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AVIVA-BERLIN.de 2/22/5785 - Beitrag vom 28.02.2006


Von Berlin nach Berlin um die halbe Welt
Pieke Biermann

Das bewegte Leben des Siegbert "Mickey" Aron. Aufgezeichnet von Pieke Biermann.




Dieser Artikel wurde AVIVA-Berlin von der Autorin Pieke Biermann zur Verfügung gestellt. Er erschien in der "Jüdischen Allgemeine" am 24.Juni 2004 unter dem Titel "Schnauze und Chuzpe".
Copyright Foto: Vera Isler-Leiner.

Dieses charmante Grübchen am Kinn! Wäre er in Wien geboren und nicht in Berlin, Siegbert Aron stände unter Dauerverdacht, das lebende Modell für den Kavalier aller Kavaliere des alten Kontinents zu sein: den "schönen Sigismund". Aber er hat eher "Schnauze" als "Schmäh". Hochgewachsen, schlank, blond, helle Augen - so taucht er im Sommer 1948 in Israel auf, sieht aus wie Paul Newman auf der "Exodus" und ist auch ähnlich konspirativ tätig. Offiziell fährt er als Heizer mit - "ich weiß nicht mal, wie’n Heizkessel aussieht, aber so stand’s in meinem Seemannsbuch!" lacht er. Tatsächlich ist er im Auftrag der Haganah als Begleitschutz an Bord der Schiffe aus Marseille, auf denen die Überlebenden der Schoa aus Europa nach Palästina fahren. Da war ein Teil gerade der Staat Israel geworden. Im September 1948 wird Siegbert Aron in die frisch gegründete Luftwaffe übernommen und nimmt den Spitznamen "Mickey" an. Siegbert klingt unangenehm deutsch und Siggi für arabische Ohren insgesamt unangenehm.

Aber damit ist der Zickzack-Kurs seines inzwischen fast 75-jährigen Lebens noch lange nicht zu Ende. Los geht das am 9.September 1929 im Krankenhaus Berlin-Lankwitz. Familie Aron, Albert und Gertrud, wohnt zuerst in Wilmersdorf, dann in Schöneberg, in der Meraner Strasse am Bayerischen Platz. Siegbert wird 1936 "mit ‘ner schönen großen Zuckertüte" eingeschult. Zwei Jahre später, kurz nach dem 9.November 1938, "wurde ich dann höflichst gebeten, die Schule nicht mehr zu besuchen. Ich galt ja nach den nationalsozialistischen Gesetzen als ‘Mischling ersten Grades’."

Nein, an antisemitische Schikane kann er sich nicht erinnern. Vielleicht weil am Bayerischen Platz gutbürgerliche jüdische Familien wohnen und viele jüdische Kinder in die Schulen der Umgebung gehen. "Also, ich hab ab und zu mit dem Rohrstock auf die Hände bekommen, ich hab auch ab und zu in der Ecke gestanden", erzählt er in seiner schönen lichten Wohnung im Charlottenburger Teil der Lietzenburger Strasse. "Aber auch andere haben das. Ich war’n Durchschnittskind. Immer so etwas über dem Mittel - war ich eigentlich mein Leben lang. Ich hab mich nie sehr angestrengt, brillant zu sein."

Sein Vater hat eine Konfektionsfirma - Kleider, Blusen und Röcke. Auch Albert Arons Eltern sind Kaufleute, im damaligen Deutsch-Posen. Albert ist deutscher Patriot und hat es im Ersten Weltkrieg bis zum Oberleutnant gebracht. Vor allem aber zum Eisernen Kreuz Erster und Zweiter Klasse - und zwar nicht etwa, weil er besonders viele Leute getötet hat. Er hat im Gegenteil bei einem Angriff auf die Zeppelin-Werke am Bodensee einigen seiner Luftwaffen-Kameraden das Leben gerettet. Von denen sitzen inzwischen ein paar in höheren Diensten im Rathaus Schöneberg. Eine Zeit lang können sie ihn schützen.

