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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 25.02.2011


Interview mit Yasemin Samdereli
Anna Hohle

Mit AVIVA-Berlin sprach die Regisseurin der wunderbaren Multi-Kulti-Komödie "Almanya" über filmische Parallelen zu ihrer eigenen Kindheit, die Chancen einer interkulturellen Gesellschaft und ihre...




... Lieblingsecken in der Hauptstadt.

Yasemin Samdereli wurde 1973 in Dortmund geboren und studierte an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Sie arbeitete als Regieassistentin, Drehbuchautorin und Regisseurin, sammelte Erfahrungen bei internationalen Kinoproduktionen wie Jacky Chan ist Nobody und Accidental Spy. Ihr erster Kurzfilm Schlüssellöcher erschien 1994, Kismet (2001) wurde für den Max Ophüls-Preis nominiert. 2002 drehte sie ihren ersten TV-Spielfilm, die Multi-Kulti-Liebeskomödie Alles getürkt und 2007 die Komödie Ich Chefe, du nix. An der preisgekrönten TV-Serie Türkisch für Anfänger arbeitete sie als Co-Drehbuchautorin mit.

"Almanya. Willkommen in Deutschland" produzierte sie gemeinsam mit ihrer Schwester Nesrin Samdereli, ebenfalls Regisseurin und Drehbuchautorin.

AVIVA-Berlin: Frau Samdereli, Almanya lief im diesjährigen Berlinale-Wettbewerb außer Konkurrenz und kommt am 10. März 2011 in die Kinos. Der Film behandelt auf leichte und humorvolle Weise die Erlebnisse und Konflikte dreier Generationen einer Einwandererfamilie. Welche persönlichen Erfahrungen von Ihnen und Ihrer Schwester sind hier mit eingeflossen?
Yasemin Samdereli: Eines unserer persönlichen Erlebnisse war zum Beispiel ein ebenso missglücktes Weihnachtsfest, wie es im Film vorkommt. Wir hatten unsere Mutter genötigt, uns ein Weihnachtsfest auszurichten. Da die Arme keine Ahnung hatte – sie kannte ja dieses Ritual nicht – standen wir Kinder vor einem ca. 10 Zentimeter großen Plastik-Tannenbaum und die Geschenke, die natürlich kaum darunter passten, weil der Baum eben so mickrig war, waren nicht verpackt. Es war ein Trauma!

AVIVA-Berlin: Sie schauen mit einem sehr liebevollen Blick auf die einzelnen Filmfiguren, wodurch eine große Nähe entsteht. Charles Dickens sagte einmal, es gebe keine bessere Form, mit dem Leben fertig zu werden, als mit Liebe und Humor. Könnte man so auch die Einstellung beschreiben, mit der Sie Almanya entwickelt haben?
Yasemin Samdereli: Charles Dickens spricht mir/ uns aus der Seele. Nesrin und ich haben genau diesen Ansatz. Ich habe immer jene Filmemacher bewundert, die das Kunststück vollbringen, ihre Zuschauer zum Lachen zu bringen und dennoch nicht belanglos zu werden.

AVIVA-Berlin: Thilo Sarrazin steht mit "Deutschland schafft sich ab" in den deutschen Bestsellerlisten, rechtspopulistische Parteien wie pro Köln oder Die Freiheit finden durchaus Zulauf in der Bevölkerung. Macht Ihnen diese Entwicklung Angst?
Yasemin Samdereli: Natürlich ist das etwas, was man mit Sorge beobachtet. Aber aktuell möchte ich meinen Blick auf alle Deutschen lenken, die diese Meinung nicht teilen. Und ich bin davon überzeugt, dass das die Mehrheit ist. Man darf Menschen wie diesem speziellen Herrn nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken. Eine dumme Meinung bleibt eine dumme Meinung, auch wenn sie von einer Gruppe von Menschen vertreten wird.

AVIVA-Berlin: Die Familie Yilmaz in Almanya setzt sich aus ganz verschiedenen Charakteren zusammen – anstelle von Stereotypen zeigen Sie Individuen. Spielen Kulturen oder kulturelle Hintergründe Ihrer Meinung nach überhaupt eine so wichtige Rolle bei der Generierung von Identität/en?
Yasemin Samdereli: Sicher spielen sie eine Rolle, aber die Entstehung von Identität bleibt eine komplexe Sache. Der Einfluss einer Familie kann groß sein, muss es aber nicht. Ebenso können Einwirkungen von Freunden oder Lehrern das eigene Leben stark prägen. So bleibt ein Mensch wirklich die Summe seiner Erlebnisse.

