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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 03.10.2015


Eva Barlösius - Dicksein. Wenn der Körper das Verhältnis zur Gesellschaft bestimmt
Magda Albrecht

Ein Gastbeitrag von Magda Albrecht, Aktivistin und politische Bildnerin, die sich freut, dass für diese Studie endlich mal "mit" dicken Jugendlichen gesprochen wird – anstatt nur über sie.




Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich Prof´in. Dr. Eva Barlösius das erste (und einzige Mal) traf. Wir wurden beide zu einer Podiumsdiskussion nach Weimar zum Thema "Fatness und Fitness" eingeladen. Da ich ihre Arbeiten kannte, wusste ich, dass wir uns nicht zoffen würden. Trotzdem war die Podiumsdiskussion für mich eher enttäuschend: Da diskutierten vier schlanke Wissenschaftler_innen und eine dicke studierte Aktivistin (ich) über "die Dicken". Ein altes Spiel: Dicke Menschen sind wieder einmal nur Objekt der Betrachtung und selten Subjekte mit Wissen und Erfahrungen. Ab und zu schnaubte ich vor Wut, weil die Kommentare aus dem Publikum dicke Menschen als "verfressene", "faule" und "kranke" Menschen skizzierten. Prof´in Dr. Barlösius blieb sachlich, konterte und beschrieb als Soziologin "das große Ganze". Etwas flapsig sagte sie in meine Richtung, dass die Beschäftigung mit der Stigmatisierung von Dicken nicht weit genug greife. Für Anti-Stigmatisierungskampagnen hatte sie wohl nicht viel übrig. Ich fühlte mich ein wenig verloren. Da wurde nicht nur fast ausschließlich über Dicke gesprochen (anstatt mit uns). Auch die zarten Bestrebungen von Aktivist_innen, die gegen Dickendiskriminierung im Alltag kämpfen, wurden wenig gewürdigt. Schade, dachte ich. Aber irgendwie auch typisch Elfenbeinturm.

Heute, zwei Jahre später, halte ich das Buch "Dicksein. Wenn der Körper das Verhältnis zu Gesellschaft bestimmt" von Prof´in. Dr. Eva Barlösius in den Händen. Es ist eines der wenigen deutschsprachigen wissenschaftlichen Werke, das sich (kritisch!) mit der gesellschaftlichen Rezeption von Dicksein und den Erfahrungen dicker Jugendlicher auseinandersetzt. Die Besonderheit ist, dass das in der Wissenschaft übliche "Sprechen Über" hier zwar nicht verschwunden ist, aber zumindest auch ein "Sprechen mit" existiert. Für dieses Buch wurden insgesamt 60 dicke Jugendliche deutscher und türkischer Herkunft aus Vierteln mit hohem Armutsanteil in Gruppendiskussionen zu ihrem Alltag und ihrem Erleben befragt sowie separat auch Eltern dicker Jugendlicher und so genannte Präventionsexpert_innen, die im Bereich Gesundheit und Jugendarbeit arbeiten. Die Jugendlichen seien "mehrfach sozialstrukturell benachteiligt" (S. 114), was der Auseinandersetzung gerecht wird: Wie Barlösius im Buch stark macht, kann die Abwertung von Dicksein kaum losgelöst von anderen sozialen Ungleichheiten betrachtet werden.

In den Gruppendiskussionen kamen Themen wie Mode, Liebe und Sexualität, Medien, Schule, Sportunterricht, der eigene Körper, Essen, Gesundheit und Vorstellungen über die eigene Zukunft zur Sprache. Durch all die Zitate der Jugendlichen blitzt das Bewusstsein dafür, dass der eigene Körper gesellschaftlich als ungenügend, nicht leistungsfähig und voller Makel eingeordnet wird. Die Jugendlichen wissen bereits sehr genau, wie der gesellschaftliche Blick auf sie aussieht. Ein Teilnehmer stellt fest: "Ich will dünn werden, weil die Dünnen kriegen bessere Jobs als die Dicken." (S. 173).

