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Beitrag vom 09.12.2008
Gisèle Freund. Photographien und Erinnerungen. Gisèle Freund. Ein Leben
Karolin Korthase
Am 19. Dezember 2008 wäre sie 100 Jahre alt geworden. Die Fotografin und Fotoreporterin Gisèle Freund beeindruckt nicht nur durch ihr Œuvre, sondern auch durch ihre bewegte Lebensgeschichte.
Mehrere Buchveröffentlichungen und Ausstellungen widmen sich in diesem Jahr ihrem Leben und Schaffen. Bettina de Cosnac hat im Arche Verlag das Porträt "Gisèle Freund. Ein Leben" veröffentlicht. Im Schirmer/Mosel Verlag ist die großformatige autobiographische Monographie "Gisèle Freund. Photographien und Erinnerungen" in Neuauflage erschienen. Und Jessica Backhaus, selbst Fotografin und Vertraute Gisèles, macht ihrer Mentorin mit einer Zusammenstellung eigener Fotos in "One day in November" (erschienen im Kehrer Verlag) ein posthumes Geburtstagsgeschenk.
Außerdem zeigt das Willy-Brandt-Haus in Berlin noch bis zum 18. Januar 2009 hundert ihrer Arbeiten, die vor allem aus dem Porträtwerk stammen. Im Stadtmuseum Berlin wird bis zum 8. Februar 2009 "Gisèle Freund. Wiedersehen mit Berlin 1957 - 1962" zu sehen sein.
Biographisches zur Künstlerin Gisèle Freund
Sie wurde am 19. Dezember 1908 in Berlin geboren und wuchs in einer wohlhabenden jüdischen Familie im Stadtteil Berlin-Schöneberg auf. Ihr Vater war Kunstsammler, ein Liebhaber der Romantik, der zahlreiche Originale, beispielsweise die "Kreidefelsen von Rügen" von Caspar David Friedrich besaß. Ab 1930 studierte Gisèle Freund in Frankfurt am Main bei Horkheimer und Mannheim (Frankfurter Schule) Soziologie und pflegte intensive Beziehungen zu Norbert Elias. Dieser machte die Amateurfotografin auf das bisher unberührte Feld der theoretischen Erforschung der Fotografie aufmerksam. Ihre Dissertation über die Anfänge der Fotografie und die Entwicklung der Reproduktionstechniken in Bezug zu gesellschaftlichen Verhältnissen ("La photographie en France au XIXe siècle") ist zu einem Standardwerk in der Fotografieforschung avanciert.
Nach der Machtergreifung Hitlers emigrierete die Jüdin nach Frankreich. Dort fand sie schnell Anschluss an den Kreis um Adrienne Monnier, eine Buchhändlerin, mit der sie eine langjährige und intime Freundschaft verband und die sie mit vielen französischen Intellektuellen bekannt machte und ihre Doktorarbeit ins Französische übersetzte. Schon während ihres Studium hatte Gisèle begonnen fotojournalistisch zu arbeiten. Es entstanden Fotoreportagen über Arbeitslose in Nordengland und Aufnahmen vom 1. Internationalen Schriftsteller-Kongress zur Verteidigung der Kultur 1935 in Paris. Ihre Leidenschaft galt jedoch einem anderen Genre: der Porträtfotografie. Obwohl sie mit den Aufnahmen von SchriftstellerInnen und KünstlerInnen, die sie aus dem Kreis um Monnier kannte, zunächst kein Geld machen konnte, verfolgte sie die Verfeinerung und Verbesserung ihrer fotografischen Fähigkeiten auf diesem Gebiet mit äußerster Akribie. Dass Gisèle Freund besonders gerne LiteratInnen porträtierte ist kein Zufall: Schriftstellerin zu werden war ihr Lebenstraum, der allerdings nie in Erfüllung ging, da sich die Jüdin nach der Flucht aus Deutschland im Jahre 1933, eines Sprach-Potpourris aus Deutsch, Französisch, Spanisch und Englisch bediente, aber zu ihrem eigenen Bedauern keine der Sprachen perfekt beherrschte.
Nach Einmarsch deutscher Truppen 1940 in Paris, floh sie zunächst aufs Land und dann nach Südamerika. Dort lebte und reiste sie und dokumentierte das Leben und die Kultur der Einheimischen. In dieser Zeit entstanden unter Anderem auch die weltberühmten Aufnahmen von der argentinischen Präsidentengattin Evita Perón und von den mexikanischen Künstlern Diego Rivera und Frida Kahlo.
Gisèle Freund hatte im Gegensatz zu vielen ihrer künstlerisch begabten Zeitgenossen nie gravierende Probleme, von ihrer Leidenschaft zu leben und wurde Zeit ihres Lebens gefördert. Diese herausgehobene gesellschaftliche Stellung und der selbstverständliche Kontakt und Umgang mit den Berühmtheiten ihrer Zeit ließ sie dennoch nicht die Bodenhaftung verlieren. Ein soziologischer, ethnographischer Blick blieb ihr zeitlebens eigen und bewahrte sie vor Eitelkeiten und Selbstüberhöhung.
