Noa Luft: Das florierende, pluralistische, junge Judentum – weg vom Opfernarrativ - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Interviews



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 10.05.2023


Noa Luft: Das florierende, pluralistische, junge Judentum – weg vom Opfernarrativ
Sharon Adler, Noa Luft

Noa Luft ist Vorstandsmitglied im "Jungen Forum Berlin e.V." der Deutsch-Israelischen-Gesellschaft e.V. (JuFo Berlin) und ehemalige Geschäftsführerin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD). Außerdem ist sie Koordinatorin der "Jüdischen Campuswoche". Im Gespräch mit Sharon Adler erzählt sie, wie durch den Austausch von jüdischen und nichtjüdischen Studierenden Vorurteile abgebaut werden können.




Sharon Adler: Neben deinem Vornamen Noa hast du einen weiteren Vornamen: Phania. Ist Phania dein jüdischer Name? Welche Geschichte steht dahinter, welchen familienbiografischen Bezug gibt es zu diesem Namen?

Noa Luft: Noa hat sich zwar mehr etabliert, aber Phania hat für mich eine große Bedeutung. Der Name ist ein Bezug zu meiner jüdischen Herkunft, oder konkreter: die Verbindung zu meinen jüdisch-sowjetischen Wurzeln. Phania war der Name meiner Urgroßmutter. Ich habe sie zwar nie kennengelernt, aber durch den Namen einen Bezug zu ihr. Sie hat in Russland, in der Nähe von Moskau, gelebt. Meinen Eltern war es sehr wichtig, dass ich ihren Namen trage.

Sharon Adler: In deiner Biografie schreibst du, dass du in einer deutsch-israelisch-sowjetischen Familie aufgewachsen bist. Wie haben dich diese unterschiedlichen Herkunftsbezüge geprägt?

Noa Luft: Das hat mich sehr geprägt. Insbesondere der israelische Bezug, was damit zu tun hat, dass ich in Israel viel Familie habe. Auch meine Großeltern haben dort gelebt. Als ich klein war, sind wir als Familie regelmäßig im Sommer dorthingereist, wodurch ich die israelische Kultur erleben konnte. Das hatte einen großen Einfluss auf mein weiteres Leben. Bei uns zuhause wurde auch Hebräisch gesprochen und es wurde israelische Musik gespielt. Ich denke, dass dieser Einfluss letztendlich der Grund war, warum ich nach dem Abitur nach Israel und in einen Kibbuz gegangen bin.

Engagement

Sharon Adler: Seit deinem 12. Lebensjahr engagierst du dich in der jüdischen Jugendarbeit. Wie kam es dazu, in welcher Organisation hast du dich engagiert und was möchtest du der jüngeren Generation vermitteln, wofür willst du sie stark machen?

Noa Luft: Meine ersten Kontakte zu einem jungen jüdischen Umfeld hatte ich im Teenager-Alter, mit zwölf, dreizehn Jahren, als ich zum ersten Mal auf ein Machane gefahren bin. Mit vierzehn Jahren bot sich mir die Möglichkeit, an einer Seminarreihe teilzunehmen, die von der Organisation World ORT organisiert wurde und die sich an junge Jüdinnen und Juden aus Europa, der Türkei und der ehemaligen Sowjetunion richtete. Diese Bildungsreise führte nach London, Israel und Straßburg. Insbesondere diese Reise hat mich sehr geprägt, weil sie mir gezeigt hat, wie vielfältig das europäische Judentum ist und wie sehr es sich auch zu dem in Deutschland unterscheidet. Es gab Teilnehmende beispielsweise aus Rom oder London, die in einem ausschließlich jüdischen Umfeld aufgewachsen sind.

Für mich war das damals neu: jüdische Jugendliche in meinem Alter zu treffen, die in einem jüdischen Kindergarten, einer jüdischen Grundschule und auf einer weiterführenden jüdischen Schule waren und bei denen auch die Freizeitaktivitäten von einem rein jüdischen Umfeld geprägt waren.

