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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 04.06.2003


Die Achterbahnfahrt eines Gens durch die Zeit
Meike Bölts

Der "Pulitzer Prize"-Träger Jeffrey Eugenides legt mit seinem zweiten Roman Middlesex mehr als 700 Seiten voller Familiengeschichte und sexueller Verwirrung vor.




"Ich wurde zweimal geboren: zuerst, als kleines Mädchen, an einem bemerkenswert smogfreien Januartag 1960 in Detroit und dann, als halbwüchsiger Junge, in einer Notfallambulanz in der Nähe von Petoskey, Michigan, im August 1974."

Doch bevor es zur Geburt der Hauptfigur kommt, müssen Desdemona und Lefty Stephanides 1921 aus dem brennenden Smyrna in die USA flüchten. Sie müssen verheimlichen, dass sie Geschwister sind, damit sie heiraten und ihren Sohn Milton zeugen können. Dieser muss seine Cousine Tessie mit einer Klarinette bezirzen, damit sie sich gegen Father Mike und für ihn entscheidet. Pleitegeier, der erste Sohn wird geboren. Fünf Jahre später trifft am griechischen Osterfest Sperma auf Ei und Calliope muss ihre kleine Wohnung aufgeben, um von einem 74-jährigen Arzt auf die Welt geholt zu werden.

In dieser ersten Hälfte des Romans erzählt uns Calliope mit viel Fantasie, Witz und Verstand die Geschichte ihrer griechischen Einwandererfamilie.
Das boomende Detroit der 20er Jahre ist die Kulisse für den sozialen Aufstieg der chaotischen, verrückten und doch so strebsamen Familie. Das bei Ford, beim Schmuggel und illegalem Alkoholverkauf verdiente Geld wird in ein Diner investiert, das bis in die 70er Jahre hinein zu einer florierenden Hot Dog-Kette wird.

Mit Calliopes Geburt beginnt der zweite Teil des Romans. Als Pseudo-Hermaphrodit geboren, wächst Calliope jedoch als Mädchen auf. Bis zur Pubertät verläuft ihr Leben ohne größere Irritationen, doch dann wird der Unterschied zwischen Sex und Gender bedeutungsvoll. Weiblich erzogen aber genetisch männlich findet Calliope heraus, dass manche sie als Monstrum bezeichnen. Erst als Calliope beschließt, ein Leben als Mann zu versuchen, beginnen sich die Einzelteile ihres Lebens zusammen zu fügen. Doch es soll noch 26 Jahre dauern, bis Calliope - nun Cal - bereit ist, das Dokument ihres/seines Lebens nieder zu schreiben.

Auffällig ist das rein Beschreibende des Romans. Politisches Zeitgeschehen ist zwar allgegenwärtig, wird aber wenig reflektiert. Die Rassenunruhen im Detroit der 60er Jahre als Glücksfall für die Familie zu bezeichnen - die Versicherung muss für das abgebrannte Diner zahlen, mag humorvoll erscheinen, kann aber auch ärgerlich sein. Wenn Jonathan Frantzen in den Korrekturen hinter die Kulissen blickt und seine Figuren erfahrbar macht, bleibt Eugenides an der Oberfläche. Ähnlichkeiten zwischen den beiden Familienepen sind nicht zu übersehen: Wir können uns bildhaft vorstellen, wie Frantzen und Eugenides sich ihr Leid mit dem Schreibprozess klagten, wissen wir doch dank geschickter PR-Strategie, dass die beiden miteinander befreundet sind.

734 Seiten haben das Potential, eine ganze Welt vor dem geistigen Auge entstehen zu lassen. In epischer Breite können hier Lebensgeschichten erzählt und Schicksale betrauert werden. Wir können von Ketten sprengender Liebe, von Schmach, Demütigung und Schmerz lesen, auch von Hass und Verwirrung.
734 Seiten können jedoch zu wenig sein, wenn wir sowohl eine Familiengeschichte als auch die Lebensgeschichte eines Hermaphroditen geliefert bekommen. Der Roman hätte gut nach einer Entscheidung für ein Hauptthema oder einer Straffung verlangt, dann wäre er wirklich rund geworden.



Jeffrey Eugenides
Middlesex

Rowohlt Verlag Gmbh, 2003
ISBN: 3-498-01670-9
Preis: 24,90 EUR200445651375" .


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Beitrag vom 04.06.2003

AVIVA-Redaktion