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Beitrag vom 23.04.2007
Du nennst es Kosmetik, ich nenn es Rock’n’Roll
Clarissa Lempp
Kerstin Grether schrieb bereits mit 15 Jahren für ihr eigenes Fanzine über Rock, Pop und die Abwesenheit der Frauen in der Musikgeschichte. In "Zungenkuß" sind Texte aus 15 Jahren versammelt.
Kerstin Grether war und ist immer noch Fan. Aber inzwischen ist sie auch eine Ikone im deutschen Musikjournalismus. Wie kein/e andere/r hat sie die Frauen in die Musikgeschichte zurückgeschrieben. Dabei führt sie auch den Diskurs über die großen feministische Themen im zwanglosen Ton des "New Journalism". Kerstin Grether steht für klugen, individuellen und gesellschaftspolitischen Text im Rezensionsgewand. Endlich findet sich nun das "gesammelte Werk" von 1995 bis heute als Taschenbuchausgabe für den artgerechten Konsum in der schnellen Welt der Pop-Mädchen, Musiksüchtigen und Kulturinteressierten.
Als Fan lässt Kerstin Grether bei Interviews oder Plattenbesprechungen ihrer Leidenschaft freien Lauf und doch verbirgt sich hinter der subjektiven "undistanzierten" Ich-Schreiberin eine kluge Kritikerin, die private und gesellschaftliche Bezüge in die Reflexion der Produkte (Musik, Band, Style, Fantum) einbezieht. Hier kann sich ein/e manche/r der sachlich-arroganten KritikerInnen ein Scheibchen abschneiden! Denn was Grether schafft, ist in dieser Form nicht einzigartig aber doch ungewöhnlich: (Pop)Musik ist kein Konstrukt, kein unerreichbarer Elitekult, sondern wesentlicher Bestandteil des Lebens und die Übertragung persönlicher Elemente in einen POPulären, also gesellschaftlichen und gemeinverständlichen Zusammenhang.
Neben ihren Artikeln zu den großen Musikbewegungen der 90er, wie die Hamburger Schule, Grunge oder Britpop, verliert Grether nie den Blick dafür "what it feels like for a girl". So widmet sie sich in ihrem "Plädoyer für schwache Nerven" dem Hungerstreik Ally McBeals, den sie als authentisches Statement dafür sieht, wie es sich in dieser Welt anfühlt, ein Mädchen zu sein. Ihre Texte über Girlism, Riot-Grrrls, Fan-Mädchen oder die Macht und Ohmacht der Popsängerinnen sind Galaxien voller Cultural-Studies-Planeten, Feminismus-Sternchen und Dekonstruktions-Nebeln die eine/n absorbieren wie die schwarze Materie selbst und immer wieder zeigen, welch enormes Hintergrundwissen zwischen diesen Zeilen steckt, ohne dass Grether damit angeben würde. Sie teilt es einfach und das in einer Form die pusht, berauscht, die ohne Zeigefinger aufklärt, was Hunger, Politik und die Macht der Schokolade eigentlich mit Pop zu tun haben.
Zur Autorin: Kerstin Grether, Schriftstellerin, Sängerin und Popkulturjournalistin, lebt in Berlin. Mit Zuckerbabys (Suhrkamp 2006) schrieb sie einen Roman über Magersucht und Medien, der schnell zum Kultroman avancierte. Sie veröffentlichte zahlreiche Artikel und Kolumnen im Feuilleton, in Anthologien und verschiedenen Zeitschriften, darunter Intro, frieze und Frankfurter Rundschau. Ihre exzentrischen Leseperformances changieren zwischen mutwilligem Ernst und spontanen Stand-Up-Comedy-Einlagen. Sie ist außerdem Sängerin und Songschreiberin in der von ihr 2008 mitgegründeten Band Doctorella. (Quelle: Verlagsinformation)
Weitere Infos und Kontakt: www.kerstin-grether.de
AVIVA-Tipp: Kerstin Grether schreibt über Frauen in Pop und Gesellschaft, Bohémeleben, Essstörungen und Armut, sie dokumentiert seit 15 Jahren die Musikgeschichte und befreite die Mädchen aus den Plattensammlungen der Boyfriends. Deshalb war dieses Buch überfällig und es rockt!
Grether, Kerstin
Zungenkuß - Du nennst es Kosmetik, ich nenn es Rock ´n´ Roll
Musikgeschichten, 1990 bis heute
Mit Illustrationen von Felix Reidenbach
Suhrkamp Taschenbuch, erschienen März 2007
372 Seiten, Broschur
10,00 Euro
ISBN 978-3-518-45857-0