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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 30.07.2012


Interview mit Victoriah Szirmai
Sharon Adler

Ein Gespräch über die Entstehung und den Inhalt ihres Arbeitsbuchs "Juden im Tango = jüdischer Tango? Über die (Un-)Möglichkeit eines explizit jüdischen Beitrages zum Werden und Währen des ...




......´tango argentino´.

AVIVA-Berlin: Frau Szirmai, wie kamen Sie darauf, einen möglichen Zusammenhang zwischen Klezmer und Tango zu untersuchen?
Victoriah Szirmai: Nun, als ich Anfang der 2000er-Jahre begann, mich für die Thematik zu interessieren, gab es zumindest hier in Berlin eine Welle von Klezmer-Tango-Abenden, Klezmer-Tango-CDs und so fort. Ich hielt das schon damals für ein reines Marketingprodukt, das sich einfach gut verkauft, weil beide Musikstile eine ähnliche Zielgruppe ansprechen. Jedenfalls schien mir das Genre des Klezmertangos oder auch des jüdischen Tangos konstruiert, und ich schrieb einen polemischen Essay zu dem Thema (klangverfuehrer.de), der dann auch das Vorwort meiner Arbeit geworden ist. Außerdem wollte ich den von Ihnen angesprochenen möglichen Zusammenhang ja gar nicht beweisen, sondern ganz im Gegenteil in Popper´scher Tradition falsifizieren!

AVIVA-Berlin: Und was war dann das Ergebnis Ihrer Forschungen?
Victoriah Szirmai: Nachdem ich neun Monate lang – es war eine Art Schwangerschaft! - in verschiedenen Archiven in Berlin und Buenos Aires verbracht habe und Literatur in sieben Sprachen ausgewertet, unzählige Musikbeispiele gehört, Notentexte analysiert und mit sowohl Tango- als auch Judaistikforschern gesprochen habe, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es natürlich historische Klezmerkapellen gab, die Tango gespielt haben – das mussten sie auch, schließlich waren es Tanzmusikbands, und Tango war damals unglaublich populär! Aber auch, wenn sie ihn vielleicht Klezmer-geprägt phrasiert haben, ist das noch lange kein jüdischer Tango. Wenn ein Kirchenchor Swing singt, ist das ja auch kein christlicher Swing.
Allerdings bin ich auch auf das Phänomen des jiddischen Tango im jüdischen Theater gestoßen. Hier gibt es originäre Kompositionen. Mit Klezmer hat das allerdings höchstens so viel zu tun, dass viele Protagonisten des jüdischen Theater durch ihre Familie – der Vater gibt seinen Beruf an den Sohn weiter und so fort – einen Klezmer-Background haben, ihre musikalische Ausbildung also in der Klezmer-Tradition stattfand.
Und dann bin ich auf das große Thema der Judenvertreibungen aus Russland zur Zeit Alexanders III. gestoßen. Viele russische Juden sind 1881 nach Nordamerika emigriert – und durch die heraufziehende zionistische Bewegung war auch Palästina als Ziel ein Thema! –, es sind aber auch Tausende nach Südamerika ausgewandert, wo man als Alternative zu Palästina richtiggehende jüdische Kolonien ansiedelte. Die Flucht aus Russland traf außerdem auf das zeitgleiche Phänomen, dass Argentinien zu dieser Zeit Einwanderern aus der alten Welt Tor und Tür geöffnet hatte – hier trafen sich also Vertreibung einerseits und gewolltes Bevölkerungswachstum, andererseits. Und ich konnte in meiner Arbeit zeigen, dass unter den jüdischen Emigranten überproportional viele Musiker waren. Das hat etwas mit den damaligen Berufsverboten für Juden in Russland zu tun.
Erstaunlicherweise blieb ihnen aber das Konservatorium geöffnet, sodass viele den Musikerberuf ergriffen. Dadurch, dass wenig Interaktion zwischen der jüdischen und der russischen Bevölkerung stattfand, waren die jüdischen Musiker, auch wenn sie Klassik studierten, familiär in der Klezmertradition verhaftet. Jedenfalls sollte sich dann in Argentinien aus den traditionellen Musikstilen der Einwanderer sowie heimischen Klängen das entwickeln, was wir heute als Tango kennen. Daran hatten jüdische Musiker einen großen Anteil, ja. Zum jüdischen Tango macht das den Tango aber trotz aller hierauf abzielenden Marketingaktivitäten nicht.

