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Beitrag vom 24.03.2006
Chava Pressburger im Interview
Constanze Geißler
Die Herausgeberin des Buches "Petr Ginz. Prager Tagebuch. 1941-1942" lebt heute in Israel. Mit AVIVA spricht sie über den jungen, in Auschwitz ermordeten Tagebuchschreiber, der ihr Bruder war.
Petr Ginz war kein gewöhnlicher Junge. In seinen Tagebüchern hat er niemals über seine Verzweiflung oder Angst während der Zeit des Holocausts geschrieben. Was bei der Lektüre des Buches "Petr Ginz. Prager Tagebuch. 1941-1942" ungemein beeindruckt, sind die Kraft und der Mut des Bruders von Chava Pressburger. Dass der Tagebuchschreiber trotz seiner schweren Lebensbedingungen nie aufgegeben hat, an seine Phantasie zu glauben. Dass er gemalt, unzählige Bücher gelesen und Kurzgeschichten geschrieben hat. Dass er in so jungem Alter aktiv bei der Untergrundzeitschrift Vedem in Theresienstadt mitarbeitet hat.
AVIVA-Berlin: Ihr Bruder, Petr Ginz, schreibt in seinem Tagebuch viel über die Schule, über den Unterricht, seine Noten und Klassenkameraden. Gleichzeitig sieht er, wie sich das jüdische Leben in Prag verändert, wie es von den Nationalsozialisten unterdrückt wird. War Petr Ginz zu dem Zeitpunkt, als er Tagebuch schrieb, noch ein Junge im Alter von 13, 14 Jahren oder ist er aufgrund seiner Erlebnisse schon erwachsen geworden?
Chava Pressburger: Petr war ein Junge im Alter von 13 und 14 Jahren im wahren Sinne des Wortes. Er war ein guter Schüler. Er war aktiv und manchmal auch lausbübisch, hatte großes Verständnis für Humor und das Lächerliche. Sehen Sie, wie er den ersten Tag des Sterntragens beschreibt. [Anm. der Redaktion: In der Eintragung vom 19.IX.1941 schreibt Petr Ginz: "Auf dem Weg zur Schule habe ich 69 ‚Sheriffs’ gezählt, Mama hat dann über Hundert gesehen."]
Aber sicher gab es Stunden, hauptsächlich vor dem Einschlafen, in denen er, so wie ich auch, Angst und Sorgen bekämpfte.
AVIVA-Berlin: Gibt es eine Tagebucheintragung, die Sie besonders berührt oder an ihr Leben in Prag besonders erinnert hat?
Chava Pressburger: Die letzten Eintragungen Petrs vom 19.VII. bis zum 9.VIII.1942 berühren mich am Meisten. Man spürt dort seine Nervosität. Er hat nicht mehr die Geduld, alle Ereignisse wie früher zu beschreiben. Seine plötzlich unordentlich gewordene Handschrift deutet darauf, dass er schon ahnt, dass die schicksalhafte Stunde seines Transportes nach Theresienstadt unausweichlich ist.
AVIVA-Berlin: Hat es Sie überrascht, als Sie nach dem Abtransport Ihres Bruders nach Theresienstadt die Tagebücher bei ihm entdeckten oder wussten Sie, dass er Tagebuch schrieb?
Chava Pressburger: Petr war immer sehr in seine verschiedenen Schreibarbeiten vertieft. Ich wusste nicht, dass er auch Tagebuecher schrieb. Erst als die Tagebücher im Jahre 2003 auftauchten, habe ich sie das erste Mal gesehen.
AVIVA-Berlin: Was glauben Sie, hat Ihrem Bruder das Tagebuchschreiben bedeutet?
Chava Pressburger: Ich glaube, er hatte das Gefühl, dass er in einer ungewöhnlichen Zeit lebt. Er wollte notieren, wie sein Leben in dieser Zeit ablief. In dieser Hinsicht war er unserem Vater ähnlich - der schrieb ein Tagebuch im 1.Weltkrieg in der russischen Gefangenschaft. Nie vorher und nie nachher.
AVIVA-Berlin: Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie erlebten, wie Ihre Verwandten, NachbarInnen und FreundInnen in Zügen nach Theresienstadt abtransportiert wurden?
Chava Pressburger: Es war schrecklich, aber man versuchte immer die Hoffnung zu bewahren, wie während einer Krankheit. ‚Dies kann nicht lange dauern, es wird bald vorbei sein.’ dachte man sich. Die Abtransportierten werden sich dort eingewöhnen und das Ende des Krieges abwarten. Auch hoffte ich, dass es uns nicht betreffen wird.
AVIVA-Berlin: Eine nichtjüdische Tante hat in ihrem Geschäft das Schild aufgehängt, das den Juden den Zutritt verbot. Wie denken Sie darüber?
