Sara Soussan: "Ich sehe keinen Widerspruch zwischen jüdischer Tradition und Moderne" - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Interviews



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 04.07.2023


Sara Soussan: "Ich sehe keinen Widerspruch zwischen jüdischer Tradition und Moderne"
Sara Soussan, Sharon Adler

Die Judaistin, Religionspädagogin, Kuratorin für Jüdische Gegenwartskulturen am Jüdischen Museum Frankfurt und Rebbezin über Herausforderungen wie Highlights beim Aufbau des Sammlungsbereichs, über weibliche Perspektiven hinter den Museumsobjekten, aber auch über Jewish Fashion im Gespräch mit Sharon Adler




Jüdische Gegenwartskulturen, zeitgenössische Kunst und moderne Judaica: Die Sammlung jüdischer Kulturen der Gegenwart

Sharon Adler: Seit Anfang 2018 bist du als Kuratorin für Gegenwartskulturen im Jüdischen Museum Frankfurt tätig, wo du einen neuen Sammlungsbereich aufbaust und zugleich die zeitgenössische Kunst sowie die modernen Judaica, also Jüdische Schriften und Ritualgegenstände, betreust. Worin liegt für dich der Schwerpunkt im Verhältnis des Jüdischen Museums zu den jüdischen Kulturen der Gegenwart?

Sara Soussan: Der Themenbereich der Jüdischen Gegenwartskulturen ist äußerst spannend, vielleicht gerade deshalb, weil die Gegenwart an sich so schwer zu fassen ist, aber ganz bestimmt auch durch die große Vielfalt, die er in sich birgt. Seit dem Beginn der jüdischen Geschichte haben sich kulturelle Phänomene entwickelt, die bestimmte charakteristisch jüdische Züge aufweisen, auch ohne sich selbst als speziell religiös zu verstehen. Einige dieser Merkmale entstammen unmittelbar den jüdischen Kulturen, andere den vielfältigen Beziehungen von Jüdinnen und Juden zu ihrer Umwelt, wieder andere der sozialen und kulturellen Dynamik der jüdischen Gemeinschaft in der Auseinandersetzung mit der Religion selbst. Museen sind kollektive Erinnerungsspeicher. Doch es ist auch wichtig, dass Sammlungen bestimmte Werte, Normen, Prozesse und Phänomene der Gegenwart abbilden können. Oftmals sind aber die Bedeutungen, die in Objekten liegen, erst mit einer größeren zeitlichen Distanz zu erkennen.

Sharon Adler: Was ist dein Ansatz und Anspruch in der Gestaltung des Sammlungsbereichs? Wie definierst du Gegenwart in diesem Kontext?

Sara Soussan: Für eine sinnvolle Erweiterung der Sammlungen liegt der Schlüssel in einer aufmerksamen, kontinuierlichen Beobachtung und Analyse der Gegenwart. Daran anknüpfend zeichnet sich der Sammlungsschwerpunkt "Jüdische Kulturen der Gegenwart" durch eine große thematische, religiöse und kulturelle Vielfalt aus. Er verfolgt das Ziel, ein breites und authentisches Bild gegenwärtiger jüdischer Kulturen vorrangig im Raum Frankfurt, aber auch in Deutschland, Europa und der Welt unter Berücksichtigung der religiösen und kulturellen Diversität zu erforschen, zu skizzieren, darzustellen und zu vermitteln. Wir haben es also glücklicherweise mit einem großen Spektrum zu tun, das gezeigt werden will!

Sharon Adler: Welche zentralen Themen und Fragen stehen noch im Fokus? Was sind für dich die Highlights und die Herausforderungen?

Sara Soussan: Es können Themen wie Nachwirkungen der Shoah, Zuwanderung aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, Religiosität, Säkularismus, Stereotypen, Antisemitismus, Kulinarik oder jüdische Sprachen in ihrer Anwendung interessant sein. Was sammeln wir also? Zunehmend und notwendigerweise für eine Gegenwartssammlung wird der Begriff des Sammlungsobjekts durch immaterielle "Güter" erweitert, es werden immer mehr relevante digitale Film-, Audio-, Foto- und Text-Dateien produziert. Diese "born digital objects", Objekte, deren Originalform digital ist, sollen ebenfalls gesammelt und öffentlich zugänglich gemacht werden. Darin sehe ich ein deutliches Highlight für die Sammlung, aber ich merke, es ist auch meine größte Herausforderung. Gerade auf den Plattformen der Sozialen Medien ist viel zu finden, das etwas über jüdische Gegenwarten zeigt. Andererseits ist diese digitale Welt eine schnelllebige: Posts werden gelöscht oder Diskussionen in den Kommentaren verlaufen im Sand. Dazu hatte ich mich einmal mit meiner Kollegin Tamar Lewinsky aus dem Jüdischen Museum Berlin unterhalten und wir haben schnell festgestellt, dass es sinnvoll sein kann, solche digitalen Objekte aus diesem interaktiven Bereich erst einmal ein Jahr zu beobachten, um festzustellen, ob sie wirklich würdig sind, gesammelt zu werden. Über diese inhaltliche Ebene hinaus sehe ich mich mit weiteren Herausforderungen konfrontiert: Wie integriert man einen Tweet als digitales Objekt in die Datenbank der Sammlung? Welche technischen Voraussetzungen müssen dafür geschaffen werden? Hier sind wir am JMF auf einem guten Weg, wir tauschen uns weit über unsere Museumsblase hinaus vielfältig aus, und wir haben natürlich bei uns auch ein hervorragendes IT-Team, das solche Fragen mitdenkt.

