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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 03.09.2014


Marion Tauschwitz - Selma Merbaum. Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben. Biografie und Gedichte
Ramona Ambs

Wie Selma Merbaum wieder zu ihrem richtigen Namen kam, wie sie lebte und was sie bewegte, und was das alles mit ihren Gedichten zu tun hat, erzählt diese neue 350 Seiten starke Biografie.




"Friederika Merbaum hatte sich an jenem Dienstag auf den Weg in die "Maternitatea" gemacht. Dort sollte ihr erstes Kind zur Welt kommen. Kein leichter Entschluss- denn wer es sich leisten konnte, mied die Gebäranstalt..."

So beschreibt Marion Tauschwitz Selmas Start ins Leben.
Ein viel zu kurzes Leben. Denn Selma Merbaum, deren Gedichte heute zur Weltliteratur zählen, starb im Arbeitslager Michailowka in der Ukraine mit gerade einmal achtzehn Jahren. Ihre achtundfünfzig Gedichte, die sie selbst zu einem Buch zusammenband und mit dem Titel "Blütenlese" versah, waren ihrem Freund Lejser Fichmann gewidmet. Lejser war, wie Selma selbst, Mitglied der zionistischen Jugendgruppe Hashomer Hatzair, in der sich viele jüdische Jugendliche aus Czernowitz zusammenfanden. In "Gilu", - einem ihrer ersten Gedichte, beschreibt Selma die Zusammenkünfte der Gruppe : "alle lachen wir und alle singen und jubeln wir mit- und tanzen, tanzen - als gälte es unser Leben..."

Als Selma deportiert wurde, gab sie die Gedichte einem Freund, den sie bat, das Büchlein an ihre Freundin Else weiterzugeben, damit diese es Lejser geben könne. Lejser erhielt die Gedichte, gab das Büchlein jedoch an Else zurück, als er nach Palästina floh. Dort kam er jedoch nie an, weil das Schiff, mit dem er in die Freiheit wollte, torpediert wurde. So kam Selmas Blütenlese zurück zu Else, die es quer durch Europa trug und schließlich bis nach Israel mitnahm. Dort wurden die Gedichte erstmals 1976 von Hersch Segal, einem Lehrer Selmas, veröffentlicht. Ihren Weg nach Deutschland fanden sie erst in den achtziger Jahren, und richtig bekannt wurden sie vor allem durch David Klein, der im Jahr 2005 Selmas Gedichte vertonte.

Besonders wertvoll wird diese neue Biografie durch die akribische Recherchearbeit der Autorin. Sie hat Archive durchforstet, Bilder gesammelt und ZeitzeugInnen gehört, die zuvor noch niemand befragt hatte. Auf diese Weise gelang es ihr zum einen, Neues und Unbekanntes aus Selmas Leben zu beleuchten, zum anderen ein wichtiges Missverständnis aufzuklären: Selma Merbaum hieß niemals Selma Meerbaum-Eisinger. In keinem einzigen Dokument- vom jüdischen Geburtsregister über Schulzeugnisse bis hin zur Deportationsliste - war sie je Meerbaum-Eisinger. Stets hieß sie nur Selma Merbaum, was auf ein tropisches Gehölz (Merbau(m)) zurückzuführen ist. Den Namen ihres Stiefvaters Eisinger trug Selma nie. So hat Tauschwitz´ Recherche dazu geführt, dass Selma nun endlich wieder ihren eigenen richtigen Namen zurückbekommen hat. Und nicht nur ihren Namen, sondern auch ein Gesicht. Ein Gesicht, eine Persönlichkeit, die noch viel mehr erzählt, als das, was wir aus ihren Gedichten kennen. So erfahren wir, dass Selma am liebsten die Fächer Rumänisch, Chemie und Mathematik geschwänzt hat, dass sie gerne einen Bubikopf getragen hätte, ihre Mutter jedoch auf geflochtenen Zöpfen bestand. Wir erfahren, dass sie gerne nachts bei Dunkelheit spazieren ging und dass sie stundenlang ihrer Freundin Renee beim Klavier- spielen zuhören mochte.

Es sind oft die kleinen Anekdoten und Erzählungen in dem Buch, die Selma so lebendig werden lassen. Wie beispielsweise die Ausflüge mit ihrem Großcousin Paul Celan, bei der sie die Bukowina durchstreiften und die "betrunkene Kirche", wie die St. Nicholas Kathedrale, wegen ihrer schiefen blauen Türme, genannt wurde, betrachteten. Und immer wieder bindet Tauschwitz Teile der Gedichte in die Schilderungen mit ein. Vom Shabbat bei der Großmutter: "und auf dem schwarzen kleinen Tische, liegt still das Deckchen dünn und zart, wie Duft", über "Gilu" bei HaShomer Hatzair, den schönen impressionistischen Naturgedichten, die sie auf ihren Spaziergängen begleiten, - bis hin zu den Schrecken der Pogrome:

Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und haßen
und möchte den Himmel mit Händen faßen
und möchte frei sein und atmen und schrei`n.
…
Ich will nicht sterben. Nein:
Nein.


Tauschwitz lässt Selma durch ihre Gedichte sprechen, ordnet sie biografisch an die richtige Stelle und interpretiert sie in einer Sprache und Form, die sich vollständig auf Selma einlässt. Und so gelingt es ihr, Selmas Persönlichkeit spürbar zu machen: ihre Sinnlichkeit und Melancholie, ihre Wachheit und ihren Mut, aber auch ihre Angst und ihre Sehnsüchte. Die Leserin kommt Selma so nah wie nie zuvor, lebt Zeile für Zeile ihr Leben nach...

Zur Autorin: Marion Tauschwitz, Jahrgang 1953, studierte Germanistik und Anglistik in Heidelberg. Vor ihrer Schriftsteller-Tätigkeit arbeitete sie als Gymnasiallehrerin und Dozentin. Tauschwitz war engste Vertraute und Mitarbeiterin der Lyrikerin Hilde Domin (1909–2006), deren viel beachtete Biografie »Hilde Domin. Dass ich sein kann, wie ich bin« sie zu deren einhundertstem Geburtstag vorlegte. Marion Tauschwitz lebt und arbeitet in Heidelberg.
Mehr Informationen zu Marion Tauschwitz unter:
www.marion-tauschwitz.de

AVIVA-Tipp: Und deshalb ist diese neue Biografie auch ein unfassbarer Schatz für alle, die sich bisher (nur) von Selmas Gedichten berühren ließen. Es ist überdies aber auch eine sehr interessante Lektüre für alle, die sich für das jüdische Czernowitz interessieren, für seine Kultur und seine kleinen verborgenen Geschichten und dafür, wie all dies durch die Shoa zerstört wurde.

Marion Tauschwitz
Selma Merbaum - Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben

Biografie und Gedichte. Mit einem Vorwort von Iris Berben
zu Klampen! Verlag
Mit zahlreichen Abbildungen
Hardcover mit Schutzumschlag, 350 Seiten
Format: 12.5 x 20.5 cm
Erscheinungstermin: August 2014
ISBN 9783866744042
www.zuklampen.de


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