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AVIVA-BERLIN.de 3/23/5785 - Beitrag vom 20.03.2021


AVIVA-Interview- + Fotoprojekt JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS: Dennis Khavkin
Sharon Adler, Dennis Khavkin

Um die Erfahrungen und Forderungen von Jüdinnen und Juden zu (Alltags-)Antisemitismus in Dortmund sichtbar zu machen, hat AVIVA-Berlin in Zusammenarbeit mit der Stadt Dortmund – Koordinierungsstelle Vielfalt, Toleranz und Demokratie das Projekt "JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS!" initiiert. Einer der Teilnehmer:innen ist der Student der Wirtschaftswissenschaften an der TU Dortmund, Dennis Khavkin, der in der jüdischen Jugendarbeit und Studierendenarbeit aktiv ist. Sein Slogan lautet: "JETZT ERST RECHT! - STOP ANTISEMITISMUS" – "Mehr Solidarität! Weniger leere Versprechungen!"




Antisemitismus in Dortmund

Die Bilanz antisemitischer Straftaten erfährt einen kontinuierlichen und rasanten Anstieg. Die Zahlen des im April 2020 veröffentlichten ersten Antisemitismusberichtes für Nordrhein-Westfalen für 2019 belegen einen Zuwachs um 19,6%.

AVIVA: JETZT ERST RECHT! - STOP ANTISEMITISMUS! Für das Demo-Schild gegen Antisemitismus hast Du das Statement "Mehr Solidarität! Weniger leere Versprechungen!" gewählt. Welche Message möchtest Du damit transportieren? Warum ist es Dir wichtig, gerade diese Message zu transportieren?



Dennis Khavkin: Mir ist es wichtig, es genau so auszusprechen. Leider habe ich immer wieder das Gefühl, dass viele Versprechen und Worte aus Politik und Gesellschaft leere Worthülsen sind. Auch wenn ich davon ausgehe, dass die meisten Bürger in Deutschland gegen Antisemitismus sind, fehlen mir konkrete Taten. Das finde ich schade.

AVIVA: Synagogen, Schulen und andere jüdische Einrichtungen in Deutschland stehen unter Polizeischutz. Und dennoch: Am 9. Oktober 2019, zu Yom Kippur, dem höchsten Feiertag im jüdischen Kalender, hat ein rechtsextremistischer, antisemitischer Attentäter einen Mordanschlag auf die Synagoge in Halle verübt. (Eine neue Dimension von Antisemitismus?) Wie sicher fühlst Du Dich in Deutschland? Gibt es für jüdische Menschen No-Go-Areas in Dortmund?

Dennis Khavkin: Ich muss erwähnen, dass ich mittlerweile nicht mehr als Jude auf den Straßen zu erkennen bin. Trotz allem begleitet mich oft ein Gefühl der Unsicherheit in manchen Stadtteilen Dortmunds, auch wenn ich nicht als Jude zu erkennen bin. Ich denke, dass es definitiv No-Go-Areas in Dortmund gibt, falls man erkennbar jüdisch ist. Dabei denke ich vor allem an den Dortmunder Norden. Nichts desto weniger ist man in Deutschland relativ sicher, solange man nicht klar als Jude zu erkennen ist, oder keine jüdischen Einrichtungen besucht. Diese werden leider nicht ohne Grund von der Polizei geschützt.

AVIVA: Im Kontext von Antisemitismus bezeichnet "Othering" das Ausgrenzen von Jüdinnen_Juden als "Außenseiter_innen", als "nicht-dazugehörig". Wo bist Du schon selbst – real oder im virtuellen Raum – antisemitischen Klischeebildern oder Antisemitismus begegnet?

Dennis Khavkin: Leider schon während der Schulzeit auf dem Graf-Stauffenberg-Gymnasium in Osnabrück. Ich erinnere mich genau wie mein Mitschüler Adrian L. zu mir sagte, dass meine Eltern reich sein müssten, weil sie als Juden bestimmt Geld waschen. In einem Gespräch mit dem Oberstufenkoordinator wurde diese Aussage belächelt, obwohl ich darauf hinwies, dass diese Aussage hochgradig antisemitisch war. Dabei muss ich erwähnen, dass es nicht die erste und letzte Anfeindung war. Perfider Weise spielte Adrian L. einige Tage später die Rolle eines Juden in einem Theaterstück welches den Novemberprognomen gewidmet war.