"Aber eines Tages wurde er gewarnt, deshalb waren wir praktisch über Nacht weg aus Berlin." Ende Dezember 1938 packen Vater und Sohn hastig ein paar Sachen und besteigen den Nachtzug nach Neapel. Von dort geht es am 28. Januar 1939 weiter. "Mit einem japanischen Schiff, ich kann mich sogar noch an den Namen erinnern: ‘Fujimi Maru’. Die Fahrt ging durch den Suezkanal, mit Halt in Colombo und in Hongkong. Und am 28.Februar kamen wir dann in Shanghai an."

Mama Gertrud, vor der Ehe mit Albert zum Judentum übergetreten, bleibt in Berlin bei ihrer eigenen, kränkelnden Mutter. Niemand rechnet mit einer langen Trennung. "‘Der ganze Spuk dauert ein, zwei Jahre’, hat sie gesagt, ‘dann bist du wieder hier.’ Tja." Familie Aron ist nicht die einzige, die sich so tragisch verkalkuliert. Frau Aron wird gezwungen, aus der jüdischen Gemeinde auszutreten, ihre Ehe wird 1941 zwangsgeschieden, Vater und Sohn Aron müssen bis 1947 in Shanghai durchhalten.

Warum Shanghai? "Das war die einzige Möglichkeit für meinen Vater - ich hätte in die USA auswandern können, aber er fiel unter die ‘polnische Quote’." Albert Aron gilt wegen seiner Posener Eltern als Pole und hätte kein Visum bekommen. Und Europa ist zu unsicher. Shanghai ist 1938 noch international, man muss nur genug Geld mitbringen. "Mein Vater hatte etwas Geld in England, damit hat er da wieder eine kleine Firma gegründet, die ExImCo."

Zunächst scheint alles gut zu gehen. Sie wohnen im französischen Teil, Siegbert geht auf die Shanghai Jewish School. Aber bald vertreiben die japanischen Besatzer sie in eine Art Ghetto. Er darf zwar weiter - mit Passierschein - zur Jewish School, die Japaner fügen sich glücklicherweise auch nicht den Naziwünschen nach Internierung und Deportation der Shanghaier Juden. "Aber das ‘Ghetto’ war natürlich kein Zuckerlecken. Und mein Vater verlor über Nacht seine ganze mühsam wieder aufgebaute Existenz, direkt nach Pearl Harbor." Bei den Seeschlachten im Pazifik nach dem 8.Dezember 1941 geht eine Schiffsladung Gewürze aus Indien auf Grund. Natürlich unversichert. "Da hat er sich für eine chinesische Milchfirma als Vertreter betätigt."

1947 werden Aron père & fils "repatriiert", diesmal mit der "Marine Lynx", einem ehemaligen US-Truppentransporter, nach Genua und von da per Zug bis Berlin. Albert heiratet Gertrud noch einmal und zieht nach München, wo er einen Job beim "allied personnel" bekommt. Siegbert - zum Entsetzen seines Vaters schon in Shanghai Zionist - wird nach Südfrankreich zur militärischen Grundausbildung durch jüdische Veteranen der französischen Armee geschickt. Und geht in Israel zur Luftwaffe. Er will Pilot werden.

1949 wird sein Vater krank, auch die Ehe seiner Eltern zerbricht. Siegbert Aron zieht nach München und jobbt beim US-Militär, "so als Fahrer höhergestellter Offiziere." Aber es hält ihn, obwohl er heiratet und einen Sohn bekommt, nicht lange. 1952 wandert er nach Israel aus, nennt sich amtlich um in Shimshon Aron, meldet sich wieder zur Luftwaffe und - wird wieder nicht Pilot. "Ich hatte in Shanghai Amöbenruhr gehabt und war sehr dünn, bin gerade mal so durchgeschlüpft bei der Rekrutierung", erzählt er. "Und damals kamen die ersten Düsenflugzeuge, die englischen ‘Meteor’, und da drin wurde mir sauschlecht. Und dann hat der Militärarzt gesagt: ‘Nein, der ist nicht flugtauglich!’"

