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Beitrag vom 06.03.2014
Sarah Moss - Schlaflos
Helga Egetenmeier
Liebevoll entspannt und gleichzeitig zäh hält die Wissenschaftlerin Anna an ihrem Erziehungskonzept fest. Obwohl der fehlende Schlaf sie an die Grenzen ihrer Kräfte bringt und sie deshalb um...
...ihren Job ringen muss. Mit dieser Ich-Erzählerin führt die Autorin Sarah Moss, wie ihre Protagonistin selbst Wissenschaftlerin, die LeserInnen in eine stürmische Geschichte um Kindererziehung und Geschlechterverhältnisse während eines Sommers auf einer rauen schottischen Insel."
Eine Insel für den Sommer
Die unbewohnte Insel Colsay ist Eigentum von Annas aristokratischem Ehemann Giles, samt Herrenhaus und einigen sanierungsbedürftigen Blackhouses. Dort erforscht er als Ornithologe einen Sommer lang eine Kolonie von Papageientauchern. Mit den gemeinsamen Kindern Raph (7 Jahre) und Moth (2,5 Jahre) begleitet ihn Anna, um dort als Oxford-Stipendiatin endlich ihr Buch "Wie gut war doch die Saatzeit meiner Seele": Die Erfindung der Kindheit und das Aufkommen von Institutionen im England des späten achtzehnten Jahrhunderts" zu Ende zu schreiben. Als sie beim Pflanzen eines Baumes eine stark verweste Kinderleiche entdeckt, ist ihr Interesse an der Geschichte der Insel geweckt.
Für ihren Roman recherchierte Sarah Moss ausführlich das karge Leben auf dem St- Kilda-Archipel, wie auch auf weiteren Inseln zwischen Schottland und Island. Als düsteren zweiten Erzählstrang bereitet die Autorin für die LeserInnen diese Vergangenheit anhand der Figur der Hebamme May Moberley auf, die wegen der hohen Kindersterblichkeit auf die Insel gesandt wurde. Heute ist die Inselgruppe St. Kilda aufgrund ihrer ungewöhnlichen Geschichte und als Brutplatz für Seevögel ein UNESCO-Weltkulturerbe und kann nur mit Genehmigung des National Trust of Scotland betreten werden.
Arbeit und Kinder - Ökonomie und Erziehung
In lebendigem Präsenz geschrieben, führt uns Sarah Moss mit der kämpferischen Anna in ihre Auseinandersetzungen zwischen akademischen Ansprüchen und Erziehungskonzepten, Landleben und städtischer Anonymität. Dabei verhandelt sie unspektakulär die Verwobenheit von den hier wie dort vorhandenen Patriarchatsvorstellungen, den daraus folgenden Jobmöglichkeiten und der Suche nach dem kleinen Glück in der Familie.
Durch Bemerkungen, wie die des Handwerkers Jake "Meine Frau würde meinen Handrücken zu spüren kriegen, wenn sie unsere so behandeln würde wie Sie diese kleinen Jungs." führt die Autorin eine Gegenposition zu der akademischen Mutter Anna ein, die sie klischeehaft einer anderen sozialen Schicht zuordnet. Diese unbeantwortet bleibende Zurechtweisung findet sich für Anna in weit bedrohlicher, jedoch weniger offensichtlicher Form bei dem Dekan ihrer Universität wieder: Frauen, die in der Wissenschaft Karriere machen wollen, haben keine Kinder oder ein Kindermädchen. Ihre Mutterschaft hindert Anna daran, an allen Verpflichtungen einer Stipendiatin teilzunehmen, sie sieht ihre geliebte Forschungstätigkeit zusammenbrechen und nutzt deshalb den Sommer auf der Insel auch als Flucht. Auf ein Jobangebot reagiert sie zuerst abweisend: "Ich würde die Stelle nicht kriegen. Es gibt zu viele Männer und kinderlose Frauen, die nach dem Seminar mit in die Bar gehen und die Wochenenden durcharbeiten.". Doch sie ringt sich letztendlich dazu durch, sich wenigstens zu bewerben.
