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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 03.08.2010


Maud Lethielleux - Sag ja, Ninon
Evelyn Gaida

Jede Seite birgt einen neuen Fund an Sprachwitz, Poesie, Situationskomik, eindringlicher `Menschenkunde´ oder eine besondere Form von Lebensweisheit und Wunder, wie sie die Schatzkammer eines ...




... kindlichen Blickwinkels beinhalten kann. Geschildert aus der Perspektive der neunjährigen Ninon wird zugleich die soziale und menschliche Problematik ihrer Familie unübersehbar.

Seit Frank McCourts "Die Asche meiner Mutter" haben es Romane, die aus der Sicht eines Kindes erzählt werden, schwer. Sie laufen Gefahr, als Erstes die Erinnerung an dieses unvergleichliche Buch zu reaktivieren. Maud Lethielleuxs Heldin entführt die LeserInnen jedoch in ihre ganz eigene Welt. Ungeordnet, wechselvoll und ebenso stark, wie die Eindrücke von Kindern sind, fügt sich Bild an Bild zusammen. Die Autorin macht die Atmosphäre innerhalb einer auseinandergefallenen AussteigerInnen-Familie und deren eigenwilliges Landleben von Anfang an intensiv gegenwärtig.

Kinderaugen

Durch Ninons Sichtweise erzeugt Lethielleux ein vielfarbig gebrochenes Spektrum: Dem naiv kindlichen Blick stehen haarsträubende Details gegenüber, Ninon führt das Verhalten ihrer Eltern häufig ungewollt ad absurdum, betrachtet sie gleichzeitig voller Liebe, Nachsicht und Anteilnahme. Das Mädchen eignet sich die Überzeugungen seines Vaters auf herzerwärmend komische Weise an und bewahrt sich dennoch die schützende Distanz einer Beobachterin zu Erziehungsdesastern und mannigfacher, alles andere als "kindgerechter" Beeinflussung. In "autarker Autonomie" wolle sie leben, verkündet Ninon nicht ganz "autark", hat aber eindeutig gelernt, sich gegen die Meinung von anderen schlagfertig zu behaupten. Eine mitreißend unabhängige Außenseiterin, die in einer rauen Realität beheimatet ist.

"Mein Papa braucht mich"

Die Eltern haben sich getrennt, Ninon zieht mit ihrer kleinen Schwester zum neuen Freund der Mutter. Bei Olive, den die Schwestern nur "der Neue", "Doofkopp" und gelegentlich "Oberarsch" nennen, ist es gemütlich und riecht angenehm nach Spülmittel, aber er nervt und sieht beim Küssen aus "wie Omis Staubsauger, wenn er eine Ecke des Teppichs erwischt." Ninons Vater Fred betreibt eine kleine, möglichst naturbelassene Landwirtschaft, wo Motoren hartnäckig nicht anspringen wollen, nie genug Benzin da ist, kein Badezimmer und keine Waschmaschine, irgendwann auch kein Haus mehr, denn das muss er verkaufen, damit er seine Ex-Frau auszahlen kann. Ninon trifft eine große Entscheidung mit der inbrünstigen Liebe eines kleinen Mädchens: "Mein Papa braucht mich, ich werde ihn nie verlassen."

Prinzessin und Schmutzliese

Gemeinsam packen sie also das Projekt an, ein Haus zu bauen in einem abgelegenen Waldstück, das der Vater erworben hat. Hier ist Ninon glücklich, kann sie frei in der geliebten Natur leben und ihrem Papa beistehen, zusammen sind sie "ein prima Team", findet sie. Das Hin und Her und das böse Blut zwischen ihren Eltern zehren jedoch an ihr, die Arbeit ist hart, die Lebensbedingungen extrem, die Angst vor einem Kontrollbesuch von "Frau Fürsorge" groß. Ein unauflöslicher Gegensatz: "In meiner Hütte war ich eine Prinzessin. Auf dem Teer (der Landstraße) bin ich eine Schmutzliese." Lethielleux betrachtet diesen Widerspruch mit der vorurteilslosen Anpassungsfähigkeit und Lebensfreude eines Kindes, das eine ganze Reihe bewundernswerter Fähigkeiten entwickelt: Selbständigkeit, Verantwortungsbewusstsein, großes Einfühlungsvermögen, allerlei praktische Fertigkeiten, außerdem eine große Nähe zur Natur, die es mit ebenso lyrischer wie pragmatischer Intensität wahrnimmt.

