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AVIVA-BERLIN.de 3/18/5785 - Beitrag vom 30.12.2020


AVIVA-Interview- + Fotoprojekt JETZT ERST RECHT: Anetta
Anetta Kahane, Sharon Adler

Um Erfahrungen und Forderungen von Jüdinnen und Juden zu Antisemitismus in Deutschland sichtbar zu machen, hat Sharon Adler, Fotografin und Herausgeberin von AVIVA-Berlin das Projekt "JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS!" initiiert. Eine der Teilnehmer*innen ist Anetta Kahane, die sich als Vorstandvorsitzende der 1998 von ihr gegründeten Amadeu Antonio Stiftung gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus engagiert. Ihr Slogan lautet: "JETZT ERST RECHT! - STOP ANTISEMITISMUS" – "Jewish Empowerment Now!"




AVIVA: JETZT ERST RECHT! - STOP ANTISEMITISMUS! Du hast für das Demo-Schild das Statement "Jewish Empowerment Now!" gewählt. Welche Message möchtest Du damit transportieren? Wie könnte ein "Jewish Empowerment Now!" gestaltet sein?



Anetta Kahane: Ich habe gerade dieses Statement, diesen Slogan, gewählt, weil ich finde, dass es inzwischen viele junge jüdische Menschen gibt, die nicht mehr nur Objekte von Hass oder Antisemitismus sein wollen. Die nicht immer nur diejenigen sein wollen, über die geredet wird. Die sich immer erklären müssen, wie sie sich fühlen, zum Beispiel in Bezug auf Israel, in Bezug auf Antisemitismus.

Mir ist es wichtig, aus dieser Rolle herauszutreten, und zu zeigen, dass wir auch Subjekte und nicht nur Objekte sind!
Wir nehmen Gestaltung an, wir wollen selber gestalten. Und nicht immer nur als die doofen Juden, die, wenn´s gut läuft, mitleidig gefragt werden, wie es ihnen denn so mit Antisemitismus geht. Und wenn´s böse ist, beschimpft werden ("Ihr Juden seid doch…!" oder "Israel ist doch…!).

Wir wollen sichtbar sein. Das finde ich total wichtig, auch im Kontext von "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland". Es muss einfach mal gut sein damit, dass wir immer nur zu Objekten gemacht werden.
Ich persönlich mache meine Arbeit durchaus auch aus dem Verständnis von Judentum heraus. Und ich sehe das auch als einen Teil der Jüdischkeit und des Jüdischen, im Kontext von Zedaka (Hebräisch: "Gerechtigkeit") und Tikkun Olam (Hebräisch: Vervollkommnung der Welt) für Gerechtigkeit zu sorgen. Aber nicht nur.

Mir ist es auch wichtig zu sagen, Judentum ist nicht nur universalistisch und gut für die anderen, sondern es ist auch gut für uns. Es ist auch das Jüdische für sich selbst. Es heißt auch, eine Kontur zu haben und selbst jüdisch zu sein. Darauf müssen wir achten.
Und deswegen habe ich das Jewish-Empowerment Now-Statement gewählt, weil ich mir ein starkes jüdisches Selbstbewusstsein wünsche, das sich der Tatsache bewusst ist, dass das Jüdische einen großen und starken Beitrag für die Moderne geliefert hat. Ohne das Jüdische wäre die moderne Gesellschaft gar nicht denkbar. Und ich will einfach nicht, dass man das immer übergeht. Sondern ich will, dass man sieht, was das Judentum als solches für die moderne Welt geleistet hat. Und damit meine ich nicht nur Einstein. Sondern vielmehr das Jüdische, also die jüdische Art, zu denken, die jüdische Art, Konflikte zu lösen. die jüdische Art von Selbstbewusstsein, die jüdische Fähigkeit, sich konkret den Problemen zu widmen und nicht nur Theorien zu produzieren. Das Denken, das auch vor Tabus nicht haltmacht. Das alles sind Elemente des Jüdischen, die total wichtig sind für die Moderne.
Das will ich jetzt gar nicht im Detail ausführen, denn es sind sehr viele Elemente. An dieser Stelle sei nur gesagt, dass das Jüdische, und damit meine ich nicht nur die einzelnen Juden die Großes geleistet haben, sondern dass es das Jüdische als eine Tradition des Denkens und des Handelns ist, was uns ausmacht. Und das ist es, worauf wir uns konzentrieren, wenn wir an 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland denken.
Und das ist definitiv etwas, wo Juden und Judentum tatsächlich Subjekt war. Ich will die Erzählung und Narrative über Juden dort unterbrechen, wo sie Juden passiv macht. Ich will das Aktive deutlich machen. Und damit auch uns selbst anzugucken.