Später in der Universität wurde mir nachgesagt, dass ich nicht für Klausuren lernen müsse, da ich als Jude Fächer wie "Buchführung" quasi im Blut hätte.

Viel intensiver erlebt man jedoch Antisemitismus im digitalen Raum. Vor allem wenn es um Israel geht. Mittlerweile versuche ich jedoch solche "Blasen" zu meiden und mich nicht mehr davon beeinflussen zu lassen. Für mich ist das ein Kampf, der bereits verloren ist.

AVIVA: Hast Du bei gegen Dich persönlich gerichteten antisemitischen Angriffen, oder z.B. nach dem Attentat auf die Synagoge in Halle an Yom Kippur spontane Solidarität oder Empathie von nicht-jüdischen Freund_innen erfahren?

Dennis Khavkin: Kurz gesagt, nein. Leider war das in meinem Umfeld kein Thema.

AVIVA: Wo hast Du in der Vergangenheit bei offenem oder verstecktem Antisemitismus Unterstützung vermisst?

Dennis Khavkin: Überall. Viel zu selten wird mal klar ausgesprochen, dass jemand den Mund halten soll, wenn jemand antisemitische Aussagen tätigt. Vor allem im Internet werden antisemitische Parolen viel zu oft akzeptiert/toleriert. Das ist extrem frustrierend.

AVIVA: Wo wünschst Du Dir zukünftig mehr Unterstützung, Support, Empathie, Solidarität in der Zukunft? (von Seiten der Zivilgesellschaft, im nicht-jüdischen Freund_innenkreis, etc.)? In welchen Bereichen sollte die Zivilgesellschaft mehr Verantwortung übernehmen?

Dennis Khavkin: Ich denke, die Zivilgesellschaft sollte immer Verantwortung übernehmen und das nicht nur bei Antisemitismus. Die Trägheit der Gesellschaft eröffnet erst den Raum in dem sich sowas entwickeln kann. Wir alle sollten uns öfter trauen, bei Unrecht klar einzuschreiten.

AVIVA: Denkst Du, wir müssen als Jüd_innen mehr Solidarität einfordern? Wenn ja, wie/wodurch?

Dennis Khavkin: Das ist eine schwierige Frage. Ich denke eigentlich nicht. Es sollte absolut selbstverständlich sein. Leider zeigt die Vergangenheit, dass es nicht so selbstverständlich ist wie wir uns wünschen. Aus diesem Grund, denke ich, bleibt uns oft nichts anderes übrig. Meiner Meinung nach sollten wir viel öfter klar und deutlich Probleme ansprechen. Ich habe viel zu oft das Gefühl, dass man dies nicht macht, weil man niemanden verärgern möchte.

AVIVA: Trägst Du – außer in der Synagoge – öffentlich Deine Kippa, z.B. an der TU Dortmund bzw. im öffentlichen Raum? Falls ja, welche Reaktionen seitens Deiner nicht-jüdischen Kommilitonen/Kommilitoninnen, oder von Menschen auf der Straße, im Supermarkt oder anderen Orten gibt es?

Dennis Khavkin: Mittlerweile nicht mehr, früher ja. Meistens reagieren Menschen mit intensiven Blicken und starren einen praktisch an. Aus irgendeinem Grund haben dann auch viele das Bedürfnis einen darauf anzusprechen ob man "wirklich ein Jude sei" oder "warum die Kippa nicht runterfällt". Niemand würde auf die Idee kommen eine Frau muslimischen Glaubens zu fragen, falls diese ein Kopftuch trägt, ob es nicht viel zu warm mit Kopftuch ist. Aus diesem Grund entschied ich mich irgendwann, keine Kippa mehr zu tragen um nicht mehr aufzufallen und in der Masse unterzugehen.

AVIVA: Immer wieder kursieren altbekannte antijüdische Verschwörungstheorien, wie während der Covid-19-Pandemie auf den sogenannten "Hygienedemos" der "Querdenker" bzw. "QAnon". Hier sehen wir die öffentliche Bagatellisierung der Shoa, Bilder von Menschen in KZ-Kleidung oder von Anne Frank. Welche Klischees werden Deiner Meinung nach bedient und was hat Dich an diesen Bildern am meisten geschockt oder verletzt?

