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Beitrag vom 12.07.2006
Fontanelle
Sarah Ross
Meir Shalev erzählt aus der Sicht eines Mannes, dessen Fontanelle auch im Erwachsenenalter noch nicht geschlossen ist und der dadurch mehr wahrnimmt. Jetzt auch als Taschenbuch.
Der große israelische Erzähler, Meir Shalev, erzählt in seinem Roman die Geschichte einer aus Russland nach Israel eingewanderten Großfamilie namens Joffe. Doch darf man an dieser Stelle nicht annehmen, dass es sich hierbei tatsächlich um einen klassischen Familienroman handelt. Aus der Sicht eines Mannes, sein Name ist Michael, dessen Fontanelle sich auch im Erwachsenenalter nie geschlossen hat, und der somit mehr wahrnehmen kann, als ihm oft lieb ist, wird die Familienchronik der Joffes in einer keineswegs chronologischen Reihenfolge erzählt. Und auch die handelnden Personen lernt man nur nebenbei kennen. Während Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wild durcheinander gewürfelt sind, reiht der Autor einzelne kleine Geschichten über die große Liebe, den unversöhnlichen Hass, über Treue und Verrat aneinander.
Shalev entführt den Leser und die Leserin in eine Phantasiewelt, die jedoch von Zeit zu Zeit sehr real zu sein scheint. Schon zu Beginn stehen wir mitten auf dem Hof der Joffes und betrachten das Treiben, das wiederum von einer moderaten Stimme kommentiert wird. Die Stimme ist Michael Joffe. Seine offene Fontanelle erlaubt es ihm, Gefühle und Ereignisse wahrzunehmen, die anderen Menschen verborgen bleiben. Sogar die Zukunft kann er ab und an vorhersehen. Diese Begabung macht ihn automatisch zu einem Außenseiter in der Familie, aber auch zu einem einzigartigen, tief blickenden Beobachter des Geschehens. So wundert es nicht, dass der Autor Michael mit seinem sechsten Sinn als Erzähler dieser Geschichten einsetzt, die sich schließlich zu einem sehr gewundenen Roman zusammensetzen.
Als LeserIn erfährt man, dass Michael als Kind einmal in einem brennenden Weizenfeld eingeschlossen war. Während die Familie am Rand stand und schrie, rettete ihn Anja, die junge Frau des Dorfschullehrers. Als sie feststellte, dass die Fontanelle des Jungen noch offen war, hat sie fortan nur noch "Fontanelle" gerufen. Von diesem Tag an blieb Michael sein Leben lang in seine Lehrerin verliebt. Als Anja stirbt, beginnt Michael, sich auf seinen eigenen Tod vorzubereiten, und erzählt die Geschichte seines Lebens und die seiner Familie.
Mit Hilfe des Erzählers blättert der Autor Kapitel um Kapitel der Familiengeschichte auf. Zwischendrin erzählt Shalev auch die Geschichte Israels.
Da die Familie nun mal so ist wie sie ist, scheut Michael auch keine Sekunde, über all die Fehler und Probleme seiner engsten Verwandten zu berichten. Und da die Familie Joffe nach außen hin relativ abgeschottet lebt und sich somit ganz eigene Gesetzmäßigkeiten innerhalb der Familienstruktur verselbstständigt haben, entfalten sich vor den Augen des/der LeserIn höchst skurrile Figuren: Michaels Vater, ein witziger und charmanter Mann, mutiert zu einem Don Juan, und die Mutter zu einer irren Vegetarierin. Großvater David ist nicht nur der Gründer des Joffe-Hofes, sondern indirekt auch der des ganzen Dorfes, das mittlerweile zu einer Stadt geworden ist. Und während die Tante nicht mehr alleine schlafen kann, seitdem ihr Mann erschossen wurde, verharrt der sympathische Erzähler in seiner Kinderliebe.
Das erfrischende und zugleich geniale an Shalevs Roman ist, dass all diese Skurrilitäten mit einer verblüffenden Nüchternheit erzählt werden.
AVIVA-Tipp: Meir Shalevs Roman "Fontanelle" ist eine rührende Geschichte von der Liebe eines kleinen Jungen zu seiner Lehrerin, eine außergewöhnliche Saga einer russischen Imigrantenfamilie in Israel, und zugleich eine phantasiereiche Komödie und "Parabel eines israelischen Linken auf den ramponierten Mythos Israel". Shalevs Liebe zu seinen Romanfiguren, aber auch seine sinnliche Sprache und der poetische Erzählstil, machen dieses Buch zu einer heiteren, intensiven, geheimnisvollen und unvergesslichen Lektüre.
Zum Autor:
Meir Shalev wurde 1948 in Nahalal geboren. Er studierte Psychologie und arbeitete viele Jahre als Journalist und Fernsehmoderator. Heute wohnt er in Jerusalem. Neben seinen Romanen für Erwachsene schreibt er auch Kinderbücher.
Meir Shalev
FontanelleDiogenes Verlag, September 2004
ISBN 3-257-06458-6
576 Seiten
22,90 Euro
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