AVIVA: Du hast im Oktober 2020 gemeinsam mit Martin Jander das Buch "Gesichter der Antimoderne. Gefährdungen demokratischer Kultur in der Bundesrepublik Deutschland" herausgegeben. Der Titel Deines Beitrags lautet > ´Das Unbehagen am Jüdischen und die Antimoderne´. Worum geht es (Dir) in diesem Beitrag? Was willst Du vermitteln?

Anetta Kahane: Ich habe versucht, über den Antisemitismus auf das Jüdische zu kommen. Es wird immer gesagt, Antisemitismus habe mit Juden gar nichts zu tun. Egal, wie sie sich verhalten – Antisemitismus gibt es immer. Und das stimmt auch, das ist richtig so. Denn Antisemitismus ist immer eine Projektion, eine Unterstellung. Es ist immer etwas, was man über die Juden annimmt. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel. Punkt. Ich wollte der Frage nachgehen, inwieweit das moderne Leben die Menschen verunsichert.

Die Demokratie als die höchste und ausgeprägte Form der Moderne wird von vielen Leuten als anstrengend, unbequem und herausfordernd empfunden. Und wir sehen ja gerade jetzt in dieser Zeit, wieviele Menschen antidemokratische Einstellungen haben. Sie wollen Klarheit, Eindeutigkeit und wollen sich nicht mit neuen Themen wie Globalisierung oder Migration auseinandersetzen. Meine Frage, die ich damit an mich und den Leser gerichtet habe, war: was hat das Jüdische damit zu tun? Die Ablehnung der Moderne und damit der Demokratie äußert sich sehr häufig in Antisemitismus. Wir haben im Buch über drei Formen der antimodernen Strömungen reflektiert. Das eine ist der politische Islam, der extrem antimodern ist und sehr antisemitisch, das andere der Rechtsextremismus, der ebenfalls extrem antimodern ist und sehr antisemitisch, und das dritte ist der Linksextremismus mit antiimperialistischem Impetus, der den Kapitalismus für das größte Übel hält. Und der ist natürlich auch extrem antisemitisch. Diese drei Strömungen, die sich an den Rändern der Gesellschaft manifestieren, sich aber in der Mitte befinden und in den Rändern artikulieren.

Ich habe das versucht, in eine zeitliche Abfolge zu bringen. Man kann heute Ethik, Dialektik, Philosophie und Literatur nicht mehr ohne die jüdischen Grundlagen denken, die sich in 1700 Jahren entwickelt haben.
Das ist einfach eine ganz starke Grundlage der heutigen modernen Auffassung über das Sein und die Ethik.

Und die absolute Priorität des Lebens im Judentum hat heute einen wichtigen Stellenwert in der Moderne eingenommen. Das ist heute selbstverständlich. Im Judentum ist es nicht erlaubt, irgendetwas zu tun, was dem Leben schadet, aber alles erlaubt, um ein Leben zu retten. Keine Ideologie, kein Beschluss, keine religiöse Vorschrift darf das existierende Lebendige in Gefahr bringen. Das ist etwas, was es in anderen Religionen so nicht gibt.

Die intellektuelle Auseinandersetzung mit den Schriften hat den Juden außerdem sehr viel geistige Flexibilität ermöglicht. Sehr viel lokale Flexibilität. Du kannst, wenn Du Dein Buch hast, also Deine inneren und äußeren intellektuellen Rahmenbedingungen, überall auf der Welt leben, ob im Thüringer Wald oder am Strand von Los Angeles.
Das sind natürlich auch Elemente der Moderne. Weil viele Menschen heute sehr viel flexibler sein müssen, weil sie – in der westlichen Welt – sehr viel weniger dort leben, wo sie geboren und aufgewachsen sind.

