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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 01.03.2007


Dror Shaul im Interview zu Sweet Mud
Tatjana Zilg

Auf der 57. Berlinale wurde sein Film "Sweet Mud" (Adama Meshuga´at) mit dem Gläsernen Bären ausgezeichnet. Das Melodram über eine Kindheit in einem Kibbutz während der 70er Jahre beeindruckte die Jugendjury sehr




"Ist es möglich Individualität und Freiheit mit dem Wunsch nach Gemeinschaft zu verbinden? Die authentische Darstellung einer engen Mutter-Sohn-Beziehung und der Suche nach dem eigenen Weg hat uns tief berührt. Der Gläserne Bär für den besten Spielfilm geht an Adama Meshuga´at von Dror Shaul" begründeten die sieben Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren ihre Entscheidung für die Preisvergabe während der Generation, dem Kinder- und Jugendfilmfest der Berlinale unter neuen Namen.

Filme, die keineR so schnell wieder vergisst, waren bei der Generation zahlreich vorhanden, mit Themen, die unter die Haut gehen, aufrütteln und zum Nachdenken anregen. Dabei kam natürlich die Unterhaltung und Spannung nie zu kurz.

"Sweet Mud" wirft einen intensiven und detaillierten Blick auf einen wichtigen Teil der Zeitgeschichte Israels: Das alltägliche Leben im Kibbutz während der 70er Jahre wird aus der Perspektive des 12jährigen Dvir (Tomer Steinhof) gezeigt, der dort mit seiner Mutter und dem älteren Bruder lebt. Der Vater ist schon vor einigen Jahren gestorben.
Über die Geschehnisse der Vergangenheit legt sich ein dunkler Schleier. Miri (Ronit Yudkevitz), die Mutter, leidet unter Depressionen. Im Kibbutz hat sie eine schwierige Position, auf dem ersten Blick scheinen sich alle um sie zu kümmern, aber dann wird deutlich, dass die Regeln sehr eng und starr sind. Miri gelingt es nicht, einen Platz in der Gemeinschaft einzunehmen, mit dem sie ihr innerliches Gleichgewicht wiederfinden könnte.
Dvir wächst nicht im Hause seiner Mutter auf, denn in den 70er Jahren war es üblich, dass die Kinder in eigens dafür vorgesehenen Häusern leben und die Eltern nur ab und an besuchen.
Als Stephan (Henri Garcin), Miris Freund aus der Schweiz und ein Judo-Champion, zu einem zweiwöchigen Besuch in den Kibbutz kommt, scheint sich die Situation kurzfristig zu verbessern. Doch als er aufgrund einer unglücklichen Verkettung der Ereignisse den Kibbutz wegen eines Gemeinschaftsbeschlusses wieder verlassen muss, eskaliert die Situation und Dvir muss eine wichtige Entscheidung für sein eigenes Leben treffen.

AVIVA-Berlin traf auf der 57. Berlinale den Regisseur Dror Shaul zu einem Gespräch über den Film, mit dem er 2003 für das Sundance Directors and Screenwriters Lab ausgewählt und beim Sundance 2007 mit dem World Cinema Jury Prize ausgezeichnet wurde. Im September 2006 gewann "Sweet Mud" bei der Verleihung der Ophir Awards, der Israeli Film Academy bereits Auszeichnungen in den Kategorien Bestes Production Design, Beste Filmmusik und Bester Sound.

AVIVA-Berlin: Sie sind selbst in einem Kibbutz aufgewachsen. Haben Sie während des Drehbuchschreibens viele ihrer biographischen Erlebnisse integriert?
Dror Shaul: Ich habe an vielen Stellen auf meine biographische Erlebnisse zurückgegriffen, aber der Plot ist keine wahre Geschichte im ursprünglichen Sinne. Das Buch basiert zwar auf meinen Kindheitserinnerungen, aber es ist nie genau so in einem Jahr einer einzigen Person passiert.
Ich bin selbst in einem Kinderhaus eines Kibbutz aufgewachsen. Das war in den 70er Jahren. Als ich ein paar Wochen alt war, kam ich in die Baby-Krippe und habe meine Eltern nur noch für ein paar Stunden am Nachmittag gesehen.
Als das Drehbuch fertig war und es an die Umsetzung ging, musste ich die Realität ohnehin beiseite legen und mich auf die technischen Aspekte konzentrieren.

