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Beitrag vom 01.10.2008
Interview mit Annett Gröschner
Daniela Roschke
AVIVA-Berlin sprach anlässlich der Veröffentlichung des Kurzgeschichtenbandes "Parzelle Paradies. Berliner Geschichten" mit der Autorin Annett Gröschner über verschiedene Aspekte ihres Buches.
Annett Gröschner wurde 1964 in Magdeburg geboren. Sie kam 1983 nach Berlin und studierte zwischen 1983 und 1991 Germanistik in Ost-Berlin und Paris. Von 1992 an war Annett Gröschner vier Jahre lang als Historikerin im Prenzlauer Berg Museum tätig. Seit 1994 beteiligt sie sich an verschiedenen Ausstellungs-, Zeitungs- und Buchprojekten. Inzwischen ist Frau Gröschner seit elf Jahren als freie Autorin und Journalistin in Berlin tätig. Ihr bisher größter Erfolg war der im Jahr 2000 veröffentlichte Roman "Moskauer Eis". Für ihre publizistischen Werke wurde die Schriftstellerin unter anderem mit dem Anna-Seghers-Stipendium der Akademie der Künste Berlin und dem Erwin-Strittmatter-Preis des Landes Brandenburg ausgezeichnet. AVIVA-Berlin befragte Annett Gröschner anlässlich ihres im September 2008 in der Edition Nautilus erschienenen Buches "Parzelle Paradies. Berliner Geschichten".
AVIVA-Berlin: In Ihrer neuesten Veröffentlichung "Parzelle Paradies" erzählen Sie kritisch und liebevoll Geschichten über Ihre Wahlheimat Berlin. Was macht diese Stadt in Ihren Augen einzigartig? Was hat die deutsche Hauptstadt, was andere Städte nicht haben?
Annett Gröschner: Was mich an Berlin nach wie vor fasziniert, ist dieses Unfertige. Unzählige Herrscher haben sich über Stadtmodelle von Berlin gebeugt und niemand hat es geschafft, die Stadt wirklich nach seinem Willen zu verändern, sie war immer stärker. Das lässt mich hoffen, dass es noch eine Weile dauert, bis Berlin so wie München ist - die Leute ordentlich nach Schichten geordnet in der Stadt verteilt und die Mieten in der Innenstadt unbezahlbar. Am liebsten wäre mir natürlich, das würde gar nicht passieren, aber ich bin realistisch. Dass die Stadt arm ist, ist nach wie vor ihre Chance, auch wenn die Segregation zunimmt. Dass Berlin Hauptstadt ist, ist dabei unerheblich, das hält die Stadt aus.
Mich hat an Berlin immer die Geschichte interessiert, einschließlich die einer geteilten Stadt. Als ich vor 25 Jahren nach Ostberlin kam, sah man an den Fassaden in Mitte oder Prenzlauer Berg noch eine völlig andere Zeit. Da waren die Einschüsse, die Notdächer, die alten Reklamen, da waren die alten Frauen, die mehrere Epochen, von der Kaiserzeit an erlebt hatten. Deren Geschichten haben mich lange beschäftigt, mit ihnen habe ich die Vergangenheit sondiert, vor allem das Alltagsleben des 20. Jahrhunderts.
In Berlin lag die Geschichte bis vor kurzem quasi auf der Straße, an manchen Stellen ist sie, wenn man die Spuren zu lesen vermag, auch immer noch präsent, ohne dass man mit Tafeln auf sie hinweisen muss. Ein Beispiel, wenn Sie durch bestimmte Straßen in Wedding oder Neukölln fahren, sehen Sie heute noch die Spuren der Straßenbahnen im Pflaster, die hier schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr fahren.
AVIVA-Berlin: Sie haben bereits in anderen Städten gelebt, beispielsweise in Paris. Warum zieht es Sie dennoch, von kürzeren Unterbrechungen abgesehen, seit Anfang der 1980er Jahre immer wieder nach Berlin? Betrachten Sie Berlin als Ihre (einzige) Heimat?
Annett Gröschner:Ich bin mit 19 Jahren nach Ostberlin gekommen, weil das für mich die einzige Stadt in der DDR war, in der man einigermaßen atmen und bei Bedarf auch untertauchen konnte. Ich komme auch gut mit der etwas unfreundlichen Mentalität der Berliner klar, in bin inzwischen ein Teil davon. Berlin ist mein Lebensmittelpunkt. Ich fahre gerne weg, aber ich würde nicht gern woanders leben wollen. Es ist nur so, dass Berlin allein meine Familie nicht ernährt. Andererseits finde ich es auch gut, die Stadt ab und an von außen zu sehen, um sie in Relation zu setzen zur Welt drumherum. Denn der Nabel der Welt ist Berlin für mich nicht.
