Susann S. Reck über ihren Film Blender. Im Juli 2016 im Psychiatrie-Verlag als DVD erschienen - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Interviews



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 28.09.2015


Susann S. Reck über ihren Film Blender. Im Juli 2016 im Psychiatrie-Verlag als DVD erschienen
S.Adler und C. Lempp

Die Filmemacherin wuchs als Tochter des Direktors im psychiatrischen Wohnheim auf. Mit ihrem Dokumentarfilm spürt sie Lebensgeschichten der langjährigen Bewohner_innen und eigene Erinnerungen auf




Anfang der 1970er Jahre baute Susann S. Recks Vater ein Wohnhaus für Menschen mit einer psychiatrischen Diagnose auf. Mitten im Allgäu auf dem Berg Blender liegt das gleichnamige Wohnheim. Hier verbrachte auch Susann S. Reck als Tochter des Direktors einen großen Teil ihrer Kindheit und Jugend und bis heute ist die Verwaltung des Heims in Familienhand. Manche Bewohner_innen sind ebenso lange hier, wie das Heim besteht. "Blender" ist jetzt auch der Titel der Dokumentation über diesen Ort und seine Menschen. Susann S. Reck, die heute als Regisseurin und Dramaturgin arbeitet, begleitete einige von ihnen über vier Jahre hinweg mit der Kamera. Entstanden sind eindringliche und bewegende Porträts über Schicksale, Erfahrungen und Alltag psychiatrischer Patient_innen. Ein Dasein das hier auf dem Berg auch inmitten der Natur stattfindet. Susann S. Reck arbeitet mit diesen Panoramen und gibt der Dokumentation so ein fast meditatives Tempo vor, das den Blick auf die Menschen fokussiert.

Mit AVIVA-Berlin sprach die Regisseurin über die Entstehung des Films und das Leben im psychiatrischen System.

AVIVA-Berlin: Für "Blender" haben Sie drei Jahre lang gedreht. Dabei kam sicher eine Menge Filmmaterial zusammen. Wie oft waren Sie in dieser Zeit im Allgäu und wie haben Sie das endgültige Material ausgewählt?
Susann S. Reck: Ich bin mehrmals im Jahr auf den Blender gefahren, je nachdem, was im Leben meiner Protagonisten gerade passierte. Tatsächlich hatte ich am Ende eine ganze Menge tolles Material, von dem ich natürlich vieles nicht verwenden konnte. Was im Film letztlich zu sehen ist, ist immer eine Mischung von Szenen, die ich als Regisseurin unbedingt haben wollte und solchen, die der Schnitt ab einem bestimmten Punkt verlangt - da wurden manchmal Bilder und Szenen wichtig, die ich zunächst gar nicht beachtet oder als uninteressant eingestuft hatte.

AVIVA-Berlin: Der Film nimmt eine beobachtende Rolle ein. Dennoch ist ganz klar eine Art Vertrauensverhältnis zwischen Ihnen und den Protagonist_innen da. Menschen wie Friedlieb kennen Sie ja fast ein Leben lang. Wie hat das die Dreharbeiten beeinflusst?
Susann S. Reck: Das Verhältnis änderte sich in dem Moment, als klar wurde, dass ich sie filmen wollte. Die Protagonisten standen mir und meinem Projekt am Anfang durchaus misstrauisch und kritisch gegenüber.
Da fielen Sätze wie "warum willst du uns aufnehmen, willst du dich etwa lustig machen?" oder "Wir wissen doch selbst, dass wir verrückt sind, dafür brauchen wir dich nicht". Ich habe mir dann die Zeit genommen, sie zunächst nur zu fotografieren und ihnen die Bilder zu zeigen. Ich wollte, dass sie sehen, wie ich sie sehe. Außerdem habe ich dadurch die Präsenz einer Kamera eingeführt und es entwickelte sich bald eine Art Normalität mit dem künstlichen Auge. Irgendwann habe ich den Fotoapparat dann durch die Filmkamera eingetauscht und keinen hat es mehr gestört. Jemand wie Friedlieb oder auch Marie, die so zurückgezogen leben und so menschenscheu sind, haben sich sogar auf die Drehs gefreut.

AVIVA-Berlin: Die Protagonist_innen im Film sind hauptsächlich männlich. Wie bewusst ist Gender in Ihre Auswahl eingeflossen?
Susann S. Reck: Ich fand es zunächst überhaupt nicht gut, dass mein Film von fünf Männern und nur einer Frau bestritten werden sollte. Aber es war leider nicht zu ändern. Während ich meine ProtagonistInnen gesucht habe, gab es einfach nur Marie, die sich über solange Zeit filmen lassen konnte und wollte. Andererseits gibt es in der momentanen Psychiatrie ohnehin einen Überhang an Männern - insofern bildet das ungleiche Verhältnis sogar die Realität ab.