Nichtsdestotrotz sammle ich für den Gegenwartsbereich natürlich auch klassische 3D-Objekte, wie beispielsweise kürzlich einen Bauhelm und einen Spaten mit entsprechenden Aufdrucken, die von unserer Direktorin beim Spatenstich für die Jüdische Bildungsakademie hier in Frankfurt benutzt wurden. Solche Objekte erzählen natürlich von einem wichtigen Meilenstein, nämlich dem Aufbau einer Jüdischen Akademie des Zentralrats, die sich auch in der Tradition des Frankfurter Lehrhauses versteht. Irgendwann wird man sich um den Spaten und den Helm reißen, und tatsächlich wurde der Spaten schon für eine Wechselausstellung ans Jüdische Museum Hohenems ausgeliehen. Natürlich wird vieles irgendwann einmal zu einem historischen Zeugnis und entwischt der Gegenwartssammlung, aber das macht ja nichts.

Sharon Adler: Wo liegen oder entstehen Wechselwirkungen oder Schnittmengen dieser eigenständigen Bereiche, und wie können diese im musealen Raum erfahrbar gemacht werden?

Sara Soussan: Der Sammlungsschwerpunkt der Zeitgenössischen Kunst ist auf ähnliche relevante Themen und Personen ausgerichtet und erstreckt sich durchaus auch in die internationale Kunstszene. Hierbei liegt der Fokus neben Malerei und Grafik ebenso auf Fotografie, Film, Skulptur/Installation und Konzeptkunst. Inhaltlich deckt sich vieles mit dem Gegenwartsbereich, für die Kunstsammlung suchen wir beispielsweise nach künstlerischen Auseinandersetzungen mit jüdischen Identitäten und Traditionen, mit religiösen Fragestellungen und Positionierungen und nach jüdischen Perspektiven und Reflexionen über die Nachwirkungen der Shoah. Du siehst schon, diese Themen decken sich mit denen der Gegenwartssammlung, beide Sammlungsschwerpunkte können sich wunderbar ergänzen. Schön hieran ist besonders, dass sich gegenwärtige Phänomene auch in künstlerischen Betrachtungen bei uns finden lassen und dies die Zugänge und Perspektiven immens öffnet.

Wir haben in der historischen Judaica-Sammlung des Museums eine Fülle von schönen Ritualgegenständen, die exquisit gearbeitet und im alltäglichen Gebrauch genutzt wurden.

Diese Sammlung ist reich und zeigt viele religiöse Nutzungsfelder der Vergangenheit auf, die sich bis heute kaum verändert haben. Dieser Teil der Judaica-Sammlung wird nicht mehr erweitert, wir konzentrieren uns nun auf zeitgenössische Beispiele, die die historische Sammlung ergänzen und begleiten können. Eine Voraussetzung dafür ist, dass das Objekt für den Gebrauch hergestellt ist, also nicht nur zur Dekoration produziert wurde. Es kann sich sowohl um ein künstlerisches Unikat als auch um ein Serienprodukt handeln. Von Bedeutung ist hierbei ein neuer Twist: Eine originelle Gestaltung, ein modernes Design oder eine neue Erscheinungsform interessieren uns.

Alle drei Sammlungsbereiche drehen sich um die Gegenwart und machen sie noch facettenreicher erfahrbar. So können wir ausgewählte Gegenwartsthemen und -geschichten mit unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten anbieten, das Gesamtbild erweitert sich dadurch gewaltig. Wenn ein Objekt der Gegenwartssammlung eine Geschichte erzählt, können wir diese Geschichte beispielsweise durch eine künstlerische Perspektive weiterentwickeln und einen erweiternden Ausblick anbieten, den das Objekt allein vielleicht nicht eröffnet.

Sharon Adler: Können im Hinblick auf die Museumsobjekte und die jüdische Gegenwartskultur eine weibliche Perspektive und Geschichte(n) hinter den Objekten gelesen oder identifiziert werden? Durch welche Objekte werden die persönlichen Perspektiven und Erzählungen von Jüdinnen besonders deutlich? Welche Objekte transportieren vor allem das Wirken und die Lebensrealitäten von Jüdinnen in der Tradition und in der Moderne? Wofür stehen diese Objekte, was symbolisieren sie und welche Gedanken, Erfahrungen und Ideen transportieren sie?

Sara Soussan: Weibliche Perspektiven können überall da erfahren werden, wo sie stattfinden oder stattgefunden haben und Objekte davon zeugen. Wir zeigen im Moment, im Frühjahr 2023, zwei Videoinstallationen von zwei israelischen Künstlerinnen – Hadassa Goldvicht und Yael Serlin – in einem Kabinettraum, der sich wechselnd auch mit künstlerischen Auseinandersetzungen zu den Traditionen beschäftigt. Beide setzen sich mit weiblicher Religiosität auseinander, jedoch aus unterschiedlichen Perspektiven.
Eine Arbeit zeigt Frauen, die nach Gewalterfahrungen das Kaddisch-Gebet sprechen und diese Erlebnisse damit rituell ablegen. Eine andere Arbeit zeigt die Künstlerin, wie sie sich die Tradition aneignet, hebräische Buchstaben aus Honig abzuschlecken, wie dies von Jungs in orthodoxen Gemeinschaften vor dem ersten Schulbesuch – und somit dem ersten Toralernen – üblich ist. Beide nähern sich ihrer Tradition mit unterschiedlichen Themen und in unterschiedlichen Lösungen, und beide sehen ihre Arbeiten interessanterweise selbst nicht als feministisch. Trotzdem zeigen beide Videoarbeiten weibliche Themen und weibliche Zugänge dazu. An einer anderen Stelle in der Dauerausstellung ist ein Tallit der amerikanischen Künstlerin Rachel Kanter zu sehen. Er sieht erst einmal wie ein klassischer Männer-Tallit aus, wenn man aber genauer hinschaut, entdeckt man, dass die Streifen aus Fotostrecken bestehen, die Szenen amerikanisch-feministischer Demonstrationen der 70er-Jahre zeigen. Also ein durchaus feministisches Kunstwerk, das zugleich ein moderner Ritualgegenstand ist, denn die Künstlerin benutzt solch einen Tallit selbst im Gebet. Das ist ein gelungenes Beispiel für das Zusammenwirken der Sammlungsbereiche!