Im Prozess der Herstellung eines Fotos war es ihr oberstes Anliegen, den Porträtierten keine vorgefertigte Idee eines Bildes aufzuzwingen, sondern ihre Anwesenheit als Fotografin vergessen zu lassen. Wie gut ihr das gelungen ist, bezeugt der Umstand, dass viele ihrer Fotografien im öffentlichen Gedächtnis präsent sind, aber nur Wenige ihren Namen kennen. Ihre zahlreichen Portraits von SchriftstellerInnen und ihre fotojournalistischen Reportagen machten sie als ´Die Frau mit der Kamera´ bekannt. Sie starb am 31. März 2000 in Paris.
"Gisèle Freund. Photographien & Erinnerungen"
Ein Blick, der sich ins Leere verliert, der entrückt, verträumt nach Innen geht. Es scheint, als fühlte sich Virginia Woolf unbeobachtet, als Gisèle Freund jene Aufnahme im Jahre 1939 von ihr machte, die sich KennerInnen der amerikanischen Schriftstellerin ins Gedächtnis gebrannt hat. Gisèle beschrieb die englische Schriftstellerin als "zerbrechlich, leuchtend-transparent, ..., die Inkarnation ihrer eigenen Prosa". Uns BetrachterInnen erscheint das Gesicht der Woolf als Spiegel eines von Depression und Melancholie gezeichneten Menschen, der sich, die Außenwelt vergessend, für einen winzigen Moment der Schutzlosigkeit preisgibt.
In dem vom Schirmer und Mosel Verlag herausgegebenen Foto- und Erinnerungsband sind neben einigen ausgewählten Aufnahmen aus den Fotoreportagen, die die Künstlerin für die Zeitschriften "Life" und "Time" schoss, eine beachtliche Sammlung ihrer Porträts veröffentlicht. Im Jahre 1985 erschien die autobiographische Monographie erstmals, in der mehr als 200 Aufnahmen aus fünf Jahrzehnten von der Künstlerin selbst ausgewählt, versammelt sind.
Zu den von ihr Porträtierten gehörten James Joyce, Bernhard Shaw, Simone de Beauvoir und Andrè Breton, um nur einige Wenige zu nennen. Um einen Zugang zu der Gedankenwelt und Geisteshaltung der LiteratInnen zu erlangen, las sie akribisch und mit kritischem Blick deren Werke. Sie war geübt im Warten und Beobachten und nicht selten verwickelte sie die oft Unnahbaren und Öffentlichkeitsscheuen in anregende Gespräche und schon war er da, der besondere Moment: Wenn alle Masken fallen und ein Blick, ein Zug um den Mundwinkel herum, ein gekräuselter Nasenrücken das Wesentliche eines Menschen freigibt. Dass diese Aufnahmen den Porträtierten nicht immer gefielen, erklärt sich von selbst.
Besonders spannend ist die Lektüre des Foto- und Erinnerungsbandes aufgrund der autobiographischen Bemerkungen, die vielen der Fotos beigestellt sind. Erläuterungen zu dem Schaffensprozess eines Bildes finden dabei ebenso Erwähnung, wie subjektive Eindrücke und Anekdoten. Dieses Bildtagebuch zeigt somit nicht nur einen umfassenden Ausschnitt aus dem Schaffen der Fotografin, sondern dokumentiert auch ein Stück Zeitgeschichte.
Gisèle Freund. Photographien & Erinnerungen
Schirmer/Mosel Verlag, erschienen November 2008
221 Seiten
ISBN 978-3829603997
49,80 Euro
www.schirmer-mosel.de
"Gisèle Freund. Ein Leben". Von Bettina de Cosnac
Bettina de Cosnac ist ein intimes und detailreiches Porträt über Gisèle Freund gelungen. Es wird spürbar, dass sich die beiden kannten – 1988 begegnete de Cosnac der Künstlerin erstmals auf der Terrasse des Martin-Gropius-Baus, um sie für eine Reportage zu interviewen.
Ihr Porträt wurde im Fortlauf der Recherche, wie sie selbst sagt, immer mehr zu einer "Lebensreportage", denn je tiefer sie in die Geschichte der Fotografin eindrang, desto faszinierter war sie von diesem "Tanz in vier Sprachen" und dem "Tête-à -tête mit den bedeutendsten Schriftstellern der Weltliteratur".