Diese jüdischen Grundlagen prägen einen großen Teil der urbanen Gesellschaft heute. Auch wenn die Leute das nicht wissen. Interessant ist dabei, dass die Gegner der Moderne sehr wohl wissen, dass das eine jüdische Wurzel hat. Sonst wären sie nicht so antisemitisch, sonst würden sie die Juden nicht so stark als Symbol dieser neuen Welt sehen. Der Antisemitismus in der Antimoderne ist für mich auch ein Beleg dafür, dass das Jüdische auch einen sehr starken Anteil an der Moderne hat und dass der Antisemitismus gegen diese Moderne irgendwie logisch ist.

Mit anderen Worten: Die Juden können zwar nichts dafür, dass sie gehasst werden, aber es steckt sehr viel Jüdisches in der Moderne und in dem Maße, in dem man sie ablehnt, taucht auch immer das antisemitische Klischee auf.

Das Unbehagen an der Moderne muss einen antisemitischen Kern haben, denn die Moderne ist sehr stark vom Judentum geprägt. Das hat sehr viele historische und intellektuelle Quellen. Es gibt ein Gefühl von denjenigen, die die Moderne hassen, eine Ahnung über viele Generationen in der Narration seit der Diaspora, dass die Juden daran schuld sind.
Und das nicht ganz zu Unrecht, was das Zivilisatorische betrifft, nicht aber, was das Individuum betrifft.
Ich meine, es ist an der Zeit, auf dieses zivilisatorische Element, das die Moderne prägt, als Jude durchaus selbstbewusst reagieren kann.

AVIVA: Inwiefern?

Anetta Kahane: Wir leben in einem Staat, in dem die Verfassung die universalistischen Werte hochhält. Nach Artikel 3 des Grundgesetzes sind alle Menschen gleich und dürfen nicht diskriminiert werden. Für mich der wichtigste Artikel des Grundgesetzes und eine der Folgen des Jüdischen, weil der Universalismus des Jüdischen hier einen starken Ausdruck findet. Wenn jetzt Leute sagen, dass sie mit diesem Artikel 3 ein Problem haben, weil sie finden, dass Schwarze weniger wert sind, oder dass Frauen weniger wert sind, kann man ihnen nur antworten, dass sie damit ein Problem haben.

An diesem Standard kann nicht gerüttelt werden, denn das ist Gesetz. Innerhalb dieses Systems ist das nicht verhandelbar. Aber es gibt eben diese Leute, die sich abkoppeln wollen von globalem Denken, von der Verfassung, die gegen Einwanderung sind, die wieder ein ethnisch definiertes Volk wollen, die zwar international sein wollen, dabei aber national bleiben. Und das ist eine gefährliche Entwicklung, weil die immer mit Antisemitismus und Rassismus einhergeht.

Halle – das Urteil und die Verhandlung

AVIVA:
Am 21.12.2020 wurde der Attentäter von Halle zu lebenslanger Haft mit Sicherheitsverwahrung verurteilt. Was ist Deine Meinung dazu, bist Du zufrieden mit dem Urteil oder blieben Deiner Meinung nach Aspekte unberücksichtigt?

Anetta Kahane: Es gibt zwei Dinge, das Urteil und die Verhandlung. Das kann man schlecht trennen. Das Urteil ist richtig und angemessen, das ist die Höchststrafe, die man in Deutschland kriegen kann. Damit kann man nicht unzufrieden sein. Die Verhandlung allerdings einige Schwächen gezeigt. Erstens, dass ähnlich wie beim NSU-Prozess das ganze Feld, die Umgebung, die Motivation und der Kontext dieser Tat nicht ausgeleuchtet wurde. Das ganze politische Drumherum dieser Tat wurde nicht verhandelt und das wäre nach unserer Auffassung wichtig gewesen.