"Allmächtiger!"

Die Autorin könnte dabei von märchenhafter Verklärung kaum weiter entfernt sein, ebenso von Humorlosigkeit. Der Hausbau geht nur schleppend voran, im Winter schlafen Ninon und ihr Vater noch immer unter einer Plastikplane, die ständig wegfliegt, zusammen mit den Ziegen und dem räudigen Kater Kuckuck. Ninon hat Läuse, schafft es kaum, in die Schule zu gehen und wird von erwachsenen Menschen, außer von ihrem Vater, sehr zu ihrer Verwunderung regelmäßig "Allmächtiger!" genannt. Es lässt nicht lange auf sich warten, dass sie dieselben grindigen Stellen am Kopf aufweist, wie der Kater am Fell. Das führt wiederum zu urkomischen Situationen, die für die synchrone Überschneidung mehrerer Betrachtungsebenen in diesem Roman typisch sind. Freds Bekannte halten die "verkümmerte Katze ohne Fell" entsetzt für eine Ratte. Also erklärt ihnen Ninon, "dass Kuckuck eine Krankheit aus dem Mittelalter hatte, die tierisch ansteckend war, und genau darum habe ich keine Haare mehr, weil sie einem ausgehen. Die Bekannten werden alle ganz bleich, rennen zum Brunnen, um sich die Hände zu waschen, und hopsen herum, damit die Katze sie nicht berührt, sie schreien, das Ganze ist irre lustig."

Intelligentes Herz

Lethielleux macht einen großen und feinfühligen Bogen um vorgefertigte Lebensentwürfe, sei es der konventionellen oder der alternativen Richtung. Der Roman ist ein implizites Plädoyer für Offenheit, Toleranz und die unendlich vielen Wege, auf denen man sich dem Leben nähern kann. Ein Beispiel dafür ist Ninons Lehrer in der neuen Schule, der im Gegensatz zu den früheren LehrerInnen nicht vorrangig ihre Unpünktlichkeit oder ihren Lernrückstand beachtet, sondern ihre Stärken. Er entdeckt Ninons Gespür für Wörter, ihr "intelligentes Herz", woran Lethielleuxs Roman die LeserInnen durchgängig teilhaben lässt und das so vielen hochgebildeten Menschen fehlt. Als Ninon ihm daraufhin ihre "Probleme mit Diss und Lexie" schildert, "hat er ganz viel gelacht. Ich auch, ich war nämlich mächtig stolz, dass ich Wörter spüren kann."

AVIVA-Tipp: Beim Lesen dieses Buches fühlt man sich selbst ein bisschen wie ein Kind an Weihnachten und weiß nicht, was als Erstes aus der schimmernden Geschenkschachtel herausgegriffen werden soll: Vielschichtigkeit, Originalität, wunderbare Metaphern und poetisch-schlichte Naturbeschreibungen, Herzenswärme, Menschenkenntnis, Witz und eindringliches Porträt einer widersprüchlichen Hippie-Familie auf dem Land, erzählt aus der Sicht eines neunjährigen Mädchens.

Zur Autorin: Maud Lethielleux wurde in La Flèche im Departement La Sarthe, Frankreich, geboren. Die heute 37-Jährige ist auch Musikerin und Regisseurin. Bevor sie zum Schreiben fand, hat sie viele Jahre im Ausland verbracht. Sie ist zusammen mit ZigeunerInnen aus Rajasthan und einer alternativen Theatergruppe in Israel aufgetreten, hat bei einer Gruppe wandernder MusikerInnen in Transsylvanien das Kontrabassspielen gelernt, ist mit einer Tanzkompanie durch Australien und Neuseeland getourt, hat mit europäischen StraßenmusikerInnen zusammengearbeitet, nahm in Indien Gesangsunterricht und hat für humanitäre Hilfsdienste in Bosnien gespielt. "Sag ja, Ninon" ist ihr erster Roman. Weitere Infos und Kontakt: maudetlesmots.free.fr und maudetlesmots.blogspot.com

Maud Lethielleux
Sag ja, Ninon

Dis oui, Ninon
Aus dem Französischen von Ina Kronenberger
Goldmann Verlag, erschienen am 06. April 2010
Gebunden, 224 Seiten
ISBN: 978-3-442-31221-4
17,95 Euro

Weitere Informationen finden Sie unter:

www.randomhouse.de/goldmann

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Beitrag vom 03.08.2010

Evelyn Gaida