Sharon Adler: Wie können die Lebenswege und Erfahrungen von Jüdinnen und Juden und deren Leben heute vor dem Hintergrund jüdischer Traditionen im musealen Raum für jüdische wie nichtjüdische Besucher*innen erfahrbar gemacht werden?

Sara Soussan: Indem sie ihre Geschichten selbst erzählen. Wir haben für die neue Dauerausstellung Filminterviews aufgenommen, in denen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus ihrer persönlichen Perspektive zu bestimmten Themen aus dem jüdischen Frankfurt seit 1945 berichten.
Hierbei geht es beispielsweise um die ersten Nachkriegsjahre im DP-Camp Zeilsheim und damit verbundene Kindheitserinnerungen, die Bühnenbesetzung zur Premiere von Fassbinders Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" oder die jüdische Einwanderung aus den postsowjetischen Staaten. Die Schilderungen sind subjektiv und vermitteln in ihrer Fülle vielfältige Sichtweisen, manchmal gar konträr.

Für die Besuchenden werden diese Begebenheiten, die die jüdische Gegenwart in Frankfurt prägten, durch die persönlichen Erzählungen transparent und atmosphärisch aufnehmbar. Wir nehmen grundsätzlich jüdische Perspektiven ein und ermöglichen dem nichtjüdischen Publikum so, authentischere komplexe Themen fernab von medialen Stereotypen und Fremdzuschreibungen zu erfahren. Jüdische Besuchende wiederum melden mir oft zurück, dass sie es in unserem Museum genießen, nicht das Gefühl zu haben, man spreche über sie, sondern durch sie und mit ihnen. Ein schönes Kompliment!

Sharon Adler: Das Bild von Jüdinnen und Juden ist in der deutschen Mehrheitsgesellschaft oft von vielfältigen Klischees und Ressentiments, aber auch von Berührungsängsten geprägt. So trauen sich manche nichtjüdische Menschen nicht, die Worte "Jude" oder "Jüdin" unbefangen auszusprechen. Mit welchen Mitteln, denkst du, kann es in der musealen Umgebung gelingen, die Besucher*innen mit Zerrbildern zu konfrontieren und diese im besten Fall aufzubrechen?

Sara Soussan: Meiner Meinung nach durch klare Konfrontation mit tradierten Vorstellungen und Offenlegung der transportierenden Mechanismen dahinter. Sehr schonungslos. Und vielleicht muss man sich auch von dem Erklärungs- und Rechtfertigungsdruck befreien. Wir kennen es ja: "Juden sind reich und geldgierig, und das kommt daher, dass man sie in den vergangenen Jahrhunderten in Geldberufe gezwungen und von den meisten anderen Tätigkeiten ausgeschlossen hat". Wir müssen uns fragen, ob die Erklärungsversuche so reichen. Wir müssen uns auch der Frage stellen, inwiefern man ablehnen wollte und will und sich mit solchen Mechanismen – historisch und aktuell – nicht wirklich auseinandersetzen möchte. Und hier werden wieder die jüdischen Perspektiven wichtig: Wie wollen wir genannt werden? Was stört uns? Wie wehren wir uns gegen Antisemitismen? Welche Themen bringen wir aufs Parkett? Das sind wichtige Ausgangspunkte, auf die sich das Publikum einlassen kann.
In einer Begrüßungsinszenierung zu Beginn der Dauerausstellung lassen wir jüdische Frankfurterinnen und Frankfurter die Besuchenden willkommen heißen.
Mit Gesten, Sprüchen und Worten, die selbst gewählt wurden. Herausgekommen ist eine freundliche, konfrontative Begegnung, die frei von den schweren Themen scheint. Unsere Bildungs- und Vermittlungsabteilung bietet Jugendlichen und Kindern sehr erfolgreich eine Fülle von Workshops und Programmen an, die Antisemitismus-Prävention, aber auch Empowerment zur gesellschaftlichen Mitgestaltung zum Ziel haben. Je breiter die Kanäle zur Museumsarbeit, desto besser.

Sharon Adler: Kannst du aktuell schon etwas über deine Aufgabe als Kuratorin und Projektleiterin der für Oktober 2024 geplanten Ausstellung "Im Angesicht des Todes" berichten?

Sara Soussan: Oh ja, schon ganz viel! Das wird eine Wechselausstellung, die sich einem angstbehafteten und tabuisierten Thema zuwendet: dem Tod. Hier haben jüdische Perspektiven viele Facetten, Vorstellungen und Praktiken anzubieten, die wir in der Präsentation auffächern. Wie sieht der personifizierte Tod in Illustrationen – beispielsweise in der Haggada – eigentlich aus? Was passiert beim Sterben und was tun die Begleitenden? Wann ist man halachisch gesehen tot? Und welche medizinethischen Themen werden rabbinisch wie eingeordnet? Wie wird beerdigt und getrauert? Und die ganz große Frage: Was kommt nach dem Tod? Und was finden wir in dem ganzen Thema über das Leben?
Jüdische Quellen haben dazu einiges zu sagen, malen wir es aus! Ein wichtiger Eckpunkt der Ausstellung werden Filminterviews sein, die wir auf den drei großen jüdischen Friedhöfen in Frankfurt gedreht haben. Ich wollte wissen, warum Menschen diese Friedhöfe besuchen. Es hat sich herausgestellt, dass es viele sehr unterschiedliche Zugänge gibt, die zum Besuch motivieren. Eins sei verraten: Die ultra-orthodoxe Welt kennt Frankfurt und besucht es, und zwar meist nur die Gräber von Gelehrten, die in Frankfurt wirkten, sonst nichts. Keine Sehenswürdigkeiten, nicht die Standorte des Jüdischen Museums. Dafür aber ganz besonders das Grab einer Frau: Raisele, der Mutter des Gelehrten und Rabbiners Chatam Sofer, und dies ist sehr ungewöhnlich. Also habe ich die Besuchenden vor der Kamera befragt. Die Antworten, die viel über die Bedeutung der einstigen Frankfurter jüdischen Pracht in der Gegenwart verraten, gibt es dann ab Oktober 2024 bei uns in der Ausstellung "Im Angesicht des Todes" zu sehen.