AVIVA-Berlin: "Koffer, Zimmer und Pillen". Sie zeigen den Alltag in einer psychiatrischen Institution ungeschönt. Auch wenn sich die Bewohner_innen relativ frei im Haus bewegen können, scheint es unsichtbare Grenzen zu geben. Die Tage sind durch die Mahlzeiten, Zigaretten- und Kaffeepausen und die Medikamentenausgabe strukturiert. Sie erinnern sich im Film daran, dass Sie als Kind manchmal auch gerne Pillen bekommen hätten. Wie haben Sie diesen ganz eigenen Rhythmus heute erlebt?
Susann S. Reck: Der strukturierte Alltag ist der Versuch, die Bewohner zu stabilisieren und sie in der Realität zu halten.

AVIVA-Berlin: Im Film sprechen Sie davon, sich auf die andere Welt der Bewohner_innen einzulassen. Inwiefern haben Sie als Kind diese Trennung wahrgenommen?
Susann S. Reck: Sehr stark und überhaupt nicht. Ich habe unbewusst akzeptiert, dass viele sehr in sich versunken sind und mich oft nicht einmal wahrnehmen, geschweige denn "Hallo!" sagen. Ich selbst erhielt oftmals keine Antwort. Insofern habe ich natürlich verstanden, dass Welten zwischen uns sein müssen, dass Regeln, die sonst gelten, außer Kraft sind.
Andererseits haben mir diese Erwachsenen auf dem BLENDER weder Vorschriften gemacht noch mich sonst in irgendeiner Weise zurechtgewiesen. Ich habe nicht erlebt, dass ein Bewohner mich nicht ernst nahm, nur weil ich ein Kind war, dass jemand eine kritische Bemerkung über meine Kleidung machte. Sie waren toleranter als außerhalb des Heims, auch das habe ich begriffen und als positiv verbucht. Wahrscheinlich hat es mich auch dahingehend beeinflusst, dass ich mich leichter auf ihre Welten einlassen konnte, dass auch ich sie ernst nehmen wollte, auch wenn das Erzählte manchmal unglaubwürdig klang und das was sie taten ein bisschen skurril war, jemand wie Frau Holland zum Beispiel, die jeden Morgen fast vollständig angezogen vor ihrem Bett stand, nur die Strümpfe fehlten noch, die lagen auf der Decke. Frau Holland nahm einen Strumpf und fing an zu beten, Vater unser im Himmel, und legte ihn zurück, fing von vorne an, nahm den anderen Strumpf zur Hand und nur wenn es wirklich gut lief, aus welchen Gründen auch immer, zog sie ihn an und kam auch im Gebet ein gutes Stück weiter. Meistens aber lief es nicht rund. Sie legte auch diesen zurück auf die Decke und fing wieder von vorne an mit beten, bis sie´s erneut mit einem Strumpf versuchte. Es konnte Mittag werden bis das Gebet zu Ende gesprochen war und sie Strümpfe und Schuhe angezogen hatte, aber natürlich bekam ich nie heraus woran es lag, dass sie sooft beim Vaterunser "festhing", einfach nicht weiterkam und den Strumpf nicht anziehen konnte.

AVIVA-Berlin: Ihre Geschwister arbeiten auch heute noch im "Blender". Was empfinden Sie bei dieser Vorstellung: Bewunderung, Neid, oder Schuldgefühle? Und wenn ja, warum?
Susann S. Reck: Wir leben in einer Welt, in der nahezu alles den Kriterien der Rentabilität, der Gewinnmaximierung und des Designs unterworfen ist. Unser Gesundheitssystem ist inzwischen soweit pervertiert, dass nahezu jeder Handgriff einer Pflegeperson schriftlich festgehalten und jede Zuwendung zu einer Serviceleistung degradiert wird, die wiederum einen bestimmten Geldwert besitzt. Ich bewundere deshalb jeden, der innerhalb dieses menschenverachtenden Systems versucht, das Leben in einem Heim, in einem Krankenhaus oder einer Klinik ein stückweit human zu gestalten - das trifft natürlich auch auf die Mitarbeiter des BLENDER und auf meine Geschwister zu.

AVIVA-Berlin: "Natürlich wollte ich bestimmte Dinge herausfinden, aber manchmal spürte ich, dass es falsch war, zu fragen". Können Sie das bitte näher erläutern? Sie waren ja ganz nah dran an den Menschen im Blender...
Susann S. Reck: Dieser Ausspruch bezieht sich auf eine bestimmte Stelle im Film. Friedlieb sitzt auf einer Bank und hört mit seinen Kopfhörern Musik, ich sitze daneben und will ihn eigentlich fragen, warum er sie immerzu hört, warum er die Kopfhörer so gut wie nie abnimmt. Mir war klar, dass es ihm nicht nur ums Hören ging, ich aber in eben dieser Situation keine Antwort bekommen würde - nicht, weil er keine Lust hatte zu reden, sondern weil er in diesem Moment keinen Ausdruck dafür finden würde, was mit ihm geschah - Friedlieb hörte Musik, um die Stimmen zu übertönen, die ihm befahlen sich umzubringen.

