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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 10.11.2014


Lily Brett - Immer noch New York
Claire Horst

Ebenso viel wie über New York erzählt die jüdisch-amerikanische Autorin in diesen Kolumnen über sich selbst, über ihre Marotten und die ihrer Bekannten. Der Trend zur Wahrsagerin oder plötzliche...




... Gelüste nach Strudel werden dabei ebenso leichtfüßig zu Geschichten verarbeitet wie ihre dramatische Familiengeschichte.

Der Mann mit dem Papagei auf dem Kopf, der abweisende und strenge Schuhmacher oder die Obdachlose mit dem "enzyklopädische(n) Wissen über amerikanische Filme", Lily Bretts Figuren sind skurril und vielschichtig – eben genau wie in der Wirklichkeit. Ihr Blick auf ihre Umgebung ist präzise, aber nie verletzend. Dazu ist ihre Liebe zu der Stadt New York und zu den Menschen, die darin leben, viel zu groß.

Ihre Liebe zum Detail macht diese Geschichten zu etwas Besonderem, die Präzision, mit der sie alltägliche Geschehnisse beobachtet und zu Literatur werden lässt. So widmet sie eine ganze Seite dem Streit zwischen zwei Unbekannten um die Sechzig, die sie auf der Straße sieht.

"Nun sah der Mann aus, als flehte er sie inständig an. Sie schüttelte sehr entschieden den Kopf. Beide waren inzwischen regennass. Plötzlich fiel der Mann auf die Knie. Er hob die gefalteten Hände und sah zu ihr hoch. Mir war klar, dass er um Vergebung bat. Sie schüttelte wieder den Kopf und ging davon. Er blieb noch etwa eine Minute lang im Regen knien, bevor er aufstand und ihr nachlief."

Komik und leise Melancholie wechseln sich in den kurzen Texten ab. Eine der Kolumnen beginnt mit der Beschreibung einer grundlegenden Einsamkeit: "... Eine Einsamkeit, die so tief in meinem Inneren verwurzelt ist, dass sie sich ausnimmt wie ein Teil meines Kreislaufs oder meines Hörvermögens oder meiner Blutgefäße. Es ist kein gutes Gefühl." Die Unmöglichkeit, einen Glauben zu finden, der diese Einsamkeit lindern könnte, erklärt Brett mit der Erfahrung ihrer Eltern, die Auschwitz überlebt haben: "Das ist vergiftetes Erbe meiner Eltern, die jeder für sich beschlossen haben, Gott zu entsorgen, als sie in der chaotischen und karzinomatösen Welt von Auschwitz eingekerkert waren."

Aber, und das ist das Beeindruckende an den Texten von Brett, von der Beschreibung ihrer zahllosen Toten gelangt sie in nur zwei Sätzen zu dem Talent ihres fast hundertjährigen Vaters, das Leben zu genießen, zu flirten und jeglichen Opferstatus vollkommen von sich zu weisen. Sein Umgang mit seiner Bettlägerigkeit nach einem Unfall wird dabei zu einer Metapher für seinen Überlebens- und Genusswillen. Denn statt sich von seinen Pflegerinnen füttern und zu Übungen anhalten zu lassen, brummt er ihnen ein Gymnastikprogramm auf:

"Seine Pflegerinnen mussten sich auf sein Bett legen und die Beine in die Luft heben, zehnmal nacheinander, während er im Sessel saß und ihre Haltung und ihre Bewegungen korrigierte. `Drücken Sie die Knie durch`, rief er in regelmäßigen Abständen. Manchmal ging die Begeisterung mit ihm durch, und er schrie seine Anweisungen. `Heben Sie das Bein höher und halten Sie das Knie gut durchgedrückt`, schrie er mit dem Habitus und der Autorität eines gut ausgebildeten und erfahrenen Physiotherapeuten. (...) Als die Hüfte meines Vaters geheilt war, hatten beide Frauen mehr als zehn Pfund abgenommen."

AVIVA-Tipp: Komische bis banale Reflexionen über Alltagserscheinungen wie Hunde in Pullovern oder Pferde in luxuriösen Ställen wechseln sich ab mit Betrachtungen zum alltäglichen Antisemitismus oder dem immer noch grassierenden Sexismus in den Medien. Und dieser Wechsel ist positiv und negativ zugleich. Denn einerseits ist es sehr erfrischend, Bretts assoziativen Gedankengängen zu folgen. Andererseits wirken einige der Texte auch etwas belanglos. Nicht jede dieser kleinen Geschichten hätte unbedingt veröffentlicht werden müssen. Trotzdem lohnt sich die Lektüre schon aufgrund der Lacher, für die zumindest ein Teil der Geschichten sorgt.

Zur Autorin: Lily Brett wurde 1946 in Deutschland geboren. Ihre Eltern heirateten im Ghetto von Lodz, wurden im KZ Auschwitz getrennt und fanden einander erst nach zwölf Monaten wieder. 1948 wanderte die Familie nach Brunswick in Australien aus. Mit neunzehn Jahren begann Lily Brett für eine australische Rockmusik-Zeitschrift zu schreiben. Sie interviewte und porträtierte zahlreiche Stars wie Jimi Hendrix oder Mick Jagger. Heute lebt die Autorin in New York. In regelmäßigen Kolumnen der Wochenzeitung "DIE ZEIT" hat Lily Brett diese Stadt porträtiert. Sie ist mit dem Maler David Rankin verheiratet und hat drei Kinder. (Verlagsinformationen)

Die Autorin im Netz: www.lilybrett.com

Lily Brett
Immer noch New York

Aus dem amerikanischen Englisch von Melanie Walz
Suhrkamp, erschienen im Oktober 2014
Gebunden, 223 Seiten
ISBN: 978-3-518-42467-4
19,95 Euro

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Beitrag vom 10.11.2014

Claire Horst