Sharon Adler: Bevor du an das Jüdische Museum Frankfurt kamst, hast du 25 Jahre lang im jüdischen religionspädagogischen Bereich in Stuttgart und Düsseldorf gearbeitet. Welche Werte des Judentums wolltest du den jüdischen Kindern und Jugendlichen besonders vermitteln, und aus welchen Instrumenten bestand dein "Werkzeugkoffer"?

Sara Soussan: Ich habe unterrichtet, Lehrpläne mitgestaltet, die staatliche Anerkennung des Faches Jüdischer Religionsunterricht mitgetragen und den Unterrichtsbetrieb als Leiterin vorbereitet. Hierbei waren mir zweierlei Dinge wichtig: Auf der einen Seite ein selbstbewusstes Judentum gegenüber den Kultus- und Schulbehörden zu vertreten und eine Umsetzung auch nach unseren Bedingungen einzufordern, und auf der anderen Seite dieses Selbstbewusstsein bei den Schülerinnen und Schülern zu stärken. Sie besuchten öffentliche Schulen und waren mit ihrem Jüdischsein meist in den Schul- und Peer-Groups allein. Dabei jüdisch zu bleiben ist gar nicht so einfach. Hierbei ist meiner Auffassung nach eine Vereinbarkeit jüdischer Ausdrucksformen mit der säkularen Welt sehr wichtig.
Hier in Frankfurt wirkte der Begründer der Neo-Orthodoxie, Rabbiner Samson Raphael Hirsch, und seine wichtige Message zu dem Thema war "Tora im Derech Erez", die Verbindung von Tora und religiösen Studien mit denen der Wissenschaften, um sein Judentum noch besser erfahren zu können. Dies hat mich auch in meiner schulischen Arbeit sehr begleitet. Gerade in diesem Kontext der Vereinbarkeit sind die Fragestellungen von Schülerinnen und Schülern ein wichtiges Tool, um Verbindungen der Identitäten zu erreichen. Sie müssen aufgegriffen werden, es müssen aktuelle Bezüge zu den Lebenswelten der Lernenden hergestellt werden. Dies alles in Verbindung mit dem Textstudium zu setzen ist eine gute Kombination im weiteren Entscheidungsprozess, denn ich muss ja wissen, über was ich entscheide.

Sharon Adler: "Ask the Rabbi" heißt eine der interaktiven Stationen und Medieninszenierungen im Jüdischen Museum Frankfurt, die du kuratiert hast. In Anlehnung an die Tradition von rabbinischen Responsen geben darin vier amtierende Rabbiner unterschiedlicher religiöser Ausrichtung (darunter dein Mann, Julian-Chaim Soussan) und eine Rabbinerin (Elisa Klapheck) Antworten auf aktuelle lebenspraktische Fragen. Auf welche Weise können die Besucher*innen mit ihnen interagieren? Welche Themengebiete im Judentum werden angesprochen, welche Fragen gestellt?
Sara Soussan: Gelehrte zu allen Themen zu befragen ist jüdische Tradition seit Jahrtausenden. Im Mittelalter ist aus den rabbinischen Antworten eine eigene Literaturform entstanden: die Responsenliteratur, in der Gelehrte ihre Antworten auf halachische Fragestellungen ausgiebig belegen. Im heutigen digitalen Zeitalter werden solche Fragen per Chat oder Mail gestellt und beantwortet. Entsprechende Foren heißen oft: "Ask the Rabbi".
Daran lehnen wir uns in der raumgreifenden Videoinstallation an, indem dort von den Besuchenden auf einem Tablet Fragen an die fünf Rabbiner und Rabbinerin ausgewählt werden können, die dann im Videozusammenschnitt beantwortet werden.
Ich habe mir zwölf Fragen überlegt, von denen ich glaube, sie könnten für das Museumspublikum interessant sein, beispielsweise: Was ist der Schabbat? Wann kommt der Messias? Was ist eine jüdische Heimat? Aber auch persönliche Fragen fand ich interessant: Warum sind Sie Rabbiner*in geworden? Welcher ist Ihr Lieblingsort in Frankfurt? Wir haben pro Rabbi drei Stunden gedreht und allen dieselben Fragen gestellt, herausgekommen sind schöne Antwortkompositionen, die unterhaltend, aufschlussreich und manchmal überraschend sind. Alle fünf sind im Rahmen der Jüdischen Gemeinde Frankfurt im Einsatz und vertreten teilweise sehr unterschiedliche religiöse Auffassungen, aber manchmal kommen sie auch zu ähnlichen Ergebnissen. Eine bunte Mischung, die vielfältige jüdische Facetten erfahrbar macht. Da der Rabbi-Raum auch zugleich eine Coffee-Lounge mit gemütlichen Sesseln ist, ist er bei unserem Publikum entsprechend beliebt ...