Ich bin in einem Vorort von Köln aufgewachsen und kannte das gar nicht. Das war für mich die Motivation, selber Initiative zu zeigen. Dadurch bin ich regelmäßig auf Machanot gefahren, habe meine Madricha-Ausbildung begonnen und bin dann, als ich 18 Jahre alt war, als Madricha auf Machanot mitgefahren. Mein Umzug nach Berlin war ein wichtiger Schritt für mich und meine jüdische Identität, vor allem, als ich meine Tätigkeit bei der JSUD begonnen habe. Damit hatte ich die Verbindung zum Judentum und zu anderen jüdischen Menschen. Auch die Tatsache, in Berlin zu leben, der Stadt, die das größte Angebot an jüdischen Veranstaltungen und generell jüdischem Leben hat, war für mich sehr besonders. Deswegen war auch mein Engagement für die JSUD so bedeutend für mich.

Mir ist es wichtig, dass sich in der jungen Generation ein positives Verständnis der eigenen jüdischen Identität etabliert. Dass man nicht mehr das Bedürfnis hat, seine jüdische Identität verstecken zu müssen.

Sharon Adler: Hast du deine jüdische Herkunft schon einmal bewusst verschwiegen?Noa Luft: Bewusst nicht, ich bin immer sehr offen damit umgegangen. Weil ich stolz auf meine jüdische Herkunft und Identität war und nie das Bedürfnis verspürt habe, dass ich etwas verschweigen müsste.

Die Jüdische Studierendenunion Deutschland (JSUD)

Sharon Adler: Mit welchen Zielen hast du dich 2019 als neue Geschäftsführerin der JSUD beworben?

Noa Luft: Ich habe mich ja als Jugendliche schon in vielen jüdischen Organisationen engagiert. Nachdem ich nach Berlin gezogen war, hatte ich zuerst weniger Kontakt zur jüdischen Community, dann aber schnell gemerkt, dass mir das fehlte. Als ich von der Stelle bei der JSUD erfahren hatte, sah ich das als eine gute Chance, mich wieder in das jüdische Leben einzubringen. Mir war es wichtig, das junge jüdische Leben in Deutschland aktiv mitgestalten zu können. Die junge Generation in ihrer jüdischen Identität zu stärken.

Sharon Adler: Was kannst du über die Arbeit der JSUD berichten? Wie lauten eure innerjüdischen Forderungen als Interessenvertretung in den Jüdischen Gemeinden? Für welche Belange will sie ein Sprachrohr sein?

Noa Luft: Die Jüdische Studierendenunion vertritt die Interessen junger jüdischer Studierender und Erwachsener in Deutschland in gesellschaftlicher wie auch politischer Hinsicht. Die JSUD agiert sowohl nach innen, also in die Jüdische Gemeinschaft hinein, als auch nach außen in die deutsche Mehrheitsgesellschaft.

Noa Luft © Sharon Adler/PIXELMEER
Noa Luft ist Vorstandsmitglied im Jungen Forum Berlin e.V. der Deutsch-Israelischen-Gesellschaft e.V. (JuFo Berlin),
ehemalige Geschäftsführerin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) und Koordinatorin der Jüdischen
Campuswoche. Noa Luft: "Mir ist es wichtig, dass sich in der jungen Generation ein positives Verständnis der eigenen
jüdischen Identität etabliert."
(© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)

Es hat sich jedoch über die Jahre die Tendenz gezeigt, dass sich junge Menschen nicht mehr so ganz von den Jüdischen Gemeinden abgeholt fühlen und deswegen auch weniger in ihnen vertreten sind oder ein Teil von ihnen sein möchten. Uns ist es wichtig, dass gerade in den Jüdischen Gemeinden die jungen jüdischen Stimmen berücksichtigt werden und mehr Präsenz bekommen. Aber wir möchten auch den Austausch mit den Jüdischen Gemeinden fördern und den Raum dafür schaffen. Junge Menschen haben andere Themen, diversere, inklusivere.

