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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 12.04.2004


Jüdisches Städtebild Berlin
Anne Winkel

Gert Mattenklott stellt literarische Zeugnisse aus zweieinhalb Jahrhunderten jüdischen Lebens in Berlin zusammen. Mit Texten von K. Tucholsky, den Mendelssohns, Else Lasker-Schüler,...




Der Band "Jüdisches Städtebild Berlin" erzählt sowohl von Ausgrenzung als auch von Integration der Juden in Deutschland. Facettenreich wird dem Berliner (Kultur)Leben an Hand von kunstschaffenden und -fördernden (jüdischen) ZeitzeugInnen nachgespürt - von den Anfängen im 13. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert. Die literarischen Zeugnisse stammen ausschließlich aus den letzten Jahren des 18., aus dem 19. und dem 20. Jahrhundert. Der Akzent liegt dabei nicht auf einem Plus an jüdischem Leben. Berliner Leben und jüdisches Leben sind nicht voneinander getrennt zu betrachten.

Geschildert werden architektonische Erscheinungen, wie bestimmte Viertel, Straßen und Häuserfassaden, sowie Wohnungseinrichtungen und Personenphysiognomien. Dabei werden Gebäude oder Räume häufig in Beziehung ihren BewohnerInnen gesehen. Beispielsweise hat das Geburtshaus von Kurt Tucholsky eine "heimliche denkmalhafte Erscheinungsweise", so Günter Kunert. Auch Alfred Döblin verbindet die karge Umgebung des Alexanderplatzes mit den Menschen, die sich dort aufhalten.

Leider beginnt die Textsammlung etwas unglücklich. Eine Einführung von Inka Bertz in die Geschichte der Berliner Juden gibt zunächst einen kurzen Überblick zur seit dem 13. Jahrhundert vorzufindenden Ausgrenzung jüdischer MitbürgerInnen. Die anschließenden Passagen Mattenklotts zur Familie Mendelssohn und die folgenden Briefe von Moses und Fromet Mendelssohn sind ohne Vorkenntnisse zum Leben dieser berlinisch-jüdischen Familie nicht nachvollziehbar. So stellt sich zu Beginn der Sammlung eine gewisse Frustration und Langeweile ein.

Hält man den ersten inneren Widerständen aber stand, wird man spätestens mit den Beschreibungen Karoline Bauers über den literarischen Salon Rahel von Varnhagens für die anfänglichen Verständnisschwierigkeiten entschädigt und für die konsequente Lektüre belohnt. Mit dem Ausschnitt aus Bauers "Aus meinem Bühnenleben" beginnt eine lebhafte Schilderung jüdischer und nichtjüdischer Berliner Gesellschaft. Die Theaterschauspielerin war gern empfangener Gast und eine große Bewunderin Rahel von Varnhagens. Karoline Bauer beschreibt die geistreichen Gespräche, das Wohnungsinventar und die äußere Erscheinung der bekannten Berliner Salonière von Varnhagen. Rahel sei "unstreitig eine der interessantesten, geistreichsten und originellsten Frauen jener verschollenen Literatur- und Kulturperiode briefseliger und teetischästhetischer Geistreichigkeit". Von Varnhagens Äußerungen vergleicht Bauer mit einem "königlichen Feuerwerk" voller "Geistesfunken".
Karoline Bauers Bewunderung für die "Originalität" und den "Enthusiasmus" Rahel von Varnhagens wirkt ehrlich und mitreißend. Sofort wird die in Mattenklotts Vorbemerkungen eher statische Figur der Salonbetreiberin plastisch. Herr von Varnhagen dagegen wirkt zwar nicht weniger menschlich, jedoch umso unsympathischer - steif und störend in der von Künsten geprägten Konversation. "Wenn wir nur die unschmackhafte Milchsuppe von Mann nicht mit in den Kauf nehmen müßten", schreibt Karoline in erfrischend schonungslosem Ton über Herrn von Varnhagen.

