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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 17.03.2006


Großmama packt aus
Sarah Ross

Irene Dische schrieb einen unglaublich komischen, aber auch traurig-schönen Roman über ihre Großmutter, die über Gott, die Juden und die Nazis, aber vor allem über die Familie viel zu erzählen hat.




Die Autorin Irene Dische hat für ihren neuen Roman eine ganz besondere Protagonistin ausgewählt. Es ist ihre Großmutter, die gute, aber unkeusche Katholikin Elisabeth Rother, eine rheinländische Frohnatur, die absolut keine Tabus kennt. Und bereits auf den ersten Seiten des Buches "Großmama packt aus" fühlt man sich so, als würde man mit Oma Elisabeth persönlich einen ausgedehnten und unendlich amüsanten, wie auch traurigen Kaffeeklatsch abhalten. Die Autorin lässt in dem Roman ihre Großmama munter drauf los plaudern - über die Vorkommnisse im eigenen Ehebett, über die Juden, den lieben Gott, den Zweiten Weltkrieg und die Gestapo. Doch in ihrer Erinnerung war nicht einmal das, und auch nicht die Flucht nach Amerika, eine so große Katastrophe wie ihr weit verzweigter Familienclan.
Irene Dische ist es mit diesem Buch gelungen, nicht nur eine rasante, komische und draufgängerische Familiensaga zu kreieren, sondern auch, auf ganz elegante Art und Weise das literarische Problem mit der Autobiographie zu lösen: Sie setzt sich dem gnadenlosen Blick ihrer überlebensgroßen Großmama aus.

Elisabeth Rother, geborene Gierlich, ist Jahrgang 1891, eine Katholikin aus gutem rheinischen Hause und unangefochtenes Oberhaupt einer außergewöhnlichen, chaotischen aber liebenswerten Großfamilie, deren Fortbestand sie auch nach der Heirat mit dem jüdischen Arzt Carl Rother und dessen zweifelhafter Fruchtbarkeit sichern konnte. Auch wenn sie es sehr bedauert, nur eine Tochter namens Renate zur Welt gebracht zu haben, "es war schlimm genug, dass ich ein Mädchen war und kein Offizier und Kriegsheld werden sollte", so ist sie doch sehr damit beschäftigt, das unorthodoxe Verhalten ihres rebellischen Nachwuchses zu begutachten und zu dokumentieren. Und während die resolute Matriarchin, die aufgrund ihrer Leibesfülle von ihrer Tochter "Mops" genannt wird, sich über das Wesen ihrer Tochter bis in deren Erwachsenenalter auslässt, bringt sie gleichzeitig - ohne Rücksicht auf Verluste - die gesamte Familiengeschichte, aber auch das Zeitgeschehen, aufs Tablett. Dabei spannt sie einen Bogen über fast das gesamte 20. Jahrhundert.

Die Erzählerin beginnt die Zeitreise durch die eigene Familiengeschichte bei ihrer eigenen Hochzeit, dem herrschaftlichen Leben in der Villa mit Dienstboten und landet währenddessen schon bald bei den Nationalsozialisten und der Gestapo, die die Familie zur Flucht ins gelobte Land Amerika zwingt. Elisabeth, die sich durch nichts unterkriegen lässt, leistet nicht nur den Nazis Widerstand, sondern auch den Antisemiten im amerikanischen Exil. Daher berühren sie auch die anfänglichen Widrigkeiten in New York - ohne Geld, Arbeit und zu viert in einem kleinen Raum wohnend - nur am Rande. In ihrem forsch-komischen Ton schildert sie das Schicksal ihrer Familie, wie es typischer für jene Zeit und einzigartiger nicht sein könnte.
Doch stets lugt in diesen Erzählungen die Autobiographie der Autorin hervor, die durch die Augen ihrer Großmutter immer wieder auf sich selbst schaut.

Elisabeth war schon frühzeitig klar, dass ihre Tochter Renate nicht die Dinge von ihr geerbt hatte, auf die es im Leben ankommt, sie "hatte Carls riesige dunkle Augen, seine Nase und außerdem ganz von allein - ich weiß nicht, woher sie kamen - rote wulstige Lippen". Doch daraus, und auch aus den antiautoritär gepolten Genen von Renates erstem Mann Dr. Dische, lassen sich nur zum Teil die diversen charakterlichen Entgleisungen und die schwierige Art ihrer Enkelin erklären, die stets nörgelt, ihre Schulaufgaben nicht macht und Junkfood isst.
Ihre Erklärung für das aufmüpfige Wesen Irenes ist so simpel wie einleuchtend: "Dass meine Enkeltochter so schwierig ist, hängt vor allem mit Carls geringer Spermiendichte zusammen."

AVIVA-Tipp: Irene Dische schrieb mit ihrem neuen Roman "Großmama packt aus" nicht nur eine anrührende und tragisch-komische, deutsch-jüdische Geschichte des zuweilen schrecklichen Zwanzigsten Jahrhunderts, sondern auch einen stark autobiographisch angehauchten Roman, in dem sie erstmals ihren bereits bekannten lakonischen und kecken Ton auch auf ihre eigene Familiengeschichte anwendet.
Der Witz des Buches ist allerdings, dass nicht sie, sondern die Stimme ihrer Großmutter mit ihrem unbekümmerten Sprachwitz das tiefste Innere dieser Familie nach außen kehrt - ohne Scham, gnadenlos direkt und mit einer gehörigen Portion Chuzpe und rheinischer Fröhlichkeit! Gekonnt bewahrt die Autorin jedoch stets eine ironische Distanz.

Zur Autorin:
Irene Dische
, geborene New Yorkerin, lebt in Berlin und Rhinebeck. Bisher hat Irene Dische die Bücher "Fromme Lügen" (1989), "Der Doktor braucht ein Heim" (1990), "Ein fremdes Gefühl" (1993), "Die intimen Geständnisse des Oliver Weinstock" (1994) und "Das zweite Leben des Domenico Scarlatti" (1995) veröffentlicht. Bei Hoffmann und Campe ist auch ihr Buch "Ein Job" (2000) erschienen.

Am 20. März 2006 findet um 18 Uhr im Roten Rathaus in Berlin auch eine Lesung mit Irene Dische statt. Eintritt frei.


Irene Dische
Großmama packt aus

Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser
Hoffmann & Campe, Oktober 2005
ISBN 3-455-01458-5
368 Seiten, gebunden
23,00 Euro

Lesen Sie auch unsere Rezension zu
"Lieben" und "Fromme Lügen".

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Beitrag vom 17.03.2006

Sarah Ross