Das sind Punkte, die in der Zukunft berücksichtigt werden müssen, weil sonst junge Menschen kein Interesse haben werden, sich in Jüdischen Gemeinden zu engagieren. Konkret versuchen wir das umzusetzen, indem die JSUD die lokalen Jüdischen Gemeinden bei ihren Seminaren und Veranstaltungen einbindet. Wir haben beispielsweise letztes Jahr ein Seminar in den SchUM-Städten Speyer, Mainz und Worms durchgeführt und vor Ort die Jüdischen Gemeinden mit eingebunden. Die Jüdischen Gemeinden sind immer sehr zuvorkommend und unterstützend. Dadurch können wir eine Brücke zwischen der jungen Generation und den Gemeinden bauen und den Austausch fördern.

Sharon Adler: Es gibt circa 25.000 junge jüdische Erwachsene in Deutschland. Wer sind die Menschen, die ihr mit der JSUD vertretet?

Noa Luft:Es ist wichtig zu erwähnen, dass sich die Zahl 25.000 an den Mitgliederzahlen der Jüdischen Gemeinden in Deutschland bemisst. Diese können alle an unseren Veranstaltungen teilnehmen. Wir haben darüber hinaus noch diejenigen, die sich sehr aktiv und bewusst bei der JSUD engagieren. Sie nehmen an den JSUD-Angeboten und Seminaren teil oder organisieren selbstständig Veranstaltungen. Wir schätzen die Zahl auf circa 300 Personen.

Sharon Adler: Wie gelingt es euch, die verschiedenen jüdischen Identitäten, die Vielfältigkeit und Diversität der jungen jüdischen Generation abzubilden und unter einen Hut zu bringen?

Noa Luft: Verschiedene jüdische diverse Identitäten abzubilden, ist an sich eine Herausforderung. Die JSUD versucht durch Kooperation mit anderen Organisationen, wie beispielsweise mit dem queer-jüdischen Verein Keshet, der modern-orthodox ausgerichteten Organisation Morasha und der global vertretenen jüdischen Organisation Hillel verschiedene Themenfelder abzudecken und Angebote für eine Vielfalt von Personen zu schaffen.

Sharon Adler: Worauf liegt der Fokus der JSUD bei der Interessensvertretung der Perspektive der jungen jüdischen Generation nach außen, in den universitären Bereich?

Noa Luft: Hier geht es insbesondere darum, die gesellschaftspolitischen Interessen zu vertreten. Beispielsweise versucht die JSUD momentan auf politischer Ebene, das Problem mit der Terminierung von Staatsexamina zu beheben. Es kommt immer wieder vor, dass die Staatsexamina der Studiengänge Medizin und Jura auf die Hohen Jüdischen Feiertage fallen, wie beispielsweise auf Rosch ha-Schana oder Jom Kippur. Da müssen Studierende dann zwischen ihrer Religion und dem Antreten der Prüfung entscheiden.

Die JSUD bringt dieses Thema insbesondere auf politischer Ebene ein, um die zuständigen Institutionen auf die Besonderheit der Terminierung aufmerksam zu machen – mit dem Ziel, dass Staatsexamina zukünftig nicht mehr auf jüdische Feiertage gelegt werden beziehungsweise jüdische Studierende ohne Nachteil von diesen zurücktreten können. Zurzeit müssen jüdische Studierende die Staatsexamina zum Teil um ein Jahr verschieben, wenn sie sich dazu entscheiden, an Jom Kippur keine Klausur zu schreiben. Das ist ziemlich unfair. Es finden schließlich auch keine Klausuren am 24. Dezember statt.