Eine Verhandlung dient ja nicht nur der Urteilsfindung, sondern ist auch dazu da, das gesamte Umfeld dieser Person zu beleuchten. Und das ist, finde ich, zu wenig passiert. Das lag auch daran, dass nicht nur das Gericht, sondern auch die ermittelnden Behörden, das Landeskriminalamt die mit diesem Fall Halle zu tun hatten, und alle, die da ausgesagt haben auch aus der Stadt selber von großer Ahnungslosigkeit und von einer Gleichgültigkeit aggressiver Art geprägt waren. Das hat der Prozess offenbart, dass tatsächlich noch wahnsinnig zu tun ist, um bei den ermittelnden Behörden, bei der Polizei und bei der Justiz einen Wissenstand herzustellen, wenn schon keine emotionale Reife vorhanden ist. Da muss noch viel Zeit investiert werden, damit sie überhaupt wissen, wovon sie reden.

Das hat nochmal in erschreckender Weise vor Augen geführt, wie wenig dieser Teil des Staates in der Lage ist, Antisemitismus und Rechtsextremismus als das zu sehen, was es ist. Das ist ein Teil des Prozesses, der erschreckt hat. Das dritte ist die mediale Begleitung.

AVIVA: Anders als auf den prozessbegleitenden Dokumentations- und Rechercheplattformen Belltower.News, NSU Watch, und democ.de gab es während der Dauer des Prozesses nur marginal eine konstante Berichterstattung durch die (öffentlich-rechtlichen wie verlagsunabhängigen) Medien. Hättest Du hier mehr erwartet?

Anetta Kahane: Ja, ganz klar. Die Berichterstattung hat gezeigt, dass von Seiten der allgemeinen Öffentlichkeit nur wenig Interesse da war. Es gab sehr viele sehr engagierte Journalisten. Was aber gefehlt hat, war das allgemeine Interesse – wenigstens so viel wie bei den Geissens oder Dieter Bohlen wäre es doch auch gut gewesen, auch mal in dieses Thema zu investieren! Und darauf hinzuweisen, dass man hier ein Thema von großem öffentlichem Interesse hat und dass der Öffentlichkeit auch zuzumuten. Genau das wollte man offenbar nicht.

Weil die Medien offenbar davon ausgegangen sind, dass das die Zuschauer eher abschreckt und dass man damit keine Quote machen kann. Oder dass man sich dabei zuviel Ärger in den Sozialen Medien einhandelt. Das ist natürlich bedauerlich, weil die öffentlich-rechtlichen Medien den Auftrag haben, Berichterstattung zu machen. Die müssen nicht nach Einschaltquoten gucken. Das ist eine Schande.

AVIVA: Stichwort Antisemitismus an Schulen: Wie beurteilst Du es in dem Kontext, dass die Mutter des Halle-Attentäters Lehrerin ist und an der Grundschule in Helbra (Sachsen) Deutsch, Sachkunde und Ethik unterrichtet? (Nach dem Attentat sagte sie gegenüber Spiegel TV: "Er hat nichts gegen Juden in dem Sinne. Er hat was gegen die Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen – wer hat das nicht?")

Anetta Kahane: Antisemitismus macht vor keinem Berufsstand und vor keiner politischen Heimat Halt. Entweder sind es die Narrationen die sich von Generation zu Generation weitergeben, oder es ist nicht so. Insofern spielt es keine Rolle, welchen Beruf die Mutter hat. Wofür es sehr wohl eine Rolle spielt, ist, dass sie sehr wohl ein Zeichen dafür ist, dass solche Leute überall sind, eben auch in der Schule. Wiederum, jemand der so wenig reflektiert, was antisemitisch ist und was nicht, ist natürlich auch nicht in der Lage, Antisemitismus in der Schule zu bekämpfen. Damit machen wir das gesamte Dilemma der Bildung auf. Wer soll denn die Bildung gegen Antisemitismus durchführen, wenn man nicht davon ausgehen kann, dass die Menschen, die andere Menschen bilden, frei sind von Antisemitismus?

Die Frage ist also: Wer ist es denn, der gegen Antisemitismus ausgebildet werden muss, sind es die Schüler oder die Lehrer? Insofern finde ich es wichtig, dass bei der Ausbildung von Lehrern und Sozialpädagogen dieses Thema aufgemacht wird, denn durch Ignoranz geht das Thema nicht von alleine weg. Und vor dem Hintergrund, dass Bildung etwas gegen Antisemitismus beitragen kann, sollte man es zumindest versuchen.