AVIVA-Berlin: Wünschen Sie sich, dass Almanya bei den ZuschauerInnen gewisse Denkprozesse auslöst oder Stereotype relativiert?
Yasemin Samdereli: Nesrin und ich haben Figuren kreieren wollen, die so leider kaum erzählt werden – dies war uns ein großes Bedürfnis.
Wir wollten zeigen: Es gibt auch Leute wie uns. Eltern wie unsere, die ihren Töchtern nicht im Weg stehen, sondern sie sehr unterstützen. Unser Bruder würde nie auf die Idee kommen, sich in das Privatleben seiner Schwestern zu sehr einzumischen. Und ebenso gibt es Frauen, die ein Kopftuch tragen und trotzdem die Hosen anhaben! Wir haben von der Vielfalt erzählt, von dem, was wir kennen.
Es ist wichtig, dass die Zuschauer den Menschen sehen. Die Figur Hüseyin ist in erster Linie Familienvater, Großvater und erst viel später kommt die Zuordnung des "Türken".

AVIVA-Berlin: In vielen Produktionen der letzten Jahre (Solino, Türkisch für Anfänger, aktuell Fasten auf Italienisch) wird das Thema Interkulturalität humorvoll bearbeitet. Was müsste sich ändern, damit dieses positive Bild von Interkulturalität auch im alltäglichen Miteinander wirksamer wird?
Yasemin Samdereli: Ich würde mir wünschen, dass die Menschen unkomplizierter und humorvoller miteinander ins Gespräch kommen.
Dabei wäre es schön, wenn den Einwanderern der ersten Generation nicht ständig ihr unperfektes Deutsch zum Vorwurf gemacht würde. Stattdessen sollte Deutschland anerkennen, was diese Menschen geleistet haben. Und seien wir ehrlich: Die Menschen kamen nach Deutschland, um zu arbeiten, und niemand hat sich in den Anfängen darum bemüht, die Deutschkenntnisse der Gastarbeiter zu fördern.

AVIVA-Berlin: Es wird viel über die Probleme von Migration debattiert, aber leider selten über den Mehrwert und die Chancen einer Gesellschaft gesprochen, in der Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen zusammen leben. Wie werden MittlerInnen zwischen den Kulturen wie Cenk in Almanya unsere Gesellschaft in Zukunft bereichern?
Yasemin Samdereli: Vielleicht ähnelt diese Gesellschaft irgendwann dem Bild einer Familie, die sich aus Mitgliedern verschiedener Kulturen zusammen setzt. Es wäre wunderbar, wenn dieser Prozess, wie Sie sagen, als Bereicherung, und nicht als Verlust verstanden würde. Wie vieles im Leben ist dies lediglich eine Frage der Perspektive.

AVIVA-Berlin: Sie sind in Dortmund geboren, leben inzwischen in Berlin. Was sind Ihre Lieblingsecken in der Hauptstadt? Wo ist Berlin Ihrer Meinung nach "typisch deutsch" und wo (zum Glück) überhaupt nicht?
Yasemin Samdereli: Ich liebe Berlin wirklich als großes Ganzes. Die Vielfalt dieser Stadt ist wundervoll. Ich genieße es, auf dem Multikulti-Markt am Maybachufer einzukaufen oder im Sub-Stadtteil Rixdorf spazieren zu gehen. Wenn ich Besuch habe, gehen wir oft zu Curry 36 oder zum Deutschen Bundestag, wo ich bestimmt schon vier Mal war.
Natürlich haben Kinos für mich eine besondere Bedeutung und davon hat Berlin so tolle: zum Beispiel das wunderschöne Babylon in Mitte, ein Stummfilmkino. Oder die Passage in Neukölln. Ich könnte weiter und weiter erzählen, aber das würde den Rahmen sprengen. Berlin ist einfach super.

AVIVA-Berlin: Können wir uns auf weitere gemeinsame Produktionen der Samdereli-Schwestern freuen?
Yasemin Samdereli: Aber natürlich! Wir arbeiten schon fleißig an neuen Geschichten.

AVIVA-Berlin: Vielen Dank für das interessante Interview! Wir wünschen Almanya viel Erfolg und Ihnen und Ihrer Schwester alles Gute.


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(Quellen (Biografie): Concorde Filmverleih)


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Beitrag vom 25.02.2011

AVIVA-Redaktion