 Noa Luft © Sharon Adler/PIXELMEER
Noa Luft und Lars Umanski, der Vizepräsident der Jüdischen Studierendenunion Deutschland, im Büro der JSUD
in Berlin. Noa Luft: "Die Jüdische Studierendenunion vertritt die Interessen junger jüdischer Studierender und
Erwachsener in Deutschland in gesellschaftlicher wie auch politischer Hinsicht."
(© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)

Sharon Adler: Ein weiteres Projekt, das du als Koordinatorin, auch über deine Tätigkeit als Geschäftsführerin hinaus, im Kontext der JSUD begleitet hast, ist die Jüdische Campuswoche. Welche Aktivitäten habt ihr durchgeführt, was ist geplant? Welche Bedeutung hat das Format für dich, für die jüdische Community?

Noa Luft: Die Jüdische Campuswoche, die JCW, findet einmal jährlich an einem gemeinsamen Datum an verschiedenen Hochschulstandorten deutschlandweit statt. Durch verschiedene Veranstaltungen, Panel-Talks oder einen Stand sollen Begegnungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Studierenden gefördert werden. Das Ziel ist es, Stereotype und Vorurteile abzubauen. Die Möglichkeit zu erschaffen, dass nichtjüdische Universitätsbesucher und -besucherinnen mit jüdischen Studierenden ins Gespräch kommen können, trägt meist schon dazu bei, dass Vorurteile abgebaut werden können. Auch bricht es das stereotypische Bild, das viele Menschen von Jüdinnen und Juden beispielsweise aus den Medien haben. Und das versuchen wir während der JCW aufzubrechen. Durch den Dialog möchten wir Wissen vermitteln und Fake-Wissen widerlegen.

Das erste Mal wurde die Jüdische Campuswoche im Mai 2019 vom damaligen Vorstand organisiert und veranstaltet. Ich habe die Koordination im vergangenen Jahr übernommen. Organisatorisch ist es so, dass die JSUD die JCW koordiniert und die Rahmenbedingungen schafft. Die Ausführung und konkrete Planung von Veranstaltungen werden von den lokalen Jüdischen Regional- und Hochschulgruppen übernommen. 2020 und 2021 hatten wir durch eine Förderung der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) die Möglichkeit, die Jüdische Campuswoche auszuweiten und zu professionalisieren. Aktuell sind wir eher in großen Städten vertreten, jedoch ist unser zukünftiges Ziel, auch an kleineren Hochschulstandorten, wie beispielsweise an Standorten in Ostdeutschland, vertreten zu sein.

Sharon Adler: Nach dem Attentat auf die Synagoge in Halle an Yom Kippur hast du mit der JSUD eine Fundraising-Kampagne für Ismet und Rifat Tekin initiiert, die Besitzer des Kiez-Döners, in dem Kevin S. erschossen wurde. Was war deine Motivation, wie hast du die Kampagne entwickelt und was konnte sie bewirken?

Noa Luft: Die prekäre Situation, in der sich die Tekin Brüder befanden, wurde damals von Christina Feist – einer Überlebenden des Attentats – an mich herangetragen. Auch der Vorstand der JSUD hatte damals natürlich schon mitbekommen, wie mit den Opfern des rechtsterroristischen Attentats umgegangen wurde, insbesondere von staatlicher Seite. Bei den Brüdern Tekin hat das staatliche Opferhilfesystem nicht gegriffen, obwohl in deren Laden ein Mensch ermordet wurde. Aufgrund des Attentats, aber auch aufgrund der Corona-Pandemie, blieben die Einnahmen aus. So entstand schließlich die Idee der Solidaritätskampagne. Ich habe die Initiative ergriffen und die Kampagne mit dem damaligen JSUD-Vorstandsmitglied, Ruben Gerczikow, auf die Beine gestellt.

Das Ziel dieser Kampagne war es, einerseits den Opfern zu gedenken und andererseits ein Zeichen gegen Antisemitismus, Rassismus und rechten Terror zu setzen. Dann fand unsere Fundraising- und Spenden-Kampagne auch Gehör in der New York Times. Durch deren Artikel haben wir recht viel internationale Aufmerksamkeit gewonnen und fast 30.000 Euro an Spendengeldern sammeln können, die wir dann an die Tekin-Brüder übergeben haben. Insbesondere die internationale Unterstützung hat uns gezeigt, dass es den Menschen wichtig war, den Tekin-Brüdern durch die Spendengeste Solidarität zu zeigen.