AVIVA: Unter den diversesten Erscheinungsformen des Antisemitismus sind immer wieder antijüdische Verschwörungstheorien, wie aktuell während der Covid-19-Pandemie auf den sogenannten "Hygienedemos" der "Querdenker". Was hat Dich an diesen Bildern am meisten geschockt oder verletzt?

Anetta Kahane: Die Bilder von Menschen in KZ-Kleidung oder die von Anne Frank und Sophie Scholl zeigen eine tiefe Verachtung für die Opfer des Holocaust. Und zwar eine ganz zynische Verachtung, weil diese Leute ja wissen, womit sie spielen. Es ist sozusagen auch eine Enteignung, denn dort heißt es, sie seien ja auch Opfer, und zwar mindestens so sehr wie die Juden. Das ist auch eine sehr aggressive Art, das Trauma weg zu reden und sich aneignen zu wollen: "Jetzt sind wir dran, auch wir werden geächtet, weil wir uns nicht impfen lassen wollen". Diese ganze Gleichsetzungs-Orgie, und dass man da mit einem Davidstern herumläuft und diese Enteignung ist wie eine aggressive Schuldumkehr und Leugnung. Diese gesamte Opfer-Narration ist extrem widerlich. Die Deutschen sind darin ja ganz groß und das ist auch einer der Gründe, warum die sogenannte "Hygiene-Bewegung" in Deutschland so erfolgreich ist.

Und die, die daran glauben, haben nicht nur ein starkes Bedürfnis nach Esoterik, sondern auch ein ganz starkes Bedürfnis danach, mal wieder Opfer zu sein, damit sie nicht mehr Täter sein müssen.
Natürlich ist das verletzend, wenn sich ein Mädchen als Anne Frank inszeniert, weil sie zuhause bleiben musste. Sich der ehemaligen Opfer zu bedienen aus der Täter-Gesellschaft heraus, um sich freizumachen von dieser Schuld, und sich selber in eine Reihe mit den Juden zu stellen, ist unsagbar brutal, aggressiv und einfach widerlich.

Das sind natürlich Dinge, die sehr verletzend sind und mich sehr wütend machen.
Das andere ist, dass die Verschwörungstheorien an sich schon so einen starken antisemitischen Kern haben. Eine der antimodernen Ideologien lautet ja, es gibt etwas Böses und das sind die Juden. Und wenn man die Juden beseitigt, ist das Böse weg. Das ist die jahrtausendalte Narration, seit 1700 Jahren: wenn man den Juden vernichtet, vernichtet man das Böse. Und das steckt natürlich in diesen Verschwörungstheorien drin. Ob der, gegen den man ist, nun Bill Gates heißt oder George Soros oder Rothschild, ist ziemlich egal. Es ist immer der gleiche Mechanismus gemeint. Ein "Verschwörer" ist außerhalb unseres Wir-Gefühls, der ist oben, elitär, ist hinterlistig, der macht das im Geheimen und führt etwas Böses im Schilde. Das sind alles Zuschreibungen, die Antisemiten über Juden machen, und das müssen sie aufdecken und zerstören. Das ist die antisemitische Narration.

Ich kriege gerade sehr viel Prügel dafür, dass ich das so bei der Pressekonferenz im Rahmen der "Aktionswochen gegen Antisemitismus" in Berlin am 24.11.2020 so gesagt habe und versucht habe, das zu erklären.
Ich kriege nach wie vor jeden Tag Hassmails, in denen mir gesagt wird, dass ich die friedlichen Demonstranten als Antisemiten verunglimpfen würde und dass das zeigt, was für eine widerliche Person ich bin. Auch die Auslassungen von Xavier Naidoo, der sich ein paar Tage über meine Person ausgekotzt hat, sind Reaktionen darauf, dass ich als Jüdin es nicht zulasse, dass diese Narration benutzt wird, wonach diese Leute die neuen Juden sind. Das macht die total aggressiv, denn das wollen sie unbedingt für sich beanspruchen.