"Gisèle Freund. Ein Leben" ist chronologisch aufgebaut und beginnt mit Giseles Kindheit und Jugend in Berlin. Es folgen knappe und kurzweilige Kapitel, die de Cosnac nach einschneidenden und wichtigen Etappen und Personen in Gisèle Freunds Leben eingeteilt hat. Beigefügt sind bisher unveröffentlichte Bilder und Briefe der Fotografin, die sie von einer sehr privaten, alltäglichen Seite zeigen. Vollkommen unberührt lässt de Cosnac kunsttheoretische Diskurse über die fotografischen Arbeiten von Freund. Sie widmet sich ihrem Werk nur in Bezug zur Biographie und erzählt so beispielsweise Anekdoten und Begebenheiten mit den Persönlichkeiten, die Gisèle porträtierte. Dieser Ansatz ist erfrischend und wird dem Anspruch gerecht, den interessanten und bewegten Lebensweg der Künstlerin, obwohl Gisèle selbst sich nie als solche bezeichnet hätte, nachzuzeichnen und die LeserInnen mit auf eine Jahrhundertreise zu nehmen.
Bettina de Cosnac
Gisèle Freund. Ein Leben
Arche Literatur Verlag, erschienen September 2008
297 Seiten
ISBN 978-3716023822
24 Euro
www.arche-verlag.com
"One day in November". Fotografien von Jessica Backhaus
An einem Tag im November 1992 lernte die junge Fotografiestudentin Jessica Backhaus Gisèle Freund kennen. Es entwickelte sich eine Freundschaft, die bis zu Gisèles Tod im März 2000 andauerte und Backhaus nachhaltig beeinflusste. Der Fotoband "One day in November" ist eine Hommage der Schülerin, der Vertrauten an die Mentorin und Freundin, von der sie lernte, "dass es zwar notwendig ist, auch die technischen Aspekte zu beherrschen, das Wichtigste aber ist, mit dem Herzen zu fotografieren".
Die in dem Fotoband versammelten Motive zeigen ländliche Idylle, Kitsch, triste Vorstädte und Naturkompositionen. Was zunächst auffällt, sind die gleißenden Farben - das Spiel mit Licht und mit Widersprüchlichkeiten gehört zu den wichtigsten Elementen in Backhaus` Schaffen. So mutet es poetisch an, wenn die Trostlosigkeit eines brachliegenden Industriehofs durch die Widerspiegelung des blauen Himmels in einer Regenpfütze gebrochen oder in ein Stück Schönheit umgekehrt wird.
Backhaus inszeniert Kontraste, verbindet das Schöne mit dem Hässlichen. Oft ist es die Natur, die in unbehaust wirkende Gegenden einbricht und wie ein leiser Hoffnungsschimmer, ein Stück Leben erscheint. Besonders offensichtlich wird dies beispielsweise bei der Aufnahme eines blühenden Magnolienstrauchs vor einer Hochhausfassade.
Ist es nun Backhaus` Anliegen, die Wirklichkeit hinter dem Vordergründigen zu zeigen, oder geht es ihr um die pure ästhetische Lust an Kontrasten und Widersprüchlichkeiten? Was auffällt, ist ihre Liebe zum Detail, ihr Blick für Alltägliches, Unbeachtetes, Beiläufiges, das von ihr in Szene gesetzt, eine ganz eigene Bedeutungsdimension erhält. Dabei zwingt sie den BetrachterInnen keine spezielle Deutung auf, sondern schafft einen offenen Raum - für Melancholie und für Sehnsüchte nach dem Vergangenen, Vergänglichen, nach dem Schönen und dem Unschuldigen.
Auch wenn dieser Ansatz nicht besonders neu und aufrüttelnd ist, vermögen Jessica Backhaus` Aufnahmen zu fesseln. Wie schon bei ihrer Mentorin Gisèle Freund, besticht in ihren Fotos nicht die technische Versiertheit, sondern die Emotion, die durch die Bilder vermittelt wird.
AVIVA-Tipp: Wer den Fotoband "One day in November" in der Erwartung aufschlägt, die Hommage an Gisèle Freund sei gleichzeitig auch eine ästhetische Anlehnung an ihr Werk, wird enttäuscht werden. Jessica Backhaus hat ihren ganz eigenen fotografischen Blick und, im Gegensatz zu ihrer Mentorin, bisher nur wenige Porträtaufnahmen gemacht. Das, was Gisèle in den Gesichtern suchte, findet Jessica Backhaus in alltäglichen Dingen, in einer scheinbar unbewussten Anordnung von Objekten. Was beide eint, ist die Fähigkeit warten zu können – auf den besonderen Moment, in dem sich das Wesen des Fotografierten, die Ebene hinter dem Offensichtlichen herausschält.
Jessica Backhaus
One day in November
Kehrer Verlag, erschienen 2008
128 Seiten
ISBN 978-3868280227
58 Euro
www.jessicabackhaus.net
www.kehrerverlag.com
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Die Kunst des Sehens. Zum 100. Geburtstag von Gisèle Freund Zwei Ausstellungen widmen sich im Rahmen des Europäischen Monats der Fotografie dem Werk der Fotografin.