Sharon Adler: Am 21.12.2020 wurde der Attentäter von Halle zu lebenslanger Haft mit Sicherheitsverwahrung verurteilt. Bist Du zufrieden mit dem Urteil?

Noa Luft: Mir hat sehr viel in der Aufarbeitung gefehlt. Der Täter hat ja die Tat aufgezeichnet, und deswegen war es juristisch absehbar, wie man ihn verurteilt. Der Täter hat bewusst einen türkischen Döner-Laden gewählt. Es gab viele Dinge, die im Nachhinein nicht hätten passieren dürfen und die auch politisch unzureichend aufgearbeitet wurden.

Mir fehlte hier einfach der angemessene Umgang. Die Tatsache, dass diese Art von Attentaten immer wieder als "Einzeltaten" abgetan und so behandelt werden, das ist nicht korrekt. Wie sehen ja, dass es keine Einzeltaten mehr sind.

Sharon Adler: Durch deine Arbeit bei der JSUD warst du auch in die Projekte des Jewish Women Empowerment Summit (JWES) involviert. Welche Themen sind dir in diesem Kontext besonders wichtig?

Noa Luft: Das eindrücklichste Erlebnis auf einem der JWES war für mich, dass die Besucherinnen sehr divers und vielfältig waren. Es haben sich Teilnehmerinnen angemeldet, die eigentlich nichts mehr mit der jüdischen Community zu tun haben wollten, weil sie sich in dem Umfeld nicht wohlfühlten. Auf dem Summit haben sie sich willkommen und aufgenommen gefühlt. Dass die größten jüdischen Organisationen in Deutschland einen Raum schaffen, in dem ausschließlich Frauen über eigene Bedürfnisse und Belange sprechen können, war ein wichtiger Schritt, und dieser Raum muss unbedingt zukünftig weiter gefördert werden.

Der Jewish Women Empowerment Summit wurde damals von der JSUD initiiert und wird heute vom Zentralrat der Juden in Deutschland, der ZWST und der JSUD veranstaltet.

Sharon Adler: Abseits der üblichen Bilder von Juden mit Kippa sind Jüdinnen in den Medien eher unsichtbar. Wie kann es gelingen, Bilder zu zeigen, die Jüdinnen und Juden abseits von Klischees zeigen? Und wie kann es gelingen, auch die Jüdinnen sichtbar zu machen?

Noa Luft: Junge jüdische Menschen möchten nicht mehr nur als Opfer gesehen werden und nicht immer nur mit Shoah, Antisemitismus und Nahost in Verbindung gebracht werden. Natürlich sind diese Themen unglaublich wichtig und müssen adressiert werden. Vor allem muss immer wieder an die Vergangenheit erinnert werden. Es reicht nicht aus, am 27. Januar "Nie wieder" zu schreien, und den Rest des Jahres zu schweigen, wenn tagtäglich Antisemitismus auf offener Straße stattfindet.

Deswegen ist mir die Arbeit rund um die Jüdische Campuswoche auch so wichtig. Hier wird die Begegnung zwischen jungen Menschen geschaffen. Mir ist es wichtig, dass wir ein positives Narrativ des jüdischen Lebens in die Gesellschaft tragen. Das florierende, pluralistische, junge Judentum darstellen, das eben nicht ausschließlich vom Opfernarrativ geprägt ist.

Junges Forum Berlin der Deutsch-Israelischen Gesellschaft

Sharon Adler: Seit 2021 bist du als Vorstandsmitglied im Jungen Forum Berlin (JuFo Berlin) der Deutsch-Israelischen-Gesellschaft e.V. (DIG) aktiv. Was ist euer Anliegen, worin bestehen eure Aktivitäten?