Ich bekomme Mails und auch Anrufe in der Stiftung, die in ihrer Aggressivität nicht mehr zu steigern sind. Es ist schon bemerkenswert, wie heftig darauf reagiert wird, dass eine Jüdin denen sagen will, dass sie sich nicht dieser Narration bedienen dürfen und aufdeckt, dass sie einen antisemitischen Kanon bedienen.
Es ist für mich persönlich nicht so schön, weil es eben nie schön ist, soviel Hass zu bekommen. Aber es zeigt auch, dass es richtig ist, was ich tue. Auch deutlich zu machen, dass wir Juden uns das nicht gefallen lassen.

AVIVA: Du wirst schon seit Jahren immer wieder antisemitisch beleidigt und bedroht. Du erhältst Hassmails, darunter antisemitische Karikaturen, die Dich verunglimpfen. Wo hättest Du Dir mehr Solidarität und Empathie gewünscht von Seiten der Zivilgesellschaft und der Medien?

Anetta Kahane: Ja, in der Tat. Ich hätte mir gewünscht, dass diese massiv antisemitischen Anfeindungen auch als solche thematisiert worden wären. Aber das ist in der Regel bis auf ganz wenige Ausnahmen nicht passiert.
Das geht auch anderen Juden so, die auf diese Weise öffentlich beschimpft werden. Auch sie merken sowohl, dass kaum darüber berichtet wird, als auch, dass Menschen davor zurückweichen, darüber zu reden. Dies ist eine interessante, aber auch traurige Tatsache. Sie bewirkt, dass Betroffene wie ich, mit diesen Anfeindungen allein bleiben. Außerdem zeigt sich hier auch, wie schwer es offenbar den meisten fällt, bei konkretem Antisemitismus solidarisch zu sein.

Das wiederum wirft kein gutes Licht auf diejenigen, die theoretisch und politisch viel über Antisemitismus reden und ihn beklagen. Konkrete Solidarität oder öffentliche Gegenrede in konkreten Fällen aber bleibt aus. Darüber hinaus wirkt das Schweigen auch als eine Ermutigung für alle Hater, die mit Antisemitismen um sich schlagen. Sie merken, dass diese Form des Hasses von der Gesellschaft nicht geächtet oder bekämpft wird, dass die Opfer sich damit allein auseinandersetzen müssen und dass es am Ende niemanden wirklich interessiert. Über Rechtsextremismus, über Islamismus und über alle anderen Formen von Antisemitismus zu reden, ist wohlfeil, wenn es Betroffene von antisemitischem Hass dabei ungeschützt lässt.

AVIVA: Die Amadeu Antonio Stiftung hat im Rahmen der jährlichen Aktionswochen gegen Antisemitismus eine neue Veranstaltungsreihe ins Leben gerufen: Das Jüdische Quartett! Worum geht es hier und welche Themen werden diskutiert?

Anetta Kahane: Die Themen entscheiden wir jedes Mal neu. Wir wollen, und hier nochmal zurück zum Ausgangspunkt unseres Gesprächs, uns als Jüdinnen als Gestalterinnen darstellen, als Subjekte. Als Menschen, die eine eigene Auffassung haben und eine eigene Ethik, von der wir wollen, dass sie gekannt wird. Und dazu suchen wir uns immer neue Themen. Mit dem nächsten Thema wollen wir 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland aufgreifen und danach fragen, wie das gefeiert werden sollte, an wen erinnert wird und durch wen, und wer vergessen wird. Wir hatten schon verschiedene andere Themen, diskutiert haben wir bisher zu den Themen, die das jüdische Selbstverständnis betreffen, aber auch die Rolle der jüdischen Minderheit in der Einwanderungsgesellschaft und die Frage der Jüdischkeit im Spannungsfeld zwischen Kultur, Religion und säkularem Engagement.