Chava Pressburger: Damals, als wir dort vorbeigingen, war es ein schockierendes Erlebnis. Wir waren ja immer zu ihr ins Geschäft gegangen, um sie zu begrüßen. Die Tante hat immer nach unseren Eltern gefragt und wir bekamen einen Kuss von ihr. Nach dem Krieg tat sie alles Mögliche, um sich zu entschuldigen. Ich fühlte keinen Hass ihr gegenüber, aber ich verurteilte sie. Es war keine gesetzliche Pflicht, dieses Schild aufzuhängen. Ich glaube, sie gehörte zu den vielen, die nicht die moralische Kraft und den Mut hatten sich anders zu benehmen. Darum war unser Verhältnis nie wieder so wie früher.
AVIVA-Berlin: Sie sind mit 14 Jahren auch in das Ghetto gekommen, wurden aber nicht nach Auschwitz deportiert. Sie und ihre Eltern haben den Holocaust überlebt. 1948 sind Sie nach Israel gegangen. Wie haben Sie die erste Zeit im Land erlebt?
Chava Pressburger: Der Anfang in Israel war sehr schwer. Wir hatten ein sehr schweres Leben. Nach einer kurzen Zeit in einem Kibbutz in einem Zelt, wohnten wir in einem Zimmer ohne Küche. Ich war 18 Jahre alt, mein Mann 24. Er studierte und arbeitete physisch sehr hart. Konnte er einige Tage nicht arbeiten, so hatten wir kein Geld für Lebensmittel. Ich malte Seidenkopftücher und verkaufte sie. Es wurde selbstverständlich immer besser. Mein Mann wurde Chefingenieur bei einer großen Firma, und auch ich hatte Erfolg in meiner Kunst. Ich bekam dann zwei Kinder. Wir wollten Israel nie verlassen. Wir hoffen, dass auch hier einmal Vernunft und Frieden herrschen werden.
AVIVA-Berlin: Die Linolschnitte Ihres Bruders, die Sie in Ihrem Buch veröffentlicht haben, drücken Optimismus und den Glauben an Freiheit aus. Was sehen Sie in den Linolschnitten?
Chava Pressburger: Petr hat oft in seinen Linolschnitten ein Segelschiff gezeichnet. Zum Beispiel in "Ex Libris" und für seinen Freund Harry Popper. Ich glaube, dass das Schiff mit den vom Wind gespannten Segeln und das weite offene Meer ein Symbol der Freiheit seiner Seele war. In vielen anderen Linolschnitten (es gibt in den Archiven von Yad Vashem über 50) befasst sich Petr mit hohen Gebirgen und den Weltall, was auch dieses Symbol beinhaltet.
AVIVA-Berlin: Sie sind selbst Malerin. Womit beschäftigen Sie sich in Ihren Bildern?
Chava Pressburger: Als Künstlerin ist es immer so wie bei allen Künstlern - der Versuch, das Unsagbare auszudrücken. Ich hatte verschiedene Abschnitte, was die Technik anbelangt. Ich malte große Ölbilder und Aquarelle. In den letzten Jahren ist es das selbsterzeugte Papier, was ich herstelle. Themen, die mich besonders beschäftigen, sind das menschliche Leiden und der Hass. So wie in der Shoah oder wie sie heute, in Zeiten des Terrors, zum Ausdruck kommen. Aber auch die Themen Glaube und Hoffnung, die habe ich nie aufgegeben.
AVIVA-Berlin: Durch das Auffinden der Tagebücher, das Lesen der Tagebucheinträge und schließlich mit der Herausgabe sind sicher alle Erinnerungen heute wieder ganz nah - was bedeutet die Veröffentlichung für Sie und was würden Sie sich für das Buch wünschen?
Chava Pressburger: Ja, die Erinnerungen sind nahe. Ich glaube, dass man in meinem Alter die Erinnerungen intensiver erlebt, als wenn man jünger ist. Das Auffinden des Tagebuches und die Herausgabe des Buches sind sicher ein weiterer Antrieb dazu. Man denkt viel darüber nach. Die Veröffentlichung der Tagebücher bedeutet für mich vor allem das Gefühl, dass ich Petrs Andenken ehre.
Als der israelische Astronaut Ilan Ramon Petrs Zeichnung mit sich auf Raumfahrt nahm, rief er mich an und sagte, er verwirkliche nun den Traum Peters.
Die Tagebücher, welche durch den Absturz der Raumfähre entdeckt wurden, sind wie eine Botschaft von Petr. Ich wünsche dem Tagebuch, dass es ein Beitrag zum Verständnis des damaligen Geschehens wird, und das viele die Inspiration für ihre eigenen Taten, in Petrs Gedanken finden.
AVIVA-Berlin: Vielen Dank für das Interview und Ihnen alles Gute!
Lesen Sie auch die Buchrezension zu "Petr Ginz. Prager Tagebuch. 1941-1942"