Die Erkenntnisse der Studie: Dicksein hat für die Jugendlichen eine ähnliche – in Teilen sogar dringlichere – Allgegenwärtigkeit wie die Unterscheidung in zwei Geschlechter (S. 65). Damit tritt der Körper neben die "typischen Strukturprinzipien wie soziale Klasse, Ethnizität oder auch Geschlecht." (S. 67). Laut Barlösius haben die Jugendlichen "den Eindruck, wie eine Klasse behandelt zu werden – in den direkten sozialen Interaktionen, insbesondere aber bezüglich der ihnen offenstehenden bzw. verschlossenen sozialen Chancen." (S. 114). Wichtig sind dabei zwei Prozesse: Die Jugendlichen stehen mit ihren Körpern nicht nur für gesellschaftliche Wahrnehmungen von Mangel an Selbstkontrolle, Leistungsbereitschaft und Eigenverantwortung ("Verkörperung"), die Körper der Jugendlichen archivieren diese Erfahrungen auch, saugen die Gesellschaft quasi in sich auf ("Verkörperlichung"). So ist es wenig überraschend, dass die Jugendlichen ihre Körper (teilweise) ähnlich problematisch wahrnehmen oder moralisierendes Sprechen über Essen bereits in jungen Jahren exzellent beherrschen.

Es ist unerlässlich, dass das Wissen und die Erfahrungen von dicken Jugendlichen in der Wissenschaft endlich gebührenden Platz und Respekt bekommt. Dieses Buch trägt zur herrschaftskritischen Debatte um Körper_Gewicht in der Wissenschaft bei, weil es den Fokus auf diejenigen legt, die die Konsequenzen der gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit hegemonialer Vorstellungen von Gesundheit, Fitness und Körper zu spüren bekommen.

Und doch hatte ich beim Lesen so manches Fragezeichen. Einer meiner Kritikpunkte ist die fehlende Positionierung der Wissenschaftler_innen. Für manche mag folgende Frage komisch klingen, aber für Soziolog_innen sollte die Rolle der Wissenschaftler_in nie außer Acht gelassen werden. Waren die beteiligten Forscher_innen schlank bzw. erfüllten sie viele Normen in Bezug auf Körper? Und falls ja: Wurde sich Gedanken darüber gemacht, wie dies von den dicken Jugendlichen aufgenommen werden könnte (Stichwort: Selbstzensur, kein "sicherer" Raum zum Ehrlichsein, Angst vor erneuter Diskriminierung, vorauseilender Gehorsam gegenüber einer schlanken, wissenschaftlichen Autoritätsperson...).

Obwohl ich die Studie wichtig finde, habe ich nach Lektüre des Buches ein ähnliches Gefühl wie nach der Podiumsdiskussion im Jahr 2013. Barlösius endet mit der Erkenntnis, dass bloße Aufklärungskampagnen nicht ausreichend seien, da es bei sozialen Ungleichheiten um die Verschließung von Partizipation, Anerkennung und Zukunftschancen gehe – das "große Ganze" eben. Hier fehlt mir – wie auch schon 2013 – die Ankoppelung an aktivistische Kämpfe und konkrete Beispiele. Das kann und muss eine Studie nicht leisten. Aber eine Auseinandersetzung damit wäre im Sinne derjenigen, deren Lebensrealität tagtägliche Abwertung beinhaltet.

Zur Autorin: Prof´in Dr. Eva Barlösius studierte Soziologie und Ernährungswissenschaften und lehrt zurzeit als Professorin für Makrosoziologie an der Leibniz-Universität Hannover. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Ungleichheitssoziologie und die Soziologie des Essens.
Mehr Infos unter: www.ish.uni-hannover.de

AVIVA-Fazit: Lockerleichte Lektüre für die laue Sommernacht? Eher nicht. Aber empfehlenswert für Liebhaber_innen von Studien, Wissenschaftler_innen, die sich mit Körper und Gesellschaft befassen oder für jene Interessierte, die sich gerne durch soziologische Theorien kämpfen. Dieses Buch gibt Einblicke in die Lebenswelt von dicken Jugendlichen, ein Wissen, das in der Wissenschaft sonst kaum Platz findet.

Dicksein. Wenn der Körper das Verhältnis zur Gesellschaft bestimmt
Eva Barlösius

Campus Verlag, erschienen 14.08.2014
Kartoniert, 203 Seiten
EAN 9783593500836
campus.de

Zur Rezensentin: Magda Albrecht ist politische Bildnerin, Bloggerin und Musikerin. Sie befasst sich mit queer-feministischem Aktivismus, Widerstand(sbewegungen) und Körpernormierung. Magda schreibt für den feministischen Gemeinschaftsblog maedchenmannschaft.net.
Weitere Infos gibt es auf: magda-albrecht.de






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