Wir wollen diese Reihe sicherlich fortsetzen. Anfangen werden wir 2021 mit "1700 Jahre". Das Quartett ist auch dazu da, aktuellere Gedenken zu kommentieren. Vielleicht werden wir auch nochmal eines zu den Verschwörungstheorien machen und dann sehen, wie es weitergeht.
Wer weiß, was uns 2021 bringt. 2020 hat uns gezeigt, dass man nie wissen kann, was das neue Jahr bringt. Die wichtige Erkenntnis dieses Jahres ist es, dass das wirklich außergewöhnliche Dinge sein können, über die man sich vorher keine Gedanken gemacht hat.
Wir sind zwar Schwankungen der Normalität mit mehr oder weniger dramatischen Ereignissen gewöhnt. Aber wir sind es nicht gewöhnt, etwas grundsätzlich Neues zu erleben. 2020 hat uns gezeigt, dass das möglich ist.

Anetta Kahane, geboren 1954 in Ost-Berlin, wuchs in der DDR auf. Ihre Eltern waren als jüdische Kommunist*innen vor dem Nationalsozialismus geflohen und nach dem Krieg ins geteilte Berlin zurückgekehrt. Sie studierte Lateinamerikanistik und arbeitete als Übersetzerin. Als erste und einzige Ausländerbeauftragte des Magistrats von Ost-Berlin warnte sie schon früh vor den Gefahren des Rechtsextremismus. 1991 gründete sie den RAA e.V. (Regionale Arbeitsstellen für Ausländerfragen, Jugendarbeit und Schule) für die neuen Bundesländer und 1998 die Amadeu Antonio Stiftung, deren hauptamtliche Vorstandvorsitzende sie bis heute ist. 2002 wurde sie für ihr Engagement gegen Rechtsextremismus und für Zivilcourage mit dem Moses-Mendelssohn-Preis des Landes Berlin ausgezeichnet.

Veröffentlichungen

Anetta Kahane ist Autorin des 2004 bei Rowohlt erschienenen Buches "Ich sehe was, was du nicht siehst. Meine deutschen Geschichten", in dem sie über den Antisemitismus in der DDR berichtet.
2018 hat sie gemeinsam mit Dr. Martin Jander, Enrico Heitzer, und Patrice G. Poutrus das Buch "Nach Auschwitz: Schwieriges Erbe DDR. Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der DDR" herausgegeben.
2020 war sie mit Dr. Martin Jander Mitherausgeberin des Buchs "Gesichter der Antimoderne. Gefährdungen demokratischer Kultur in der Bundesrepublik Deutschland".

"Das jüdische Quartett"

2020 hat Anetta Kahane als eine neue Veranstaltungsreihe der Aktionswochen gegen Antisemitismus der Amadeu Antonio Stiftung das digitale Talk-Format "Das Jüdische Quartett" initiiert. In dem Talk-Format "Das jüdische Quartett" melden sich Jüdinnen zu den unterschiedlichsten Themen zu Wort
Die Frauen im Jüdischen Quartett sind:

  • Anetta Kahane (Gründerin und Vorsitzende des Vorstands der Amadeu Antonio Stiftung, Autorin),
  • Dalia Grinfeld (Assistant Director European Affairs der Anti-Defamation League und Mitgründerin des jüdisch-queeren LGBTQI* Vereins Keshet Deutschland),
  • Laura Cazés (Referentin für Verbandsentwicklung bei der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, ZWST)
  • Dr. Rebecca Seidler (1. Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover)
  • Moderation: Sharon Adler (Gründerin und Herausgeberin von AVIVA-Berlin, Vorstand Stiftung ZURÃœCKGEBEN
    "Das jüdische Quartett": Mehr Infos, aktuelle Termine und die Links zu den bisherigen Folgen unter: www.amadeu-antonio-stiftung.de/das-juedische-quartett

    Mehr Infos zu Anetta Kahane und der Amadeu Antonio Stiftung:

    www.amadeu-antonio-stiftung.de
    www.facebook.com/AmadeuAntonioStiftung
    twitter.com/AmadeuAntonio

    Mehr zum Thema

    Die Aufzeichnung der Pressekonferenz zum Thema "Die Szene der Corona-Maßnahmen-Gegner radikalisiert sich – mit Antisemitismus" im Rahmen der "Aktionswochen gegen Antisemitismus" in Berlin am 24.11.2020 ist online unter >
    www.belltower.news und www.youtube.com

