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Beitrag vom 04.02.2005
Eine Geschichte von Liebe und Finsternis von Amos Oz
Silke Buttgereit
Er wurde als israelisches Nationalepos bezeichnet, stand europaweit auf Bestsellerlisten und ist von allem einer der besten Romane des vergangenen Jahres
Jerusalem Anfang der 49er Jahre. Ein Erzähler erinnert zu Beginn des 21. Jahrhunderts seine Kinderjahre in der Zeit vor und nach der Staatsgründung Israels. Er erzählt das Leben seiner Eltern, trägt Bruchstücke aus Erzählungen von Verwandten, eigene Erinnerungen und historische Ereignisse zusammen und formt daraus das Leben seiner Großeltern und Urgroßeltern.
Kindheit, das ist die Zeit, in der Wahrnehmung und Verständnis denkbar weit auseinander klaffen und in dieser Kluft ist weiter Raum für Fantasien, Ängste und Glücksgefühle. Erzählerisch ist Amos Oz in "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" das große Kunststück gelungen, kindliche Wahrnehmung glaubhaft zu schildern, ohne einen Hehl daraus zu machen, dass es sich um rekonstruierte Erinnerung eines 60jährigen handelt.
So entsteht die von vielen erzählerischen Abschweifungen, Rückblenden und Vorausnahmen durchwirkte Biographie einer tief in Europa verwurzelten Familie, die vom Zionismus ebenso geprägt wie von der europäischen Kultur. Sinnliche Kindheitseindrücke von Gerüchen, Licht und Dunkelheit, von Himbeerlimonade und dem ersten Paar Lederschuhe werden durchdrungen von dem existenziellen Ringen um einen israelischen Staat, von Krieg und Armut, den zionistischen Heldenparolen seiner aschkenasischen Familie und dem langsamen Verschwinden seiner Mutter in schweren Depressionen, die mit dem Selbstmord der Mutter des damals 12jährigen enden. Amos verlässt kurz darauf Jerusalem und lebt die nächsten Jahrzehnte in dem Kibbuz Hulda.
"Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" ist in den Monaten nach Erscheinen im vergangenen Herbst von der Kritik begeistert gelobt worden und stand zwischenzeitlich auf vielen Bestsellerlisten. Während Amos Oz´ Lesereise im November fehlte in kaum einem großen Feuilleton ein Interview mit dem israelischen Autor.
Für europäische LeserIinnen ist der Roman sicherlich ein Schlüssel für das Verständnis der europäischen Fundamente Israels und des israelischen Volkes.
Horst Köhler ist kürzlich nach seiner Rede vor der Knesset für die staatsmännische Klugheit der Aussage, die Verantwortung für die Shoa sei Teil der deutschen Identität, zu Recht gelobt worden. Amos Oz dagegen zeigt hier erzählend in vielen Mäandern und fetzenhaften Erinnerungen, wie komplex die Verflechtungen zwischen der jüdischen Bevölkerung Palästinas und dem Europa des 19. und 20. Jahrhunderts damals waren. Und es vielleicht noch sind. Die ersten Einwanderergenerationen waren zutiefst von der Hassliebe zu Europa geprägt, die wiederum ein wichtiger Teil ihrer israelischen Identität ist. Hassliebe oder besser: Eine Liebe, der von Europa schon lange vor der Shoa mit Hass und Antisemitismus begegnet wurde.
AVIVA-Tipp: Der Roman ist ein rührendes und berührendes Buch. Darf man das sagen, ohne es in den Ruch von Kitsch und Melodramatik zu bringen? Jedenfalls ist der Roman frei von nostalgischem Kitsch, er schreibt schlicht die Geschichte einer Familie in die bekannten geschichtlichen Ereignisse um die israelische Staatsgründung ein. Und er ist zu komisch, zu ironisch, um tragisch zu sein. Es ist einer der besten Romane des vergangenen Jahres.
Amos Oz
Eine Geschichte von Liebe und Finsternis
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
Originaltitel: Ssipur al ahava we-choschech
Suhrkamp Verlag, erschienen August 2004
ISBN 3-518-41616-2
Gebunden. 850 Seiten
26,80 Euro90008115&artiId=2834364&nav=5081"