AVIVA-Berlin: Das ist, verkürzt, der Inhalt Ihrer Arbeit "Juden im Tango = jüdischer Tango? Über die (Un-)Möglichkeit eines explizit jüdischen Beitrages zum Werden und Währen des tango argentino". Was erwartet die LeserInnen noch?
Victoriah Szirmai: Nun, neben der ausführlich dargestellten Lage der russisch-jüdischen Musiker, ihrer Vertreibung und ihrer Ankunft in der Neuen Welt – also quasi einer kleinen Geschichtsstunde – erwartet die Leser vor allem ein Einblick in die gesellschaftlichen Umstände des Buenos Aires zum Ende des 19., Beginn des 20. Jahrhunderts – und wie Tango hier als Vehikel zur Akkulturation diente, zum Ankommen in der Neuen Welt und schließlich zum Entwickeln einer eigenen Argentinidad, also Argentinizität. Schließlich interessiert mich als Musiksoziologin vor allem, wie bestimmte Gesellschaftsformen bestimmte Musikkulturen hervorbringen oder zumindest prägen. Darüber hinaus gibt es in der 318-seitigen Arbeit Portraits der wichtigsten jüdischen Protagonisten des argentinischen Tangos, einen Abbildungsteil mit vielen Notenbeispielen, Hörproben und Quellen. Der Schwerpunkt liegt aber ganz klar auf der soziokulturellen Analyse, auf der Beleuchtung der Lebensumstände, die zum Phänomen jüdischer Tango geführt haben, wobei ich mit dem Begriff bis heute Schwierigkeiten habe und nach wie vor behaupten möchte, dass es einen solchen nicht gibt. Ich nenne es lieber jüdische Musiker im Tango.

AVIVA-Berlin: Nun datiert Ihre Arbeit ja von 2006. Wieso ist sie jetzt auf einmal Thema?
Victoriah Szirmai: Das ist eine gute Frage. Scheinbar gibt es für bestimmte Dinge bestimmte Zeiten, zu denen sie ein allgemeines Interesse erregen. Parallel zu diesem Interview ist beispielsweise ein Exemplar der Arbeit von der "el tango – revista Viena" angefordert worden, einer Wiener Tangozeitschrift. Vielleicht hat es auch etwas mit der Rezession zu tun, schließlich sagt man ja nicht umsonst: Mit der Krise kommt der Tango ... Was ich 2006 im Ausblick erst angedeutet habe, sind diese ganzen Electro-Tango-Geschichten à la Gotan Project – das übrigens auch einen jüdischen Sologeiger featuret – oder Bajafondo Tango Club. Das ist auch eine Musik, die mich ganz privat interessiert – und der ich als Musikrezensentin immer wieder Artikel widme. Diese Electro-Geschichten müssen auch gar nicht im Tango verhaftet bleiben, ich mag auch diese Verve Unmixed/Remixed-Sachen, ich mag die Electro Swing Revolution und so weiter. Tanzmusik für Intellektuelle, könnte man auch dazu sagen. Und wenn fähige DJs respektvoll mit den alten Stücken umgehen, können sie manchmal Seiten ans Licht bringen, die beim Original bislang verborgen waren. Das finde ich faszinierend.

AVIVA-Berlin: Das heißt, Sie arbeiten jetzt gar nicht mehr als Musikwissenschaftlerin, sondern schreiben hautsächlich nur noch Musikrezensionen?
Victoriah Szirmai: Musikkritik ist ja durchaus ein Bestandteil der Musikwissenschaft. Das gilt übrigens auch für die Rezension von Popmusik. Und man erreicht auch bedeutetend mehr Leute, wenn man über schöne CDs spricht, die die Leser unbedingt mal hören müssen bzw. über schreckliche CDs, vor denen man nur warnen kann, als wenn man Notentexte analysiert und das in einer winzigen Fachzeitschrift publiziert. Außerdem kann man hier ja auch pädagogisch, da geschmacksbildend wirken ... Ich freue mich da auch über jeden Leserbrief, wenn das geklappt hat – und auch umgekehrt, wenn die Leser gar nicht einverstanden sind mit meiner Meinung. Nicht zuletzt bin ich auch deshalb mit Leib und Seele Musikkritikerin, weil ich hier eigenes Fantum bedingungslos leben kann. Das geht in der Wissenschaft eher weniger. Aber man soll ja nie nie sagen – wenn mich wieder mal ein Thema packt, könnte es sein, dass ich wieder forschend arbeiten werde. Im Moment interessiert mich die Frage, ob es eine Art Objektivität im Sinne allgemeingültiger ästhetischer Kriterien in der Musikkritik überhaupt geben kann. Im Vordergrund steht aber aktuell meine Kolumne auf fairaudio.de, und daneben tobe ich mich in meinem eigenen Blog, dem Klangblog, aus. Sie können mich dort gern besuchen!

AVIVA-Berlin: Das machen wir! Erst einmal aber bedanken wir uns herzlich für das Interview.

Das Arbeitsbuch "Juden im Tango = jüdischer Tango? Über die (Un-)Möglichkeit eines explizit jüdischen Beitrages zum Werden und Währen des ´tango argentino´. Mit einer kritischen Einführung zu Vermarktung und Rezeption des Phänomens ´jüdischer Tango´" bekommt mensch im Textladen von klangverfuehrer.de: www.klangverfuehrer.de



Victoriah Szirmai, Jahrgang 1976, studierte Musikwissenschaften mit den Schwerpunkten Musiksoziologie und Rock- & Popmusikforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 15 Jahren veröffentlicht sie CD-Kritiken, in den letzten vier Jahren als eigene Kolumne "Victoriah´s Music" auf fairaudio.de, dem Online-HiFi-Magazin. Schwerpunkte: Jazz, Pop, Soul, Balkan, Electro. Daneben betreibt sie ihre eigene Internetpräsenz klangverfuehrer.de mit dem Klangblog, wo es KünstlerInnenportraits, Interviews und Konzertkritiken gibt.


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Beitrag vom 30.07.2012

Sharon Adler