Die Frauen in Tora und Talmud

Sharon Adler: Seit 2014 lebst du mit deiner Familie in Frankfurt am Main, wo du als Rebbezin in der Jüdischen Gemeinde Schiurim für Frauen anbietest und leitest. Rebbezins, die Frauen der Rabbiner, erfüllen traditionsgemäß in den Gemeinden viele Aufgaben. Sind dir die Schiurim auch mit Blick auf die Tradition der Rebbezin und die Weiterführung dieser Tradition wichtig?

Sara Soussan: Ich denke, dass Frauen untereinander anders interagieren und sich weiblichen Themen zuwenden können, die sie in eigenen Räumen gestalten. Als wir nach Frankfurt kamen, war ich neugierig auf die Gemeinde, und so habe ich mein Angebot eines monatlichen Frauen-Schiurs, den ich in Düsseldorf schon gemacht hatte, etabliert. Klar habe ich das als Rebbezin gemacht, in dieser Position hatte ich seitens der Gemeinde hier alle Möglichkeiten und Unterstützungen dazu.
Aber der Schiur ist auch nicht ganz uneigennützig, so konnte ich schnell die Frauen der Gemeinde kennenlernen und zugleich mein eigenes Lernen wieder vorantreiben, denn wenn man etwas für andere vorbereitet, muss man sich selbst erst einmal wieder fit im Thema machen. Seit fast zehn Jahren treffen wir uns nun jeden Monat und widmen uns einem bestimmten Thema, durchaus auch manchmal mit vorbereitender Beteiligung der Teilnehmerinnen. Hierbei orientieren wir uns am Jahresrhythmus, an bevorstehenden Feiertagen oder ausgewählten Paraschot.
Aber wir haben auch viel anderes gemacht: Chassidismus, Haskala, sefardisches Judentum, aktuelle Fragestellungen und vieles mehr. Fast jedes Mal erfahren wir etwas über eine jüdische Frau aus der Geschichte, natürlich angefangen bei der Tora, weiter über den Talmud und die folgenden Jahrhunderte. Bei der Recherche dafür sind wir alle immer wieder überrascht: Wer weiß schon, dass es eine jüdische Berberkönigin gegeben hat? Eine Leiterin einer Jeschiwa in Mossul? Eine Judenärztin in Würzburg? Zu Zeiten, als Frauenemanzipation noch nicht einmal angedacht war? Darüber hinaus besuchen wir alle Ausstellungen des Museums gemeinsam und tauschen uns danach im koscheren Museumscafé darüber aus. Frauen allen Alters kommen regelmäßig, manche nur ab und zu, und die Gruppe steht allen offen, man kann immer einsteigen.

Sharon Adler: Wird die Arbeit und das Engagement der Rebbezins deiner Meinung nach ausreichend wahrgenommen und gewürdigt?

Sara Soussan: Ich denke, jede Rebbezin prägt ihr Wirken nach ihren eigenen Vorstellungen. Meins ist vorrangig das der Frauenbildung, andere setzen andere Schwerpunkte. Ich denke schon, dass das Engagement gewürdigt wird, ich habe keine gegenteiligen Erfahrungen gemacht. Der Vorsitzende der Europäischen Rabbinerkonferenz, Rabbiner Goldschmidt, macht sich allerdings für mehr Anerkennung der Arbeit von Rebbezins stark, er fordert eine angemessene Bezahlung für ihre Arbeit und erhofft sich so auch eine größere Wertschätzung für sie. Ich sehe mich hauptberuflich nicht in der Rebbezin-Funktion, dies mache ich ehrenamtlich mit großer Freude, aber ich kann mein Engagement für die Gemeinde hier in Frankfurt selbst gestalten und erfahre auf allen Ebenen Dankbarkeit dafür.

Sharon Adler: Welche Themen und Paraschot besonders sind es, die von euch diskutiert werden? Tragt ihr die Themen aus Tora und Talmud auch in die Gegenwart von heute?

Sara Soussan: Neben den historischen Frauen, mit denen wir uns beschäftigen und die im Rahmen der Traditionen extrem gewirkt haben (übrigens von der Männerwelt akzeptiert), gehen wir auch aktuelle Themen und Fragestellungen an. So haben wir uns einen Rabbiner eingeladen, um ihn in Bezug auf die Aguna, die Frau, die von ihrem Mann keinen Get bekommt, sehr kritisch zu befragen. Unterschiede in den religiösen Richtungen, gerade in den Frauenthemen, interessieren uns ebenso wie die brisanten Herausforderungen der heutigen Zeit. So finden wir im jüdischen Schrifttum viel zum Umweltbewusstsein oder zu ethischen Grundfragen. Tora und Talmud liefern eine Fülle von Themen, die heute nochmal neu betrachtet werden können. Und dies tun wir.

Sharon Adler: Es gibt in Tora und Talmud zahlreiche bekannte, aber weit mehr weniger bekannte Frauenfiguren, deren Geschichte beeindruckend ist. Legt ihr in den Schiurim auch einen Fokus auf die Frauen in Tora und Talmud? Wie kann es gelingen, dass sie nicht ausschließlich über ihre Beziehungen zu Männern definiert werden und mehr Sichtbarkeit und Anerkennung erhalten?

Sara Soussan: Wir haben ganze Sitzungen zu den Frauen in Tora und Talmud gemacht und merken immer wieder, dass wir für sie eigentlich mehr Zeit bräuchten. Diese Geschichten erzählen, untersuchen und analysieren wir. Ich bin nicht sicher, ob sie sich wirklich alle ausschließlich über ihre Männer definieren lassen, ich denke, sie konnten oft eigenständig wirken und erfuhren darin so viel Beachtung, dass die Tora über sie berichtet oder sie es in die Verschriftlichung des Talmud geschafft haben. Vielleicht braucht es einen unvoreingenommeneren Blick auf sie, um sie aus der Umklammerung der heutigen, gutgemeinten "befreienden" Betrachtungsweisen zu schälen und ihre Geschichten davon losgelöst zu erzählen.