Traurig und komisch zugleich sind die Kindheitserinnerungen des Victor Klemperer. Von der "Töpfchenaffäre" auf dem Weg nach Berlin über das "pädagogische Mittagessen" bis hin zum "orthopädischen Galgen" (zur Streckung der Rückenmuskulatur) sind seine jugendlichen Leiden mit einer ordentlichen Portion von Ironie aufbereitet. Jeden Samstag musste der junge Klemperer mit seinem Onkel Georg zu Mittag essen, was für ihn "eine Kette von Folterqualen" darstellte. Erst wurden Hände, Nägel und Zähne des Jungen vom Dienstmädchen peinlich-genau auf ihre Sauberkeit hin untersucht. Anschließend stellte der Onkel "harmlose Fragen", wobei die Antworten des kleinen Victor sorgfältig auf einen hochdeutschen Ausdruck getrimmt wurden. Keinesfalls durfte sich ein jargonhaftes oder jüdisches Wort unter die Rede mischen.

Auch Ludwig Pietschs spitze Bemerkung zu einer Bewunderin Ferdinand Lassalles lädt zum Schmunzeln ein: Ludmilla Assing (Inhaberin eines Salons in der Mauerstraße) sei zwar eine "geistvolle und hochgebildete, aber ebenso reizarme Dame". Peinlich berührt ist Pietsch von Assings "phantastischen Toiletten-Extravaganzen", die einzig dem Gefallen des angehimmelten Lassalles dienen sollen.

Die Vermischung von jüdischen und christlichen Traditionen mit zum Teil paradoxen Auswirkungen bildet einen inhaltlichen Themenschwerpunkt. So wird in Gershom Scholems Familie einerseits ein Weihnachtsbaum aufgestellt und festlich geschmückt, andererseits aber beim streng-orthodoxen Onkel Chanukka gefeiert.
Beachtung findet auch die Unterscheidung von Ostjuden und spanischen Juden mit einer klischeebehafteten Charakterisierung. Ostjuden sind nach Nell Walden "besonders intelligent, schöpferisch und kämpferisch, (...) im Unterschied etwa zu den spanischen Juden, die zwar verfeinert im Umgang, dafür aber mit der Müdigkeit einer alten Rasse behaftet sind".

Gedichte von Paul Celan, Heinrich Heine (Deutschland in Hass-Liebe verbunden), Theobald Tiger (alias Kurt Tucholsky), sowie mehrere Kurzgeschichten von Tucholsky über den schnoddrigen Berliner Herr Wendriner komplettieren die Textsammlung.

Immer wieder stellt sich die Frage nach dem jüdischen Selbstbild. Fühlt man sich als Jude oder als Deutscher? Kann man nicht einfach beides sein? Muss man entweder mehr deutsch oder mehr jüdisch sein, um seine Identität zu finden?

Der Band zum "Jüdischen Leben Berlin" ist gespickt mit Schwarz-Weiß-Fotografien von Straßenecken/-schildern, Häuserzeilen, Hinterhöfen und Erinnerungsstätten. Leider fehlen hier die Jahreszahlen der Aufnahmen und nicht selten ein nicht nur übergeordneter inhaltlicher Bezug zu den literarischen Zeugnissen.
Anzumerken ist, dass ein Glossar mit einer Zeitleiste und Kurzbiographien hilfreich gewesen wäre. Das Werk und die Lebensgeschichte vieler Personen werden vorausgesetzt. Die Tucholsky-Synonyme "Peter Panther", "Kaspar Hauser" und "Theobald Tiger" hätte man statt in der Bibliographie schon unmittelbar vor den entsprechenden Texten aufklären können.

AVIVA-Tipp: In Mattenklotts Zusammenstellung von Erzählungen, Episoden und Gedichten stellt sich immer wieder die Frage nach dem jüdischen Selbstbild. Fühlen sich jüdische Deutsche stärker ihrer Religion oder ihrem Land zugehörig? Kann man in einem christlich dominierten Land keine andere Religion ausleben, ohne von der Gesellschaft verstoßen zu werden? Muss man entweder mehr deutsch oder mehr jüdisch sein, um seine Identität zu finden? Dieser traurige Unterton mischt sich in die teils sehr heiteren Anekdoten des Buches - vergleichbar mit dem Klezmer, "ein schmerzliches Lied, das unter Tränen lächelt" (Joseph Roth).




Jüdisches Städtebild Berlin
Gert Mattenklott (Hg.)
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., 1997
365 Seiten
ISBN 363354140-3
24,80 Euro200346981675"



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Beitrag vom 12.04.2004

AVIVA-Redaktion