Im Kontext von Lebenskonzepten
In die aus einem Blackhouse umgebaute Ferienwohnung mieten sich gegen Ende des Sommers die zwei Generationen ältere alkoholkranke Judith, die sich trotz abgeschlossenem Studium für ein Leben als Hausfrau und Mutter entschieden hat, mit ihrer achtzehnjährigen magersüchtigen Tochter Zoe und ihrem Mann Brian, einem angesehenen Herzchirurgen, ein. Die Gegensätze dieser weiblichen Lebensentwürfe verdeutlicht die Autorin durch die fast erwachsene Zoe, die so oft wie möglich vor ihrer reglementierenden Mutter zur verständigen Anna flüchtet. Deren Kinder Raph und Moth lieben sie und Anna bekommt dadurch Freiräume für ihre wissenschaftliche Arbeit. Doch da ist auch Judith, die ihre Karriere der Familie geopfert hat und arrogant und verzweifelt auf die gleichermaßen emotionalen Angriffe ihrer Tochter reagiert. "Eltern zu haben ist vielleicht nicht für jeden von Vorteil, aber da müssen wir alle durch." , sind Annas Gedanken, bevor sie Zoe bittet, sich doch mit ihrer Mutter auseinander zu setzen, statt in eine scheinbar heilere Welt zu flüchten.
Der Hintergrund: St. Kilda und Blackhouses
Während der ungefähr zweitausend Jahre dauernden Besiedelung der westlich von Schottland gelegenen Inseln, wohnten die Menschen die meiste Zeit in sogenannten Blackhouses. Diese massiven Steinhäuser bestanden aus einem einzigen Raum mit einer offenen Feuerstelle in der Mitte, in der die Familie zusammen mit ihren Tieren lebten. Da die Inseln sehr abgelegen sind, interessierte sich lange Zeit keine Monarchie und keine Regierung für die qualvollen Lebensbedingungen der BewohnerInnen. Wie wichtig ihr dieser historische Hintergrund für diesen Roman ist, dokumentiert Sarah Moss am Schluss ihres Buches mit ausgewählten und kommentierten Literaturhinweisen.
Weitere Infos unter: www.kilda.org.uk
AVIVA-Tipp: Sarah Moss ist eine Meisterin der Verquickung von Vergangenem mit Gegenwärtigem, so dass es eine Freude ist, den Gedanken und Gesprächen ihrer Protagonistin Anna zu folgen. Ihr Roman "Schlaflos" wird zu Recht von den LeserInnen und der Presse hoch gelobt. Welche über folgenden Satz genau so ernsthaft lachen kann wie ich, sollte das Buch unbedingt lesen: "Raph lag auf einem Haufen dreckiger Wäsche und las "Das Geheimnis glücklicher Kinder: Ein Elternratgeber für die neue Generation.
Zur Autorin: Sarah Moss wurde 1975 in Schottland geboren und promovierte an der Oxford Universität. Nach Stationen am University of Exeter's Cornwall Campus und an der Universität Island lehrt sie heute an der University of Warwick. "Schlaflos" ist ihr zweiter Roman und der erste, der auf Deutsch erscheint. Auf ihrer Webseite kündigt sie an, bereits an einer Fortsetzung zu arbeiten. Sarah Moss hat zwei Kinder. Am 11. März 2014 erscheint mit "Sommerhelle Nächte", ebenfalls im mareverlag, ein Reisebericht über ihren Aufenthalt auf Island.
Mehr Infos unter: www.sarahmoss.org
Die Ãœbersetzerin: Nicole Seifert, geboren 1972, studierte nach einer Ausbildung im S. Fischer Verlag Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften und Amerikanistik in Berlin. Seit ihrer Promotion lebt sie als freie Lektorin und Ãœbersetzerin in Hamburg.
Sarah Moss
Schlaflos
Originaltitel: Night Waking
Aus dem Englischen von Nicole Seifert
mareverlag, Hamburg, erschienen im Juli 2013
496 Seiten, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen
22,-- Euro
ISBN-13: 978-3-86648-177-0
www.mare.de