Noa Luft: Das Ziel ist in erster Linie, das Bild von Israel positiv zu verändern und das stereotype Bild aufzubrechen. Zum Beispiel, indem man auf die positiven Errungenschaften von Israel als Start-Up-Nation aufmerksam macht.

Dadurch, dass wir mit dem JuFo Berlin eben in der Bundeshauptstadt sind, haben wir natürlich auch die Möglichkeit, viel auf politischer Ebene zu agieren. Wir organisieren daher auch oft Veranstaltungen mit israelischen Verantwortlichen aus der Politik. Im vergangenen Jahr haben wir beispielsweise eine Veranstaltung mit dem damaligen israelischen Botschafter, Jeremy Issacharoff, organisiert, der uns aus erster Hand wichtige Informationen hinsichtlich politischer Entwicklungen und Entscheidungen geben konnte. Durch Veranstaltungen wie dem Israel-Day, der von der DIG organisiert wird, geben wir unseren Mitgliedern auch die Möglichkeit, die israelische Kultur näher kennenzulernen. Uns ist es wichtig, dass Interessierte und Mitglieder Israel auch von einer anderen Seite kennenlernen können – von einer Seite, bei der es nicht ausschließlich um Terror und Krieg geht.

Sharon Adler: "Zwischen Verbundenheit und Entfremdung" – unter diesem Titel wurde im September 2022 eine Studie der Bertelsmann-Stiftung zu Haltungen und Meinungen von Menschen in Deutschland und Israel zum jeweils anderen Land veröffentlicht. Danach gaben fast zwei Drittel der befragten Israelis an, eine gute Meinung über Deutschland zu haben, während nur knapp die Hälfte aller befragten Deutschen positiv über Israel denkt. Wie beurteilst du persönlich die Umfrageergebnisse und was sind deine Erfahrungen – auch aus deiner Arbeit in der JuFo –zum deutsch-israelischen Verhältnis?

Noa Luft: Ich sehe es als eine gefährliche Entwicklung an, insbesondere wenn man die junge Generation betrachtet, die sich primär über Social-Media informiert.

Insbesondere der fahrlässige Umgang mit Quellen auf diesen Plattformen hat fatale Folgen – auch für das Verständnis gegenüber dem Nahost-Konflikt. Dieser Konflikt ist unglaublich komplex und eben nicht schwarz-weiß. Sondern ziemlich grau. Die Tatsache, dass Meinungen von Einzelpersonen reichweitenstarker Profile oftmals als fundierte wissenschaftliche Tatsachen angenommen und behandelt werden, hat gefährliche Auswirkungen auf die Meinungsbildung insbesondere junger Menschen. Der Konflikt im Nahen Osten muss vor allem auf Bildungsebene intensiver behandelt werden. Der korrekte Umgang mit Quellen im digitalen Raum muss gelehrt werden.

Es gibt natürlich auch Social-Media-Plattformen, die den Bildungsauftrag vorbildlich erfüllen, die dann aber auch nach gewissen journalistischen Standards arbeiten, die wissen, wie man korrekt recherchiert und mit Quellen umgeht. Es muss aber deutlich werden, dass es nicht ausreicht, sich ein 60sekündiges Tik-Tok-Video über Israel anzuschauen, um sich darauf basierend eine Meinung bilden zu können. Möglicherweise resultiert daraus auch die Haltung, die durch die Studie der Bertelsmann-Stiftung festgestellt wurde.

Hass und Hetze in den Sozialen Medien

Sharon Adler: Israelbezogener Antisemitismus auf Social Media: Was kann das JuFo Berlin dem entgegensetzen?

Noa Luft: An erster Stelle ist es wichtig, dass israelbezogener Antisemitismus als eine der primären Formen von Antisemitismus anerkannt und wahrgenommen wird. Diese Form des Antisemitismus wird gerne mal unter den Teppich gekehrt und nicht als Antisemitismus, sondern als "legitime Kritik" behandelt, was durch Social-Media nochmal befeuert wird. Das JuFo Berlin hat den Anspruch, nachhaltig in die Gesellschaft zu wirken. Es geht nicht darum, mit kurzen 60sekündigen Videos zu polarisieren, sondern eine Social-Media-Präsenz aufzubauen, die fundierte Informationen teilt und zur Aufklärung beiträgt. Es ist viel Professionalität gefragt, um mit dem Hass und der Hetze in den Sozialen Medien umzugehen.