Religiosität und Auslegungen von moderner Orthodoxie

Sharon Adler: Was bedeutet es für dich, als orthodoxe Jüdin in der modernen säkularen Gesellschaft zu leben? Wie gelingt dir – im beruflichen wie privaten Kontext – die Vereinbarkeit von traditionellen Werten mit einer modernen säkularen Welt? Welche Wechselwirkungen bestehen für dich persönlich zwischen Tradition und Moderne im Judentum?

Sara Soussan: Ich sehe keinen Widerspruch zwischen jüdischer Tradition und Moderne und eigentlich auch kein Spannungsfeld zwischen modern-orthodoxem Leben und säkularer Welt. Das "eigentlich" in meiner Antwort zielt darauf ab, dass andere das vielleicht anders sehen, und dann wird es mit ihren eventuellen Erwartungen und Stereotypen problematisch. Je weniger meine Umwelt dies an mich heranträgt, desto mehr klappt die Vereinbarkeit. Wenn erwartet wird, dass ein jüdisch praktizierender Mensch nicht modern sein (was ist das überhaupt?) und somit keinen Anteil an der säkularen Welt haben kann, dann wird das mit dem Gelingen schwierig.
Manchmal versucht man, mich in Erklärungs- und Rechtfertigungsrollen zu drängen: Kannst Du mit dem Schabbat nicht einmal eine Ausnahme machen? Warum fügst Du dich solch "altmodischen" Regeln? Wenn ich diese intoleranten und diskriminierenden Untertöne höre, trete ich überhaupt nicht mehr in einen Dialog, ich erkläre mich einfach nicht. Wie schon erwähnt ist das Modell von R. Hirsch der fruchtbaren Verbindung der beiden Welten für mich ein wertvolles, und diese Haltung lebe ich sehr zufrieden, sowohl beruflich als auch privat.

Jüdisch-religiöse Kleidervorschriften

Sharon Adler: Du bist durch das Tragen des Turbans als orthodoxe Jüdin erkennbar. Welche Erfahrungen hast du damit im öffentlichen Raum gemacht? Welche Reaktionen seitens nicht-jüdischer Menschen gibt es?

Sara Soussan: Die Frage nach der Erkennbarkeit ist ja tatsächlich, als was ich erkannt oder nicht erkannt werde.

Ein Turban, Kopftuch oder eine Mütze machen mich in der säkular geprägten Welt erst einmal gar nicht als Jüdin erkennbar. Die große Mehrheit der Menschen hier kennt vielleicht Davidstern-Ketten oder von den Medien transportierte Kippaträger, mit beidem kann ich nicht dienen.

Die einzige ablehnende Erfahrung, die ich je aufgrund meines Kopfgebindes gemacht habe, war sozusagen die als religiöse Muslima: Hier auf der Zeil in Frankfurt rief mir eine Frau hinterher "Schon wieder so eine Kopftuch-Tante…". Diese Erfahrung teile ich nun mit den muslimischen Kopftuchträgerinnen, denen tagtäglich so begegnet wird, verabscheuungswürdig und keine schöne Erfahrung. Öfter hingegen werde ich von anderen Frauen positiv angesprochen, die meinen Turban schön finden oder fragen, wie ich das binde. Dann fühle ich mich natürlich etwas geschmeichelt, frage mich aber meist schnell, wie schön sie das noch fänden, wenn sie den Hintergrund kennen würden ...

Sharon Adler: In deinem Vortrag "Jewish Fashion – Gibt es eine jüdische Mode?" hast du dich auch öffentlich mit dem Thema "Modest Fashion" beschäftigt. Gibt es eine "jüdische Mode"? Und wenn ja, wie hat diese sich während der Jahrtausende alten jüdischen Geschichte bis heute verändert?

Sara Soussan: Kleidung und Fashion sind tolle Themen. Sie offenbaren eine Vielschichtigkeit, die man in den vermeintlichen Äußerlichkeiten und Oberflächlichkeiten der Modewelt nicht unbedingt erwarten würde. Sie sind – ob man nun mitmachen will oder nicht – Ausdrucksformen des eigenen Selbst. Die Frage, ob es eine jüdische Kleidung oder Mode gibt, ist schwierig zu beantworten. In der Tora selbst finden wir nicht so viel über Kleidung, es werden beispielsweise Aussagen zum Tallit oder zur Kleidung der Kohanim gemacht. Ansonsten kennen wir vielleicht noch die Totenkleidung oder natürlich die Kippa, die allerdings erst ab dem 16./17. Jahrhundert Verbreitung findet.
Dass verheiratete Frauen sich das Haar bedecken, existiert allerdings schon viel länger. Für Männer und Frauen gilt, sich nicht zu nackt oder freizügig in der Öffentlichkeit zu zeigen, sondern Intimitäten für eine/n selbst und seine/ihre Partnerschaft zu reservieren, hierfür eigene Räume zu bewahren. Klar ist, dass Juden und Jüdinnen sich entsprechend der sie umgebenden kulturellen Codes kleiden, wie wir es auch bei anderen kulturellen Ausdrucksformen wie Speisen oder Musik finden. So entstanden Dresscodes wie die chassidischer Gruppen, die sich bis heute in der polnischen Adelstracht des osteuropäischen 18. Jahrhunderts präsentieren. Ein Jude aus Äthiopien hat nun mal glücklicherweise andere Traditionen als die Jüdin aus Schweden, hier sammelt sich ein vielfältiger Reichtum bei uns.

Sharon Adler: Sind jüdisch-religiöse Kleidervorschriften seit der Netflix-Serie "Unorthodox" oder Fashion Weeks in New York, wo chassidische Kollektionen von jüdisch-orthodoxen Designerinnen oder auch von Jean Paul Gaultier präsentiert wurden, heute "gesellschaftsfähig" oder akzeptierter?

