Inszenierung politischer Prozesse

In einem Nachwort zeichnet die Übersetzerin Sandra Frimmel klare Parallelen zu den Schauprozessen der frühen Sowjetzeit nach. Gerichtsverhandlungen gegen Künstler_innen, die vermeintlich religiösen und nationalen Hass schüren, sind jedoch erst seit den 1990er Jahren ein wachsendes Phänomen. Der wohl prominenteste ist der Prozess 2012 gegen die Punkband Pussy Riot, aber auch Samodurow stand bereits 2003 wegen seiner Ausstellung "Achtung, Religion!" vor Gericht. Damals verwüsteten orthodoxe Aktivist_innen sämtliche Kunstwerke, das Gericht schlug sich aber dennoch auf ihre Seite, schließlich sei durch deren Aktionen ein noch viel größerer (moralischer) Schaden verhindert worden. Den Vandalismus konnten Jerofejew und Samodurow durch diverse Vorsichtsmaßnahmen diesmal vermeiden, einen Prozess und eine Verurteilung (zu einer relativ niedrigen Geldstrafe) nicht.

AVIVA-Tipp: Mit ihren genauen Beobachtungen und sarkastischen Worten fangen Lomasko und Nikolajew auf eindrückliche Weise den skurrilen und spannungsgeladenen Prozessalltag ein. Sie machen deutlich, dass Zensur viele Gesichter hat und in Russland die nationalistisch-orthodoxe Rechte eine gefährliche Machtposition innehat.

Zur Autorin und Zeichnerin: Wiktoria Lomasko, geboren 1978 in Serpuchow, studierte Grafikdesign an der Moskauer Staatlichen Universität für Druckwesen. Sie arbeitet als freiberufliche Zeichnerin. Wiktoria Lomasko im Netz (nur auf Russisch)

Zum Autor: Anton Nikolajew, geboren 1976 in Nowosibirsk, studierte am Moskauer Gorki-Literaturinstitut Literaturkritik. Er arbeitet als Journalist und ist Mitbegründer der Künstlergruppe Bombily (Bombenleger).

Wiktoria Lomasko/ Anton Nikolajew
Verbotene Kunst. Eine Moskauer Ausstellung. Gerichtsreportage

Aus dem Russischen und mit einem Nachwort von Sandra Frimmel
Matthes & Seitz Berlin, erschienen 2013
171 Seiten, 150 Abbildungen, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 9783882219845
19,90 Euro
www.matthes-seitz-berlin.de

Weitere Informationen unter:

"Inside the Picture" – Interview mit Wiktoria Lomasko über die „Verbotene Kunst“-Prozesse

Internationales Comic-Festival Respect (Hintergrundinformationen zu Wiktoria Lomasko)

"Vorwurf: Gotteslästerung" (Die Zeit)

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Beitrag vom 29.07.2013

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