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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 19.05.2010


Pinar Selek - Zum Mann gehätschelt zum Mann gedrillt. Männliche Identitäten
Undine Zimmer

Wie werden Männer eigentlich Männer? Und welche Prüfungen haben sie auf dem Weg dorthin zu bestehen? Die ausgezeichnete Autorin und politische Aktivistin Pinar Selek wandte sich auf ihrer Suche...




...nach Antworten direkt an "die Männer" und ließ sie selber zu Wort kommen. Selek kommt zu dem Schluss, dass Mannsein in der heutigen Zeit gar nicht so einfach ist.

Wo wird Männlichkeit erschaffen? fragt Pinar Selek und zählt die Initiationsstationen der Männlichkeit auf, die in der Türkei sehr präsent sind, sich aber auch auf andere Gesellschaften übertragen lassen. Es geht vor allem um den Druck und die Erwartungshaltungen von außen, die schon an die Kinder herangetragen werden, und über die sie sich - und die Gesellschaft - als Männer definieren. Von der Beschneidung bis zur Hochzeitsnacht müssen "Männer" immer wieder ihre "Männlichkeit" unter Beweis stellen. Der Wehrdienst steht, als die Form, in die der "Mann" gegossen wird, im Mittelpunkt. Zum einen hat Selek in ihrem Buch den Fokus auf den Wehrdienst gesetzt, weil er von den Männern selber als einschneidendes, prägendes und unvergessliches Ereignis wahrgenommen wird. Zum anderen gilt der Wehrdienst in der türkischen Gesellschaft als eine Schwelle zum vollwertigen Mann-Sein, die unbedingt überwunden werden muss, um als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft wahrgenommen zu werden.

Der Wehrdienst, so beschreibt Selek, gilt auch als die Vorbereitung zur Ehe. Oftmals wird von Seiten der Familie die Hochzeit schon ins Auge gefasst und eine Braut ausgesucht, bevor der Sohn zum Wehrdienst aufbricht. Nach seiner Rückkehr wird dann sofort geheiratet. Bis dahin wird der Mann zum Versorger, Beschützer und verantwortungsvollen Menschen in der Armee geschliffen. Ausgemustert zu werden ist eine gesellschaftliche Scham. Wie man durch das im Buch veröffentlichte Interviewmaterial erfährt, ist der abzuleistende Wehrdienst für die Betroffenen selber entweder eine lästige Pflicht oder etwas, worauf sie neugierig warten.

50 Männer hat Selek über ihre Erfahrungen beim Militär interviewen lassen. Gespräche, die sonst nur unter Männern im Cafehaus stattfinden hat Selek als Narrationen auf ihre Struktur und wiederkehrenden Motive untersucht. Dabei konnte sie diese Interviews auch nicht selber führen, sondern hat zwei Männer als Interviewer engagieren müssen. Die Tatsache, dass derartige Gespräche zwischen Männern und Frauen nicht möglich sind und schon gar nicht mit Aussicht darauf, veröffentlicht zu werden, zeigt das erste Tabu auf, dem sich Selek genähert hat.

Selek stellt fest, dass die Geschichten sich ähneln, die diese Männer erzählen. Wie schon angedeutet, treffen jedoch ganz verschiedene "Männlichkeiten" aufeinander, die unterschiedliche Erfahrungen anders verarbeiten und daraus auch unterschiedliche Schlüsse für ihre Selbstdefinition ziehen. Bemerkenswert ist auch die Beobachtung, dass in den Erzählungen selten direkt kritisiert wird, dass schmerzhafte Erfahrungen in Geschichten verpackt und als Erfahrungen Dritter wiedergegeben werden. So sind auch die meisten Fazite nach abgeschlossenem Wehrdienst positiv formuliert. Nur wenige behaupten, dass die Zeit sie nicht oder kaum beeinflusst hätte.

Besondere Beachtung findet bei der Konstruktion von Männlichkeit im Militär die Ausgrenzung von allem, was nicht mit dem normativen Männlichkeitsideal vereinbar ist. Was als weiblich empfunden wird, ebenso wie Trans- oder Homosexualität, wird als "nicht-männlich" definiert. Mit wenig theoretischem Ballast stellt Selek die unterschiedlichen Aussagen gegeneinander. Der Versuch, die Aussagen der Männer nicht aus feministischer Sicht wertend zu beurteilen, sondern sich selbst kommentieren zu lassen, ist ihr gelungen.

"Zum Mann gehätschelt zum Mann gedrillt" zeigt, dass (türkische) "echte Männlichkeit" ein komplexes Konstrukt ist und über viele Ansprüche mit allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens verwoben ist. Besonders durch das Militär wird Männlichkeit auch mit Sexualität und Macht verknüpft.

Zur Autorin: Pinar Selek wurde 1971 in Istanbul geboren. Die studierte Soziologin bezeichnet sich selber als politische Aktivistin und Feministin. Sie wurde bekannt dafür, Tabuthemen anzupacken, wie ihre Recherchen über Transsexuelle, Straßenkinder, SexarbeiterInnen und Konflikte mit KurdInnen und ArmenierInnen. Seit 1998 steht sie unter Terrorverdacht und kämpft gegen diese Vorwürfe an. Obwohl sie bereits zweimal freigesprochen wurde, soll im Mai 2010 zum dritten Mal eine Verhandlung stattfinden, die eine lebenslange Freiheitsstrafe für die Autorin fordert. Für "Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt." wurde Pinar Selek vom türkischen PEN-Zentrum mit dem diesjährigen Duygu-Asena-Preis ausgezeichnet.

Der P.E.N. Unterschriften Aktion für Pinar Selek kann man sich anschließen unter: www.ps-signup.de . Weitere Infos über Pinar Selek finden Sie auf www.pinarselek.com .

AVIVA-Tipp: Sich einem Thema zu nähern, das in der Öffentlichkeit nicht ohne weiteres angesprochen werden kann, ist immer eine schwierige Aufgabe. Ganz richtig hat Pinar Selek, indem sie die Form des ethnologischen und sozialwissenschaftlichen Genres "Interview" genutzt hat, das "Verborgene" ans Licht gebracht. Sie hat erkannt, dass die Definition des Weiblichen und die Definition des Männlichen sich gegenseitig bedingen, und die Narration von "Männlichkeiten" der Schlüssel zur Reflektion sein kann. Männer zu Wort kommen zu lassen, ist eine Aufgabe, die von der feministischen Forschung unbedingt selbstreflexiv weiter geführt werden sollte.

Pinar Selek
Zum Mann gehätschelt zum Mann gedrillt. Männliche Identitäten.

Orlanda Verlag, erschienen März 2010
Paperback 240 Seiten
ISBN: 978-3-936937-73-2
18.00 Euro


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Beitrag vom 19.05.2010

Undine Zimmer