Sara Soussan: Jean Paul Gaultier ging das Ganze künstlerisch an: Er fand die chassidische Kleidung einfach wunderschön und designte eine "Hassidic Line", eine Kollektion mit Anklängen an diese ostjüdische Kleidungsweise. Wie so oft bereitete die Kunst vielleicht auch hier die Basis für einen verspielteren Umgang mit als schwer empfundenen Themen, auch in den jüdisch-weiblichen Welten.
Sehr klar ist: Es gibt eine neue Welle der Freude orthodoxer Frauen – auch in ultraorthodoxen Communities – an modischen Themen.
Dies mag auch am neuen Zeitalter der Sozialen Medien liegen, denn hier entwickelte sich parallel zur Jewish-Fashion- eine Muslim-Modest-Fashion-Welt. Bei beiden geht es um ein Zelebrieren der eigenen Weiblichkeit nach eigenen Bedingungen und in eigenen Räumen.

Gib mal auf Instagram #modestfashion ein oder suche auf Youtube Videos von amerikanisch-jüdischen chassidischen Frauen, du wirst dich wundern! Die Reduktionen dieser Frauen durch die bestimmende Gesellschaft – und teilweise auch der feministischen Bewegung – auf patriarchalisch unterdrückte Wesen werden von vielen Frauen nicht mehr hingenommen, dem Legitimationsdruck für ihre gewählten religiösen Praktiken nicht mehr nachgegeben, die doppelte Diskriminierung nicht mehr zugelassen. Dies stößt in der bestimmenden Gesellschaft nicht immer auf Applaus, denn das Klischee der unterdrückten Muslima oder der "Unorthodox"-Frau stimmte dann ja nicht mehr! Erinnere dich mal an den Aufschrei, als das Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt 2019 eine großartige Ausstellung zu "Contemporary Muslim Fashions" zeigte. Die – wie ich finde langweiligen – Kopftuchdiskussionen gingen wieder los, das Museum musste von Security-Kontrollen wie am Flughafen geschützt werden. Der Versuch der Ausstellung, zu normalisieren statt zu politisieren, ist nicht überall auf Gegenliebe gestoßen … bei mir schon! Ich habe sie mit einer (jüdischen) Freundin besucht, und wir erfreuten uns an den Busladungen muslimischer Ladies mit Kopftuch, die extra für die Ausstellung angereist waren und ganz aufgeregt durch die Hallen gingen. Das war eine tolle Ausstellung, ganz ohne den europäisch-aufgeklärten Zeigefinger!
Letztendlich geht es bei dem Thema um ein selbstbestimmtes und freudiges Ausleben eigener Entscheidungen, hier eben in der Ausdrucksform der Kleidung. Und die wird selbstbestimmt und selbstverständlich auf den Catwalks in New York oder Abu Dhabi präsentiert, super!

Sharon Adler: Du hast anlässlich der Ausstellung "Die weibliche Seite Gottes / The Female Side of God" im Jüdischen Museum Frankfurt (20. Oktober 2020 –14. Februar 2021) für die Begleitpublikation den Beitrag: "Jacqueline Nicholls, Maternal Torah" verfasst. Was war das Anliegen der Ausstellung, und worum ging es in deinem Beitrag?

Sara Soussan: Die Ausstellung hatte zum Ziel, die kulturhistorischen Spuren von weiblichen Elementen in den Gottesvorstellungen der drei monotheistischen Religionen mit Darstellungen in der Bildenden Kunst zu verbinden. Sie spannte einen Bogen von antiken archäologischen Figurinen über mittelalterliche hebräische Bibelillustrationen, Madonnenbilder der Renaissance bis hin zu Interpretationen renommierter zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler.
In den biblischen und außerbiblischen Texten finden sich vielfältige Vorstellungen von weiblichen Aspekten des einen Gottes. Dies gilt etwa für die Weisheit, die sowohl als Partnerin wie auch als Kind Gottes dargestellt wird. Mit der Schechina, der Einwohnung Gottes auf Erden, kommt in den rabbinischen Schriften eine weitere Vorstellung hinzu, die insbesondere in der jüdischen Mystik eine zentrale Rolle spielt. Die Schechina ist immer beim gemeinschaftlichen Gebet oder beim Torastudium anwesend, so die traditionelle Vorstellung. Die Künstlerin Jacqueline Nicholls kommentiert und reflektiert diese Vorstellung, indem sie einen Tora-Mantel, der als Schutz um eine Tora-Rolle gestülpt wird, in Form einer Korsage gestaltet, die weibliche Formen erahnen lässt. Dieser Toramantel war so fein und ästhetisch gearbeitet und transportierte eine so starke weibliche Zuneigung zur Tora, dass er sofort mein Lieblingsobjekt der Ausstellung wurde.

Kindheit und Jugend in Bremen

Sharon Adler: Welche Erinnerungen hast du an die Zeit als Kind und Jugendliche in der Jüdischen Gemeinde in Bremen? Waren die Gemeindemitglieder hauptsächlich Shoah-Überlebende oder waren darunter auch Rückkehrer*innen aus dem Exil? Und kamen damals viele Kinder zum Religionsunterricht?