AVIVA-Berlin: Sie äußern in Ihrem Kurzgeschichtenband "Parzelle Paradies" Ihren Unmut über die "Gentrifizierung" des Prenzlauer Bergs. So erzählen Sie von horrenden Mieten, der neu entdeckten Freude des "niederen Adels" am Kinder Großziehen und der Entwicklung des Prenzlauer Berges zum "ausgeprägteste(n) Ghetto der Berliner Innenstadt". Während Ihrer Lesung erwähnten Sie außerdem, dass Sie zwar noch im Prenzlauer Berg wohnen, aber nicht mehr dort leben. Was macht für Sie den Unterschied zwischen leben und wohnen aus? Wo ist Ihr neuer Lebensmittelpunkt?
Annett Gröschner: Mein Lebensmittelpunkt ist inzwischen die ganze Stadt. Ich habe sehr viele Jahre in Prenzlauer Berg gewohnt, gelebt, Kinder großgezogen und über die Geschichte gearbeitet. Ich brauchte mich aus dem Stadtbezirk nicht zu entfernen, um in der Welt zu sein. Das ist jetzt anders und für mich ist auch gut so, denn irgendwann wurde diese Welt zu klein. Ich hatte alles erforscht, was zu erforschen war. Andererseits war ich Teil einer Bohème, die durch ihr Leben in Prenzlauer Berg den Ort für Leute interessant gemacht hat, die oberflächlich gesehen das gleiche, am Ende aber dann doch etwas ganz anderes wollten und soviel Geld hatten, den Ort nach ihrem Gutdünken zu verändern. Das Leben in Prenzlauer Berg ist mir inzwischen zu sehr von einer bestimmten Gruppe von Menschen bestimmt, für die es chic ist, hier zu wohnen, die aber zunehmend Leute mit kleinem oder - wie bei Künstlern häufig - unregelmäßigen Einkommen verdrängen. Die meisten, die früher hier gelebt haben, sind weggezogen, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten können oder sie sind gestorben. Manchmal mutet es wie ein Mittelklasse-Ghetto an. Inzwischen werden auch die ersten Gated Communities gebaut. Wenn die Welt drumherum zu kompliziert oder gefährlich ist, macht man das Tor einfach zu und passt auf, dass nur seinesgleichen Zugang hat. Das ist nicht meine Vorstellung vom Leben in einer Großstadt. Andererseits bin ich natürlich auch schon durch die Familie in Prenzlauer Berg verwurzelt.
AVIVA-Berlin: "Manchmal fühle ich mich schon den alten Berlinerinnen verwandt, die beim Flanieren durch die Straßen eine andere Stadt mit anderen Geschäften und Bewohnern sehen – die meisten tot." Sie blicken in Ihrem Buch hinter die Oberfläche des gerade Sichtbaren und suchen nach den Spuren der Vergangenheit. Was reizt Sie daran, immer wieder die Mühen dieser beschwerlichen Recherchearbeit auf sich zu nehmen, um Bruchstücke vergessener (Berliner) Geschichte zusammenzusetzen?
Annett Gröschner: Ich empfinde die Recherche nicht als beschwerlich. Jede Recherche ist für mich ein kleines Abenteuer, in jeder staubtrockenen Akte und wenn es nur die eines Schuppens ist, verstecken sich mitunter spannende Geschichten und in den erzählten Lebensgeschichten sowieso.
AVIVA-Berlin: Wenn Sie den zahlreichen Zugereisten und Neu-BerlinerInnen einen Tipp oder einen Leitfaden für das Leben in Berlin geben müssten, welcher wäre das?
Annett Gröschner: Ich glaube, jeder, der neu ankommt, muss sich erst einmal selbst orientieren. Man muss einen Faden aufnehmen und ihm ins Labyrinth der Stadt folgen. Ich habe Anfang der achtziger Jahre Berlin auch durch Literatur kennengelernt. Für mich war es Irina Liebmanns "Berliner Mietshaus", ein halbdokumentarisches Werk, das die Geschichten der Bewohner eines Hauses in Prenzlauer Berg beschrieb. Aber man kann sich natürlich auch erst einmal in eine der über 300 Bus- und Straßenbahnlinien oder in die Ringbahn setzen und sich treiben lassen.