AVIVA-Berlin: Hat sich denn viel verändert in den Kibbutzen während der letzten dreißig Jahre?
Dror Shaul: Der Film ist ein Rückblick in die 70er Jahre und zeigt, wie zu dieser Zeit im Kibbutz gelebt wurde. Die Kibbutz-Bewegung hat sich in den frühen 80er Jahren sehr verändert – nach einer finanziellen und sozialen Krise, im Zuge derer viele Mitglieder die Kibbutzim verlassen haben. Heute ist die Kibbutz-Bewegung ganz anders. Es ist mehr wie ein kleines Dorf mit vielen Gemeindeeinrichtungen.

AVIVA-Berlin: Wie alt waren Sie, als Sie den Kibbutz verlassen haben?
Dror Shaul: Das war erst nach meinen Armee-Dienst.

AVIVA-Berlin: Der Junge im Film flieht schon mit 12 Jahren aus dem Kibbutz. Gemeinsam mit einer Freundin fährt er mit dem Fahrrad über die Felder in Richtung Flughafen.
Dror Shaul: Das Ende des Filmes ist eine Metapher dafür, was in der Zukunft passieren wird. Die Szene, wo die beiden Teenager aus dem Kibbutz davonlaufen, wurde von einem Kamerateam in einem Helikopter gedreht. Das ist sehr ungewöhnlich für einen Film mit einem kleinen Budget, der in den 70er Jahren spielen soll. Aber durch die Luftaufnahmen wird die emotionale Stimmung der Schlussszene verstärkt. Damit soll zum Nachdenken und Sich-Fragen-Stellen angeregt werden. Die Kinder fahren mit den Rädern über die Felder zum Flughafen, aber man kann sich nicht sicher sein, ob sie es schaffen werden. Vielleicht haben sie auch gar keine Pässe dabei, vielleicht wird der Verfolger aus dem Kibbutz sie schon bald mit seinem Jeep einholen. Das ist alles aber auch nicht so wichtig in dem Moment. Wichtig ist nur ihre Entscheidung, den Kibbutz in dieser Situation zu verlassen – ein wichtiger Schritt hin zum Erwachsenwerden. Auch wenn es ihnen dann doch erst in ein paar Jahren gelingen sollte, den Kibbutz zu verlassen.

AVIVA-Berlin: Es bleibt unklar, warum die Eltern den Kibbutz nicht gemeinsam verlassen haben, als sie gemerkt haben, dass sie nicht getrennt von ihren Kindern leben wollen.
Dror Shaul: Wir haben sehr lange darüber nachgedacht, wieviel Zeit wir den einzelnen Anteilen der Geschichte geben wollen. Insgesamt sollte der Film ja auch nicht zu lang werden, so wie er jetzt gezeigt wurde, hat er 97 Minuten. Alles, was offen bleibt an der Handlung, ist so beabsichtigt. Die Frage, warum sie den Kibbutz nicht verlässt, ist zentral, aber ich will sie nicht detailliert beantworten, sondern das Publikum soll die Möglichkeit bekommen, sich dazu seine eigenen Gedanken zu machen. In Israel war die Meinung vieler Frauen, es sei ganz natürlich, dass sie den Kibbutz nicht aus eigener Kraft verlassen kann. Die Männer sahen das meist etwas anders.
Im Film soll nur deutlich werden, dass es verschiedene Variationen über die Vergangenheit der Eltern gibt. Was den Kindern im Kibbutz erzählt wird, entspricht nicht der Wahrheit. An einer Stelle wird dann deutlich, dass der Vater gehen wollte, aber bedroht wurde.

AVIVA-Berlin: Wieviel Zeit hat das Casting in Anspruch genommen?
Dror Shaul: Es war sehr schwierig, die beiden Hauptrollen zu besetzen – Dvir und seine Mutter Miri. Und es war leider nicht so, dass ich zu Beginn zumindest eine schon besetzt hätte, so dass ich "nur" den passenden Gegenpart hätte finden müssen.
Ich bin alle Schauspieler in Israel in der Altersgruppe um die 14 durchgegangen, aber es wurde ein sehr schwieriger Prozess. Wir haben sehr lange gesucht, bis Tomer zu einem unserer Casting-Workshops kam. Ich war gerade gar nicht da, meine Schwester rief mich an und sagte, diesen Jungen müsse ich mir unbedingt ansehen. Tomer war sofort völlig dabei, er hat ein sehr gutes Gedächtnis und konnte sich tief auf den Charakter einlassen. Er hat eine Szene sehr intensiv gespielt, wir haben ihm eine Pause gegeben, damit er sich beruhigen konnte, und nach der Pause spielte er dieselbe Szene sogar noch intensiver. Glücklicherweise entdeckten wir kurz darauf auch Ronit Yudkevitch für die Rolle der Mutter. Sie ist ein berühmtes Model in Israel. Sie hat zuvor erst in zwei Spielfilmen mitgewirkt, "Sweet Mud" ist ihre erste Hauptrolle. Wir haben dann daran gearbeitet, die Beziehung zwischen ihnen aufzubauen. Und weil sie beide ganz besondere Seelen sind, gab es bald eine tiefe Verbindung zwischen ihnen. Ich denke, das ist einer der Gründe, warum der Film so stark wirkt.