Sara Soussan: Die Gemeinde war damals, als ich dort Kind und Jugendliche war, sehr klein, ich erinnere mich noch genau an die Zahl: 126 Gemeindemitglieder. Es gab dort viele Shoah-Überlebende, die ja in den 70er- und 80er-Jahren noch gar nicht so alt waren. Bei Gottesdiensten, Gemeindefeiern und weiteren Events waren sie immer prägend und aktiv dabei, und ich erinnere mich sehr intensiv an sie, ihre Erzählungen und ihr beeindruckendes Mitwirken. Wir waren natürlich nicht so viele Kinder und Jugendliche, im jüdischen Religionsunterricht saß ich streckenweise allein mit dem Rabbiner, manchmal waren wir zu dritt, absoluter Höchstwert. Es war gerade die familiäre Atmosphäre, die ich sehr gemocht habe. Knapp über 100 Leute, aber eine sehr aktive Gemeindegestaltung mit allem Drum und Dran, für uns Kinder und Jugendliche gab es immer Aktivitäten. Hier war die Rebbezin Noemi Berger die treibende Kraft, sie hat uns zusammengetrommelt und viel mit uns gemacht.

Die Rolle der Frauen in den 1950er- bis 1970er-Jahren in den Jüdischen Gemeinden Bremen, Düsseldorf und Stuttgart

Sharon Adler: Welche Rolle haben die Frauen in den Gemeinden in den 1960er- und 1970er-Jahren eingenommen? Welche Frauen sind dir während deiner Kindheit und Jugend und während deiner Tätigkeit als Religionslehrerin in Stuttgart und als Leiterin der Religionsschule in Düsseldorf begegnet? An welche Frauen möchtest du an dieser Stelle erinnern – und warum findet man kaum Informationen über sie?
Sara Soussan: Die Rebbezin Noemi Berger kannte ich ja schon aus der Jüdischen Gemeinde in Bremen, sie begegnete mir dann in den 1990ern in der Jüdischen Gemeinde in Stuttgart wieder, als ich dort anfing zu unterrichten. Sie hatte sich überhaupt nicht verändert und hatte inzwischen die WIZO Württemberg aufgebaut. Die Stuttgarter WIZO-Basare waren legendär, und sie hat es verstanden, alle, Männer wie Frauen, dafür einzuspannen.

In meiner Anfangszeit in Düsseldorf in den 2000ern lernte ich Eugenie Brecher sel. A. und Hellen Israel sel. A. kennen. Beide waren schon etwas ältere Damen, die die Shoah überlebt hatten, und beide waren in der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf äußerst engagiert und prägend. Eugenie Brecher war eine der ersten Überlebenden, die schon im September 1945 zum Rosch-Haschana-Gottesdienst kam. Dieser fand im Plenarsaal des Düsseldorfer Oberlandesgerichts statt, weil es damals noch keinen Betraum gab. Die Düsseldorfer SynagogeZur Auflösung der Fußnote[18] wurde in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 zerstört. Beim Aufbau der Nachkriegsgemeinde war sie prägend dabei, und sie wirkte zehn Jahre lang im Gemeindevorstand. Eine sehr kluge, feine und korrekte Frau, so habe ich sie in Erinnerung. Hellen Israel wurde in Oświęcim, auf Deutsch Auschwitz, in Polen geboren, sie sollte ihre gesamte Familie – auch ihren Mann und ihren zweijährigen Sohn – in der Shoah verlieren. In den 50er-Jahren kam sie mit ihrem zweiten Mann nach Düsseldorf, der dort ein Geschäft eröffnete. Mit diesem Schritt hat sie sich sehr schwergetan, das erzählte sie immer wieder. Sie gründete die WIZO Deutschland, initiierte das jüdische Altenheim und war viele Jahre Mitglied der Gemeinde-Repräsentanz. Sie entschied sich – anders als Eugenie Brecher – dafür, über ihr schweres Leben in Schulen zu erzählen und hat so bestimmt vielen Düsseldorfer Jugendlichen die Möglichkeit gegeben, die Shoah aus der Perspektive der Betroffenen zu begreifen.
Es gibt noch viele weitere Frauen, die ich in den Jüdischen Gemeinden in Deutschland getroffen habe und über die es viel zu erzählen gäbe. Dies wäre sicher eine wichtige und würdige Forschung, die längst überfällig ist. Vielleicht begibt sich ja jemand einmal daran, das würde mich sehr freuen.

Sharon Adler: Sind deiner Meinung nach heute die Frauen in den Jüdischen Gemeinden, im Zentralrat, in den Synagogen und jüdischen Institutionen gleichberechtigt? Haben wir schon alles erreicht? Oder wofür müssen wir uns noch heute einsetzen?
Sara Soussan: Auch die repräsentierenden Ehrenämter brauchen mehr Frauen. Die Gemeindemitglieder bestehen ja gleichteilig aus Frauen und Männern, und dies müsste sich eigentlich auch in den Vertretungen widerspiegeln. Tut es aber oft nicht. Woran liegt das? Ich denke, manchmal trauen Frauen sich das vielleicht noch nicht so zu und stellen sich gar nicht erst zur Wahl oder können sich in den Gremien nicht durchsetzen. Ich denke, hier haben wir es mit gewohnten gesellschaftlichen Strukturen zu tun, die wir ja aus dem öffentlichen Leben kennen. Parallel zu dieser Welt wird sich auch die jüdisch-innergemeindliche entwickeln. Schön wäre es natürlich, wenn hierbei die Vorbilder aus jüdischen Traditionen und Geschichte beschleunigend wirken könnten, um eigene, jüdische Zugänge zu der Problematik zu entwickeln. Es gibt sie ja, wir müssen sie nur kennen und frei von aufgestempelten Lesarten begreifen!



Dieses Interview ist in der von Sharon Adler (AVIVA-Berlin, Stiftung Zurückgeben) mitherausgegebenen Reihe "Jüdinnen nach 1945. Erinnerungen, Brüche, Perspektiven" im Deutschland Archiv online der bpb erschienen.

Zitierweise: "Sara Soussan: "Ich sehe keinen Widerspruch zwischen jüdischer Tradition und Moderne", in: Deutschland Archiv, 27.4.2023, Link: www.bpb.de/520426


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Beitrag vom 04.07.2023

AVIVA-Redaktion