Dennis Khavkin: Ich muss ehrlich zugeben, dass es mich nicht geschockt hat. Antisemitismus war nie weg. Es wäre naiv zu denken, dass Antisemitismus nicht auch in der Mitte der Gesellschaft verbreitet ist. Das haben diese "Demonstrationen" gezeigt. Mich hat es jedoch enttäuscht, dass auch hier viele geschwiegen haben und dies toleriert oder ignoriert haben. Das macht mich wirklich wütend und zeigt, dass Handlungsbedarf besteht.

AVIVA: Unter Kindern und Jugendlichen wird das Wort "Jude" auf Schulhöfen oder in Sozialen Netzwerken ganz offen als Schimpfwort benutzt. Zudem kommt es unter Schüler*innen immer wieder zur Gewaltbereitschaft mit antisemitischem Hintergrund. Warum, denkst Du, kommt es sogar schon unter Kindern und Jugendlichen zu antisemitischen Denken und Gewaltbereitschaft?

Dennis Khavkin: Ich denke, das hat viel mit dem zu tun, was Eltern einem mitgeben. Ich glaube, dass Kinder sich sowas von ihren Eltern abschauen. Niemand kommt als Antisemit oder Rassist auf die Welt. Dieses Denken bekommt man beigebracht. Dabei spielt die Rolle der konsumierten Medien eine große Rolle. Namhafte arabische Nachrichtensender tragen massiv dazu bei.

AVIVA: Welche Maßnahmen in der Jugend- oder Erwachsenenbildung wären Deiner Meinung nach wichtig für eine wirksame Bildungsarbeit gegen Antisemitismus und in der Vermittlung der Shoah? Welchen Auftrag siehst Du in der Arbeit der Bildungsinstitutionen? Was kann nachhaltig wirken und wo siehst Du mehr Bedarf?

Dennis Khavkin: Das kann ich nicht beurteilen. Ziel sollte jedoch sein, dass Lehrer für solche Inhalte sensibilisiert werden. Viele Schüler verlassen die Schule und denken "damit habe ich nichts zu tun. Das war vor meiner Zeit". Das alleine zeigt, dass Bildungseinrichtungen es oft nicht schafften, die gesamtgesellschaftliche Relevanz der Shoah zu vermitteln. Außerdem wird über das Judentum meistens nur in diesem Kontext gesprochen. Dass jüdisches Leben in Deutschland nun seit 1700 Jahren existiert, ist vielen gar nicht bewusst. Es stört mich, dass Juden nicht als Deutsche jüdischen Glaubens betrachtet werden, sondern als jüdische Minderheit die in Deutschland lebt. Ich glaube außerdem, dass das Thema Israel und die autonomen palästinensischen Gebiete behandelt werden sollte um falscher Berichterstattung entgegenzuwirken.

AVIVA: Warum engagierst Du Dich bei "Meet a Jew"? (Welche Klischeebilder willst Du brechen, was möchtest Du vermitteln? Welche Chancen bietet das Projekt? Welche Fragen sind Dir in dem Kontext begegnet?)

Dennis Khavkin: Ich denke, es ist sehr bequem, sich ständig über Antisemitismus zu beschweren. Wenn man jedoch will, dass sich etwas ändert, muss man auch aktiv werden. Das ist der Grund warum ich mich bei Meet a Jew engagiere. Mir ist wichtig, dass man die klassischen Klischeebilder bricht und zeigt, dass man als Jude absolut normal ist. Dass wir nicht super intelligent, super reich und super einflussreich sind. Dabei werden vielerlei Fragen gestellt. Die interessanteste Frage war: "Warum sind Synagogen neben Freimaurerlogen?". Da musste ich tatsächlich nachfragen was der Schüler meint. Später kam er in der Pause zu mir und sagte, dass er bei Google Maps geschaut hätte und ich tatsächlich recht gehabt hätte als ich im sagte, dass das nicht stimmt.

Bei Meet a Jew-Einsätzen ist mir jedoch klar, dass manche mir nie glauben werden. Diese Erfahrung habe ich überwiegend mit Personen muslimischen Glaubens gemacht. Diese waren fest davon überzeugt, dass Juden das Böse in der Welt sind und Palästinenser "abschlachten". Es hat keine Rolle gespielt was ich sagte. Das habe ich für mich akzeptiert. Die schönen Erfahrungen überwiegen deutlich und das positive Feedback ist um ein Vielfaches größer.