    In einer gemeinsamen Pressemitteilung zur Urteilsverkündung im Halle-Prozess am 21.12.2020 hatte ein breites Bündnis von zivilgesellschaftlichen Initiativen (der Verband der Opferberatungsstellen, der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Bundesverband RIAS) e.V., OFEK e.V. – Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung sowie die prozessbegleitenden Dokumentations- und Rechercheplattformen NSU Watch, Zentrum für demokratischer Widerstand e.V. – democ.de und Belltower News (Netz für digitale Zivilgesellschaft, einem unabhängigen, journalistischen Online-Portal in Trägerschaft der Amadeu Antonio Stiftung) zum mörderischen antisemitisch, rassistisch und misogyn motivierten Attentats in Halle (Saale) an Yom Kippur 2019 die Forderungen der Überlebenden des Attentats in den Mittelpunkt gestellt.
    Mehr Infos unter: www.belltower.news

    Die Amadeu Antonio Stiftung hat im Rahmen der Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus unter dem hashtag #glaubnichtalles was du hörst! einen "Entschwörungsgenerator" kreiert, um die Perfidität der Verschwörungsmythen und Verschwörungserzählungen sichtbar zu machen. Teile deinen Lieblingsverschwörungsmythos unter #glaubnichtalles und mache so auf das Thema aufmerksam! > www.amadeu-antonio-stiftung.de/digitaler-aktionstag-gegen-verschwoerungsmythen-und-antisemitismus

    Antisemitismus in Deutschland heute: Der (am 06.05.2020 veröffentlichte) Jahresbericht 2019 des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. (Bundesverband RIAS) dokumentiert 1.253 antisemitische Vorfälle in vier Bundesländern. Tendenz steigend.

    Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

    Gesichter der Antimoderne. Gefährdungen demokratischer Kultur in der Bundesrepublik Deutschland. Herausgegeben von Dr. Martin Jander, Anetta Kahane
    Die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes analysieren vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Themenfelder die Kontinuitäten von Antisemitismus und Antimoderne sowie ihre Präsenz in verschiedenen politischen Strukturen wie gesellschaftlichen Milieus. Weithin sichtbar in den wissenschaftlich-soziologischen, essayistischen oder empirischen Beiträgen werden die vielfältigen Erscheinungsformen von (Alltags)Antisemitismus und damit die Herausforderungen für die Demokratie: Zivilgesellschaft wie Politik oder Kunst und Kultur. (2020)

    Ein weiteres Interview von Sharon Adler mit Anetta Kahane ist unter dem Titel "Anetta Kahane, Unermüdliche Kämpferin gegen Antisemitismus und Rassismus" in der Anthologie "Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive" erschienen.
    Mehr Infos in der Rezension auf AVIVA-Berlin: Lydia Lierke und Massimo Perinelli (Hg.) - Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive
    Die Herausgeber*innen Lydia Lierke und Massimo Perinelli versammeln in "Erinnern stören" ein breites Spektrum an Biographien, die bei der deutsch-deutschen Vereinigung ignoriert und ausgegrenzt wurden. Gerade deshalb sind diese Erzählungen von rassistischen und antisemitischen Erfahrungen, solidarischen Kämpfen und politischem Engagement ein wichtiger Beitrag zum demokratischen Entwurf einer Gesellschaft der Vielen. (2020)

    JETZT ERST RECHT!
    Um die Erfahrungen, Perspektiven und Forderungen von jüdischen Menschen in Deutschland sichtbar zu machen und ihnen abseits der Statistiken ein Gesicht und eine Stimme zu geben, hat die jüdische Fotografin und Journalistin, Herausgeberin von AVIVA-Berlin Sharon Adler das Projekt JETZT ERST RECHT! initiiert.



    Gefördert wurde das Interview- + Fotoprojekt von der Amadeu Antonio Stiftung.



    Copyright: Gestaltet wurde das Signet JETZT ERST RECHT! von der Künstlerin Shlomit Lehavi. Alle Rechte vorbehalten. Nutzung ausschließlich nach vorheriger schriftlicher Anfrage und Genehmigung durch AVIVA-Berlin.

    (Copyright Foto von Anetta Kahane: Sharon Adler, AVIVA-Berlin)


    Jüdisches Leben

    Beitrag vom 30.12.2020

    AVIVA-Redaktion