AVIVA-Berlin: In "Parzelle Paradies" fragen Sie Ihre LeserInnen auch: "Was würden Sie machen, wenn Sie über Nacht Kanzlerin würden?" Was würden Sie denn (anders) machen, Frau Gröschner? Und was würden Sie insbesondere in der Stadt Berlin verändern?
Annett Gröschner: Ich bin vor allem Beobachterin, ich versuche, so wenig wie möglich zu werten, Ideologie ist meine Sache nicht. Ich weiß natürlich auch, dass man nicht über Nacht Kanzlerin wird. Wenn ich das gewollt hätte, hätte ich nach 1989, als ich Mitbegründerin des Unabhängigen Frauenverbandes war, in der Politik bleiben müssen. Ich wollte aber lieber Schriftstellerin sein. Trotzdem sehe ich natürlich die Defizite dieser Gesellschaft, in der mich vor allem der größer werdende Abstand zwischen arm und reich, die schlechten Bildungschancen der Mittellosen und das Abgehängtwerden großer Teile der Bevölkerung, also die Zumutungen dieses Turbo-Kapitalismus beschäftigen und oft auch empören. Das ist, wenn man sich nicht nur in einem Teil Berlins aufhält, sondern wie ich, entweder aus Neugierde und/oder berufsbedingt, in Berlin viel herumkommt und auch mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, verstärkt zu spüren. Die Veränderung muss im Bildungssystem anfangen, aber im Moment sehe ich eher eine gegenläufige Entwicklung. Leute mit Geld privatisieren die Ausbildung ihrer Kinder, anstatt die öffentlichen Schulen zu stärken und zu verbessern. Auch unter den Frauen sehe ich einen Verlust an Solidarität. Jede versucht ihre Probleme individuell zu lösen.
AVIVA-Berlin: Sie führen Ihre Leserinnen am Ende des Kurzgeschichtenbandes in einen "Frauenruheraum". Dort erinnern Sie die Frauen unter anderem daran, dass "jeder Fußbreit Terrain, den wir uns erobert haben, wenn es drauf ankommt, verteidigt werden muss." Was sind Ihrer Meinung nach die aktuellen Bedrohungen, denen die Emanzipation und die Freiheit der Frauen gegenüberstehen?
Annett Gröschner: Die allgemeine Meinung ist ja, wir sind emanzipiert und gut ist. Aber es ist eine gerade wieder durch Zahlen bestätigte Tatsache, dass Frauen weniger verdienen als Männer und dass Deutschland, was die Vereinbarkeit von Familie und Beruf angeht, in Europa eines der Schlusslichter ist. Frauen in Führungspositionen? Fehlanzeige. Nur weil es zwei drei meinungsstarke Moderatorinnen im Fernsehen und eine Kanzlerin gibt, gehört Frauen noch lange nicht die Hälfte der Welt. Und es gibt immer wieder Versuche, das Erkämpfte zu denunzieren, man muss sich nur die unsägliche Diskussion vor zwei Jahren in Erinnerung rufen, als Frauen für alles Elend der Welt und vor allem für das angebliche allmähliche Aussterben der Deutschen verantwortlich gemacht werden sollten. Solche Diskussionen werden immer wieder angezettelt werden und wir werden uns immer wieder dagegen wehren müssen.
AVIVA-Berlin: Können Sie unseren LeserInnen verraten, wie Ihre zukünftigen Projekte nach der Veröffentlichung von "Parzelle Paradies" aussehen?
Annett Gröschner: Ich arbeite an verschiedenen Projekten gleichzeitig. Gerade habe ich mit dem Fotografen Arwed Messmer, mit dem ich schon einige Projekte gemacht habe, ein Buchmanuskript beendet. Es heißt "Verlorene Wege" und beschäftigt sich mit dem Uranbergbau in Thüringen zu DDR-Zeiten. Außerdem gebe ich zusammen mit Grischa Meyer und Barbara Felsmann das Kriegstagebuch einer damals 18-jährigen Berlinerin heraus und werde am Ende des Jahres einen neuen Roman mit dem Arbeitstitel "Walpurgistag" beenden.
AVIVA-Berlin: Vielen Dank für das Interview und weiterhin viel Erfolg!
Weitere Informationen zu Annett Gröschner finden Sie online unter: www.annettgroeschner.de
Lesen Sie auch unsere Rezension zu "Parzelle Paradies. Berliner Geschichten" auf AVIVA-Berlin.