Dennis Khavkin, geboren am 5. Juni 1996 im Osnabrücker Land, studiert Wirtschaftswissenschaften an der TU Dortmund. Seit einigen Jahren ist er in der jüdischen Jugendarbeit und Studierendenarbeit aktiv. Außerdem engagiert er sich bei dem Begegnungsprojekt "Meet a Jew" (www.meetajew.de), einem Zusammenschluss der Projekte Rent a Jew und Likrat – Jugend & Dialog des Zentralrats der Juden in Deutschland.


Dortmund setzt ein Zeichen gegen Antisemitismus

Antisemitismus in Deutschland hat viele Gesichter: Auch in Dortmund zeigt die Bilanz antisemitischer Straftaten einen eklatanten Anstieg. Zahlen des im April 2020 veröffentlichten ersten Antisemitismusberichtes für Nordrhein-Westfalen belegen für 2018 einen Zuwachs um 19,6%. Für das Jahr 2019 wurden 310 antisemitische Straftaten erfasst, davon sind 290 Straftaten der politisch motivierten Kriminalität rechts zuzuordnen.

Die Publizistin und Fotografin Sharon Adler und die Künstlerin Shlomit Lehavi wollen mit diesem Projekt die Erfahrungen von Jüdinnen und Juden abseits der Statistiken abbilden und deren Perspektiven und Strategien erfragen. Durchgeführt wird das Interview- + Fotoprojekt "JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS in Dortmund!" von AVIVA-Berlin in Zusammenarbeit mit der Stadt Dortmund – Koordinierungsstelle Vielfalt, Toleranz und Demokratie und in Partnerschaften mit der Jüdischen Kultusgemeinde Groß-Dortmund, dem Museum für Kunst und Kulturgeschichte Dortmund, und der Amadeu Antonio Stiftung.

Mitmachen: Das AVIVA-Interview- + Fotoprojekt "JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS in Dortmund!" im Jahr 2021. Konzept, Ablauf und Hintergrundinfos

Eingeladen, mitzumachen sind jüdische Menschen aller Generationen und Herkunft, die in Dortmund leben und/oder aktiv sind. Menschen, die sich beruflich gegen Antisemitismus positionieren ebenso wie Menschen, die von ihren persönlichen Erfahrungen mit Antisemitismus in Deutschland erzählen möchten. Die dazu beitragen wollen, dass diese Erfahrungen von Alltagsantisemitismus auch nicht-jüdischen Menschen bewusst werden. Menschen, die mit ihrem eigenen Statement ein sichtbares Anti-Antisemitismus-Zeichen schaffen wollen.

Das Demo-Plakat

Die Teilnehmer_innen können zwischen vier verschiedenen Signets für "ihr" Demo-Plakat wählen.

JETZT ERST RECHT-Stop Antisemitismus

Weitere, detailliertere Informationen zum Ablauf und zur Teilnahme sind online unter:

AVIVA-Interview- + Fotoprojekt "JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS!" sowie unter: www.dortmund.de

Wer Interesse hat, an dem Interview- + Fotoprojekt JETZT ERST RECHT! teilzunehmen, kann mit Sharon Adler Kontakt aufnehmen:
Per eMail unter: dortmund@aviva-berlin.de oder telefonisch unter: 030 - 691 85 03 oder 030 - 698 16 752

Konzeption, Projektleitung + Kooperationen

Konzeption und Projektleitung: Sharon Adler, AVIVA-Berlin
Künstlerische Leitung: Shlomit Lehavi

In Zusammenarbeit mit der Stadt Dortmund – Koordinierungsstelle Vielfalt, Toleranz und Demokratie



Partnerschaften

In Kooperation mit der Jüdischen Kultusgemeinde Groß-Dortmund, dem Museum für Kunst und Kulturgeschichte Dortmund, und der Amadeu Antonio Stiftung.



Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Die Interviews und Statements gegen Antisemitismus der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die im Jahr 2020 ihre Antisemitismuserfahrungen mit Sharon Adler auf AVIVA-Berlin geteilt haben sind veröffentlicht unter: AVIVA-Interview- + Fotoprojekt "JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS!"



Copyrights:

Copyright Foto von Dennis Khavkin: Dennis Khavkin

Copyright Signet "JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS!": Gestaltet wurde das Signet von der Künstlerin Shlomit Lehavi. Alle Rechte vorbehalten. Nutzung ausschließlich nach vorheriger schriftlicher Anfrage und Genehmigung durch AVIVA-Berlin und die Stadt Dortmund – Koordinierungsstelle Vielfalt, Toleranz und Demokratie.


Jüdisches Leben

Beitrag vom 20.03.2021

AVIVA-Redaktion