AVIVA-Berlin: Welcher filmischen Mittel haben Sie sich beim Drehen bedient, was waren die größten Herausforderungen und Erfolgeserlebnisse?
Susann S. Reck: Die Natur als eigene Bild- und Erzählebene spielt in meinem Film eine große Rolle, weil sie oftmals in Wechselwirkung zur Befindlichkeit meiner Protagonisten steht. Ein anderes Mittel ist der Umgang mit den Interviews. Ich habe im Film bewusst auf Pflegepersonal verzichtet, das sich zu den Protagonisten äußert. Ich mag den bevormundenden Charakter eines solchen Vorgehens nicht. Deshalb gibt es nur Interviews mit den Protagonisten selbst. Das war in gewisser Weise riskant, weil nichts abgesprochen werden konnte und ich vorher nie wusste, was einer über sich selbst erzählen würde. Dieser Umgang mit dem Risiko gehört sicher zu den größten Herausforderungen des Films. Auch gab es kein Drehbuch. Ich wusste zu Anfang nicht, in welche Richtung sich die Protagonisten entwickeln würden, und ob überhaupt etwas passiert. Der Intuition zu folgen, war für mich und meine Arbeit zwar sehr reizvoll. Hinsichtlich einer möglichen Förderung war es leider ein Alptraum. Zu den größten Erfolgserlebnissen gehört deshalb auch, dass der Film eine Öffentlichkeit bekommen hat, obwohl er ohne eine solche staatliche Förderung entstand.

AVIVA-Berlin: An welchen persönlichen Grenzen sind Sie selbst in diesem – jahrelang währenden – Prozess getreten?
Susann S. Reck: Vor allem anderen, bin ich an eine finanzielle Grenzen gestoßen. Das ganze Projekt hat auch solange gedauert, weil ich jede Phase irgendwie finanzieren und nebenher auch noch von etwas leben musste. Abgesehen davon, nimmt dich ungefördert kaum ein Kollege ernst.

AVIVA-Berlin: Nach welchen Kriterien haben Sie die Filmmusik ausgesucht?
Susann S. Reck: Ich habe den Komponisten Donald Rubinstein während der Jahre der Filmentstehung kennengelernt. Eines Tages habe ich Friedlieb (einem der Protagonisten) Donalds Musik mitgebracht. Ich war einfach neugierig wie er die findet. Friedlieb stand auf die Stones, die Doors, auf Mick Jagger. Alles Musik, die er während seiner Zeit als Matrose auf See gehört hatte. Donalds Blues hat ihm dann sehr gefallen, sie hat ihm irgendwie entsprochen. Also habe ich Donald gefragt, ob er die gesamte Filmmusik machen will.

AVIVA-Berlin: Wer außer Ihnen war noch am Prozess des Filmens beteiligt, welche Anforderungen haben Sie an sich selbst gestellt?
Susann S. Reck: Während des Drehs war ich alleine. Dabei war eine der größten Herausforderungen nicht das Bild sondern der professionelle Umgang mit dem Ton. Beim Schnitt hat mir Annette Muff geholfen, bei der gesamten Postproduktion Arpad Bondy. Beide waren sehr wichtig für die Dramaturgie und den Rhythmus des Films.

AVIVA-Berlin: Was wünschen Sie sich für diesen Film, wie geht es weiter?
Susann S. Reck: Ich wünsche mir, dass er ein langes Leben hat, also, dass ihn möglichst Viele sehen!

AVIVA-Berlin: Vielen Dank für das Interview!


Mehr Informationen zum Film gibt es unter: www.blender-aktuell.com

BLENDER – Dokumentarfilm auf DVD
Regie, Kamera, Schnitt: Susann S.Reck
D 2014
Laufzeit: 105 Minuten
Deutsche und englische Fassung
Psychiatrie-Verlag, erschienen Juli 2016
www.psychiatrie-verlag.de



Zur Filmemacherin: Susann S. Reck, 1966 geboren im Allgäu 1966, aufgewachsen in München und Barcelona.
Regieassistenzen an verschiedenen Theatern, Magister der Philosophie. Regiearbeiten. Flucht: die meisten Theaterstücke waren unerträglich konventionell.
Dann noch einmal Filmregiestudium in Babelsberg mit Schwerpunkt Dokumentarfilm. Seitdem freiberuflich als Regisseurin, Autorin, Dramaturgin, Coach.
Bei AVIVA Rezensentin für Graphic Novels, Literatur, Philosophie, Film.
Ihre Firma: Red Island Productions.
Homepage der Regisseurin www.susannreck.de


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Copyright Foto von Susann S. Reck: Sharon Adler




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Beitrag vom 28.09.2015

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