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Beitrag vom 13.11.2008
Ruth Klüger - unterwegs verloren
Silvy Pommerenke
Vor sechzehn Jahren hieß es noch "weiter leben", als die mittlerweile emeritierte Literaturprofessorin den ersten Band ihrer Autobiographie schrieb. Heute geht es für sie um Menschen, die ...
... "unterwegs verloren" gegangen sind. Ruth Klüger: Jüdin, Feministin, Mutter, Holocaust-Überlebende, emigrierte Wienerin, anerkannte Amerikanerin und vor allem Liebhaberin der deutschen Literatur, hat den zweiten Band ihrer Lebensgeschichte veröffentlicht.
Der erste autobiographische Band "weiter leben" endete mit den Worten "Den Göttinger Freunden – ein deutsches Buch". Darin war sie ebenso persönlich wie politisch und sie schloss ihre Aufzeichnungen mit ihrer Rückkehr nach Europa, genauer gesagt mit ihrer Gastprofessur in Göttingen. Die Nachfolgebiographie setzt hingegen mit dem Weglasern der eintätowierten KZ-Nummer ein, die ihr vor mehr als sechzig Jahren von den Nationalsozialisten eingebrannt wurde. Warum hat sie diesen Schritt nach so langer Zeit gemacht? Ruth Klüger ist ausführlich in ihrer Antwort: Bislang ließen sie die Gespenster der Vergangenheit, die Ermordeten ihrer und anderer Familien davon abhalten, da sie immerzu in Gedanken neben ihr hergingen. Mittlerweile wäre ihr sechs Jahre älterer Bruder, der mit siebzehn ermordet wurde, in einem Alter, der das nebeneinander hergehen wohl erschweren, zumindest verlangsamen würde. Sie trug die KZ-Nummer als Andenken an die Toten, aber die Zeit ist nun gekommen, dass Ruth Klüger "die KZ-Nummer nicht mehr schuldig zu sein meinte".
Dieser Einstieg ins Buch fährt der LeserIn mitten ins Herz und in Ruth Klügers Leben, das für sie "eigentlich ein Graus" ist. Sie, die 1931 geboren wurde und in die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz und Christianstadt verschleppt wurde, zieht erneut Bilanz und findet doch keine Antwort auf die Frage, ob es sich gelohnt hat, das Leben. Schwer hatte sie es immer schon und auch der `Neuanfang` in den USA musste hart erkämpft werden. Sie brach in eine Männerdomäne ein, in der sie als Frau nur belächelt wurde: die Universität. Verknöcherte Strukturen, Sexismus und Antisemitismus waren (und sind) an der Tagesordnung. Sie rechnet mit der Hochschullandschaft und dem Literaturzirkus ab und hat sich wahrscheinlich wegen ihrer ungeheuren Arbeitswut und der Fähigkeit, Missstände zu erkennen und anzusprechen, nie unterkriegen lassen. Wenn es etwas zu sagen gibt, dann tut sie es. Wegschauen ist nicht ihre Sache. Bei verbalen Übergriffen greift sie durchaus zu öffentlichkeitswirksamen Mitteln: ein amerikanischer Kollege bekam aufgrund seiner antisemitischen Äußerung ein Glas Wein ins Gesicht geschüttet. Dezidiert erklärt sie, warum frau lieber Wein als Wasser dafür benutzen sollte, und weshalb so eine Aktion besser einmalig sein sollte und sich nicht zum Dauermittel eignet. Auch zu Martin Walser äußert sie sich ausführlich. Lange waren sie miteinander befreundet, aber durch sein antisemitisches Buch "Tod eines Kritikers" wurde ein unversöhnlicher Bruch evoziert, zu dem sie in einem offenen Brief – der in ganzer Länge in "unterwegs verloren" abgedruckt ist - in der Frankfurter Rundschau dazu Stellung nahm. Ruth Klüger macht nichts unüberlegt, alles wird seziert und analysiert, und genau das macht diese Frau und dieses Buch so besonders.
Weiterlesen: "Nirgendwo und überall zu Haus" von Martin Doerry und "Warum seid ihr nicht ausgewandert" von Irène Alenfeld
Zur Autorin Ruth Klüger, geboren 1931 in Wien, wurde in die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz und Christianstadt verschleppt. 1947 emigrierte sie in die USA und lehrte Germanistik an der University of Virginia, in Princeton sowie an der University of California in Irvine. Heute lebt sie in Irvine/Kalifornien und Göttingen. Zahlreiche Auszeichnungen, darunter Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck, Roswitha-Preis der Stadt Gandersheim, Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch. Bücher (u.a.): Katastrophen. Über deutsche Literatur (1994), Frauen lesen anders (1996), Gemalte Fensterscheiben. Über Lyrik (2007), weiter leben. Eine Jugend (1992) wurde in zehn Sprachen übersetzt. (Quelle: Verlagsinformationen)
AVIVA-Tipp: Ruth Klüger ist Meisterin der unprätentiösen, lakonischen und messerscharfen Sprache: Jedes Wort ist wohldurchdacht, ohne dass es arrangiert wirkt. Mit Leichtigkeit hat sie den zweiten Teil ihrer schwierigen Biographie niedergeschrieben. Sie spricht gesellschaftliche Probleme an, benennt Antisemitismus und Antifeminismus, für die sie unzählige Beispiele aus ihrem eigenem Leben anführt. Das Trauma des Holocausts, der Verlust geliebter Menschen, die umgebracht wurden, sind bis heute allgegenwärtig, und die bittere Erkenntnis, dass sich in der Gesellschaft nur wenig geändert hat, verursacht bei der LeserIn ein beklemmendes und ohnmächtiges Gefühl. Aber, wie gut, dass Ruth Klüger weitergelebt hat und sich nicht selbst unterwegs verloren hat. Ein wichtiges Buch, von einer beeindruckenden und klugen Frau!
Ruth Klüger
unterwegs verloren
Verlag: Zsolnay Verlag, August 2008
ISBN: 978-3552054417
19,90 Euro
Gebunden, 238 Seiten