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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 07.05.2010


Ulrike Almut Sandig - Flamingos
Claire Horst

"Flamingos stehen in Gruppen, aber jeder Einzelne ist allein." Diese Beschreibung hat Sandig ihrem Buch als Motto vorangestellt, und sie trifft auf ihre ProtagonistInnen genau zu. Eine leise...




... Melancholie liegt über den Kurzgeschichten, die in dem Band versammelt sind.

Die 1979 geborene Ulrike Almut Sandig, bislang bekannt als Lyrikerin, hat als Absolventin des Leipziger Literaturinstituts lange an ihrer Sprache gefeilt. Und die Sprache ist es auch, die ihre Geschichten auszeichnet. Kein Wort zuviel, nur keine Aufregung, das scheint Sandigs Herangehensweise zu sein, und so werden auch die absurdesten Geschehnisse mit völliger Ruhe zur Kenntnis genommen. Ihre ProtagonistInnen sind BeobachterInnen ihres eigenen Lebens, ihnen geschieht etwas, ohne dass sie darauf Einfluss nähmen.

Zumeist sind es ganz gewöhnliche Dinge, mit denen sie sich herumschlagen. Im Großteil der Texte geschieht gar nicht viel. Jemand ist gestorben und wird beerdigt, ein Kind geht mit der Mutter und deren Freund spazieren, ein kleines Mädchen begrüßt die Schwester, die aus eine Klinik für Essstörungen zurückkehrt. Wie die Landschaften, in denen die Geschichten spielen (die sächsische Provinz), sind auch die Ereignisse zum großen Teil unspektakulär.

Selbst in denjenigen Geschichten, in denen sich Realistisches und Surreales treffen, bleibt die Sprache ruhig und unaufgeregt. Einer alten Frau wächst plötzlich ein drittes Auge auf der Stirn. Was folgt, ist ihr Rückzug. Wie die titelgebenden Flamingos verlässt sie sich nur noch auf sich selbst, zieht sich vor der Umwelt zurück, obwohl sie nun eine verschärfte Wahrnehmung hat, sehen kann, was weit entfernt liegt.

Und gerade diese Rücknahme, die unemotionale Erzählweise ist es, die die Leserin in einen eigentümlichen Sog zieht. Dorothea Kupic entdeckt, dass ihr Muttermal sich in ein Auge verwandelt hat. Man könnte vermuten, sie würde jetzt schreien, kreischen, zum Arzt laufen. Bei Sandig sieht das anders aus: "Drei Augen also. Na dann, murmelte sie und tappte ins Badezimmer, wo sie das Licht aus ließ und im Dunkeln ihre Zähne ins Glas legte. Trotzdem leuchtete ihr aus dem Spiegel das Blau ihres Stirnauges entgegen, bis sie die Badezimmertür resolut hinter sich schloss und zu Bett wankte. Dort lag sie lange auf dem Rücken."

Das Leben stößt den Menschen in Sandigs Geschichten einfach zu. Etwas geschieht, geht vorbei, und die Menschen sind immer noch da. Irgendwie klarkommen mit den Ereignissen, irgendwie weitermachen, das ist ihre Aufgabe. Vielleicht deshalb ist der Tod ein zentrales Motiv in "Flamingos". Ihre Figuren sind häufig Trauernde, die sich mit einem Verlust auseinandersetzen müssen. Mitunter bleibt der Tote ein zentraler Gesprächspartner oder wird sogar zum Teil des eigenen Selbst. Anrührend sind Sandigs Geschichten deshalb, weil sie ohne große Worte, ohne sich aufzudrängen von zentralen Themen erzählen.

Niemand beklagt sich hier, nüchtern konstatieren die Figuren ihre Situation. Die Geschichte des kleinen Mädchens, dessen Mutter sich nur für den aggressiven Partner interessiert, liest sich dann so: "Irene wäre gern jugendlich und in den Sommerferien. Ist sie aber nicht. Ich bin in den Sommerferien, laufe hinter Irene her und denke dabei: Und eins, und zwei, und drei, und vier, und immer so weiter. Auf ihrer rechten Potasche sitzt ein Schmetterling aus Glitzersteinen und wackelt hin und her. Und sechs. Entweder schaue ich auf diesen Schmetterling oder auf Irenes gerissene Ferse über dem klatschenden Flipflop. Und acht. Wenn ich im Takt laufe, bleibt unser Abstand immer gleich." Das ist die ganze Handlung: Ein Mädchen läuft hinter der Mutter und deren Partner her zum See, wünscht sich Zuneigung und fühlt sich allein.

AVIVA-Tipp: Wie in ihren Gedichten gelingt es der jungen Autorin auch in ihren Prosatexten, in wenigen Sätzen eine dichte Atmosphäre entstehen zu lassen. In jeder der elf Geschichten steht eine andere Figur im Zentrum, und Sandig gelingt der ErzählerInnenwechsel mühelos. Die Stimme einer alten Frau nimmt man ihr ebenso ab wie die des jungen Vaters oder die des kleinen Jungen. Deprimierend sind ihre Erzählungen trotz der Einsamkeitsthematik nicht. Eher machen sie nachdenklich und ein wenig melancholisch.

Zur Autorin: Ulrike Almut Sandig, 1979 geboren, aufgewachsen bei Riesa, lebt in Leipzig. Sie studierte Religionswissenschaft und Indologie sowie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Bisher erschienen die Gedichtbände "Zunder" (2005) und "Streumen" (2007), das Hörbuch "der tag an dem alma kamillen kaufte" (2006, gemeinsam mit Marlen Pelny) und das Hörspiel "Hush Little Baby" (2008). Ihre Gedichte wurden vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Leonce-und-Lena-Preis 2009. "Flamingos" ist ihre erste Prosaveröffentlichung. (Verlagsinformationen)

Die Autorin im Netz: www.ulrike-almut-sandig.de

Ulrike Almut Sandig - Flamingos. Geschichten
Schöffling & Co., erschienen 2010
176 Seiten. Leinen.
17,90 Euro
ISBN: 978-3-89561-185-8


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Beitrag vom 07.05.2010

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