AVIVA-Berlin: Warum haben Sie sich dafür entschieden, den Altersunterschied zwischen Miri und ihrem Freund Stephan so groß zu machen? Für den Plot scheint es nicht unbedingt notwendig zu sein.
Dror Shaul: Dafür gibt es zwei Gründe. Zuallererst basiert der Film ja auf der Realität. Meine Mutter hatte einen Schweizer Freund, der Ski Champion war. Als er uns zum ersten Mal im Kibbutz besuchte, war er 72. Das war eine ziemliche Demütigung für mich. Alle anderen Kinder haben mich ausgelacht. In der Realität verkörperte dieser Mann für uns aber die Hoffnung auf ein Überleben. Die Liebesbriefe, die meine Mutter an ihn schrieb, entstanden genau so wie im Film gezeigt. Sie wurden von einer dritten Person übersetzt und ich gab zuvor immer eine Menge Ratschläge, wie meine Mutter sie am besten formulieren soll.
Als er einmal wieder in den Kibbutz kommen wollte, schrieb ich im Namen meiner Mutter, dass wir uns vielmals für die Einladung in die Schweiz bedanken und sie gerne annehmen. Drei Monate später hat er uns tatsächlich Flugtickets geschickt. Wir flogen in die Schweiz und hatten dort eine sehr gute Zeit.
So wurden diese Ereignisse Bestandteil des Drehbuchs.
Und für die Ausgestaltung des Plot erschien es mir gerade wichtig, dass Stephan so viel älter als Miri ist, 30, mindestens 25 Jahre. Denn so entstehen neue Fragen zu dieser Beziehung: Ist es möglich, mit so einem großen Altersunterschied eine Beziehung aufzubauen? Ist es wirklich eine Liebesbeziehung oder mehr ein Vater-Tochter-Verhältnis? Wo haben sie sich getroffen, wie sind sie zusammengekommen? Es gibt ein paar Erklärungen, aber sie bleiben vage angedeutet, so dass das Publikum sich seine eigenen Gedanken machen muss. Nach einiger Zeit beginnt man zu glauben, dass diese Beziehung trotz des großen Altersunterschied funktionieren könnte.
Das alles macht die Geschichte um einiges interessanter, als wenn der Freund gleichaltrig wäre.

AVIVA-Berlin: Sie haben zuvor zwei andere Spielfilme gedreht. Würden Sie uns etwas über die Inhalte erzählen?
Dror Shaul: Meine beiden ersten Filme waren Komödien. Die Erste heißt "Operation Grandma". Es ist eine 50minütige Kurzgeschichte über drei Brüder aus einem Kibbutz, die ihre Großmutter aus der Stadt zur Beerdigung in den Kibbutz bringen müssen. Der Film bekam 1999 den Israeli Academy Award und wurde vom Publikum sehr gut angenommen. Mein zweiter Film "The Witch" handelt von einer 62 jährigen Frau, die Landbesitzstreitigkeiten mit ihrem Nachbar hat, denn sie will ihr Haus ausbauen. Aber sie geraten in ein heftiges Wortgefecht und sie verflucht ihn. Und innerhalb einer Woche wird alles, was sie gesagt hat, wahr: Sie wird berühmt, er wird verrückt und übertrieben religiös. Es geht um Rassismus in der israelischen Gesellschaft. An den Kinokassen war er auch sehr erfolgreich, aber die KritikerInnen haben ihn verrissen. Manche hätten sogar gern gesehen, wenn ich ausgereist wäre.

AVIVA-Berlin: Werden Sie Zeit finden, auf der Berlinale selbst Filme zu schauen?
Dror Shaul: Leider nur sehr wenig, aber "Beaufort" werde ich mir ansehen.

AVIVA-Berlin: Vielen Dank für das Interview!

Sweet Mud
Originaler Titel: Adama Meshuga´at
Israel, Deutschland, Japan 2006

Mehr Infos zu "Sweet Mud" unter: www.heimatfilm.biz


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Beitrag vom 01.03.2007

AVIVA-Redaktion