Daher ist es uns umso wichtiger, auch im realen Leben mit Menschen in Kontakt zu treten. Es sollen die Möglichkeiten der Vernetzung und des Austausches mit israelischen Bürgerinnen und Bürgern, mit israelischen Vertreterinnen und Vertretern, mit Politkern und Politikerinnen gefördert werden. Dadurch haben die Menschen die Chance, aus erster Hand zu erfahren, wie die Situation und die einzelnen Lebensrealitäten in Israel aussehen. Geschichtliche Zusammenhänge werden verständlicher und Falschinformationen und Vorurteile können abgebaut werden.

Sharon Adler: In den sechziger und siebziger Jahren haben durch die "Aktion Sühnezeichen" viele nichtjüdische Deutsche in Kibbuzim oder in Elternheimen mit Shoah-Überlebenden gearbeitet und das Land bereist. Laut den Umfrageergebnissen der Studie hat das Interesse am Land Israel stark nachgelassen. Ist das auch deine Erfahrung in der praktischen Arbeit bei der JuFo?

Noa Luft: Ja, aber das muss man differenzieren. Denn die Leute, die zum JuFo kommen, haben ein Interesse an Israel und sind dem Land gegenüber meist nicht negativ eingestellt. Sie wollen mehr Wissen erlangen und mehr Einblicke bekommen. Ich habe aber auch den Eindruck, dass viele Menschen das Land einfach nicht bereisen möchten, weil sie es mit vielen negativen Ereignissen verbinden. Deswegen ist es so wichtig, dieses negativ behaftete Bild zu verändern.

Ich sage auch immer gerne: "Fahr einmal selbst dorthin, und dann unterhalten wir uns nochmal." Viele Menschen, die das Land einmal selbst bereist haben, haben ihre Einstellungen daraufhin geändert. Ich glaube auch, dass der zeitliche Bezug eine Rolle spielt. Die Menschen in den sechziger und siebziger Jahren hatten einen anderen zeitlichen Bezug zur Shoah. Die Shoah und damit die Bedeutung eines jüdischen Staates ist für viele nicht mehr so präsent, und dadurch ist gegebenenfalls auch das Interesse verflogen, Israel einmal eigenständig bereisen zu wollen.

Sharon Adler: Im Oktober 2022 gehst du für dein MBA-Studium nach Israel. Planst du, zu bleiben, Aliyah zu machen oder nach Deutschland zurückzukommen?

Noa Luft: Dieses Kapitel ist noch sehr unbeschrieben und leer. Ich habe mich bewusst dazu entschieden, das auch vorerst so beizubehalten. Ich möchte nicht zu hohe Erwartungen an diese Zeit haben. Ich werde nach Israel gehen, um dort meinen MBA zu machen und freue mich riesig darauf, in der Start-up-Nation Israel zu studieren und neue Erfahrungen sammeln zu können. Der Rest wird sich in der Zukunft zeigen. Ich bin auf jeden Fall sehr gespannt und freue mich auf die Zeit in dem "Land, wo Milch und Honig fließen".



Dieses Interview ist in der von Sharon Adler (AVIVA-Berlin, Stiftung Zurückgeben) mitherausgegebenen Reihe "Jüdinnen nach 1945.
Erinnerungen, Brüche, Perspektiven" im Deutschland Archiv online der bpb erschienen.

Zitierweise: "Das florierende, pluralistische, junge Judentum weg vom Opfernarrativ", ein Interview von Sharon Adler mit Noa Luft, in: Deutschland Archiv, 20.12.2022, Link: www.bpb.de/516502



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Beitrag vom 10.05.2023

AVIVA-Redaktion