Er bleibt zunächst in der Armee. Wird dann Sicherheitsbeauftragter in Ashkelon, "bei der Firma, die die großen Betonrohre für das Negevprojekt produziert", geht danach zur Jewish Agency, heiratet seine zweite Frau. Dann erfährt er, dass die israelische Polizei militärisch ausgebildete Leute sucht, und wird 1957 Polizist, kurz nach der Geburt des ersten seiner vier Söhne mit der zweiten Frau. "Vielleicht wegen meiner zionistischen Jugend - da hat man sich am Wochenende getroffen, und dann wurden Lagerfeuer gemacht und israelische Lieder gesungen. Diese Atmosphäre war’s, dieses Zusammengehörigkeitsgefühl - vielleicht auch Abenteuerlust?" überlegt Mickey Aron, vor sich auf dem Couchtisch stapelweise Fotos, während nebenan seine dritte Frau Sofia mit Küchengeräten klappert. Ganz sachte ziehen feine Wölkchen Bratenduft aus der Küche herüber. Und zwischendurch schwirrt die quirlige Sofia selbst durch die Räume, kramt nach weiteren Fotos, schenkt die Gläser wieder voll, nimmt Anrufe entgegen.

"Ich war immer fasziniert von Uniformen!" sagt Mickey. Und dann, fast abrupt. "Aber heute bin ich ausgesprochener Pazifist. Ich würde heute keine Waffe mehr tragen wollen. Ich wollte ja 1980 aus Israel auch deshalb weg, weil ich mit der ganzen Politik nicht mehr einverstanden war."

Er will, ausgerechnet, zurück nach Berlin. In seine Geburtsstadt. Diesmal kommen ihm glückliche Zufälle und Kontakte zu Hilfe. Kurz nachdem Mickey Aron zur israelischen Polizei geht, wird die "International Police Association" gegründet, über die Polizisten aus aller Welt freundschaftliche Beziehungen knüpfen. In Israel hat die IPA bald den Status einer heimlichen Gewerkschaft, denn israelische Polizisten dürfen sich nicht gewerkschaftlich organisieren, erinnert er sich. Vor allem aber organisiert die IPA Besuche und Gegenbesuche. Und Mickey Aron, der außer Deutsch und Iwrit auch gut Englisch und ganz brauchbar Französisch kann, wird über die Jahre zum "liaison officer" für ausländische Kollegen. In den siebziger Jahren vor allem für die aus Deutschland. Dafür wird er freigestellt von Verkehrsplanung, Unfallbearbeitung, EDV und Verwaltung, wo immer er gerade Dienst tut. Und dabei lernt er unter anderem den damaligen Berliner Polizeipräsidenten Klaus Hübner kennen.

"Er wurde mir als ‘Landeskundiger’ zur Seite gegeben", erinnert sich Hübner, "wir waren damals regelmäßig in Israel, Erfahrungen austauschen." West-Deutschland bekommt gerade mit hauseigenem Terrorismus zu tun, Israelis kennen Sprengstoffattentate und Ähnliches schon länger. Klaus Hübner, Jahrgang 1924 und 1969 vom SPD-Senat aus dem Bonner Bundestag auf den Schleudersitz des Polizeipräsidenten in Berlin geholt, ist ein Macher und Stratege. Er hat die "Unruhe der Jugend überall in der Welt" schon lange im Blick. In West-Berlin ist sie voll erblüht, und er will wissen, was dahintersteckt und wie man die Gewalt daraus "abschöpfen" kann. Zum Wohl der Demonstrationsfreiheit, für ihn ein "Lebenselixier der Demokratie". Hübner zieht Wissen und Motivation zusammen, wo immer er sie findet. Er fährt oft nach Israel, auch privat zum Urlaub, und er hält auch da nichts von Konfliktvermeidung, er setzt sich fachlich auseinander mit seinen israelischen Kollegen. Auf Englisch, auch wenn die meisten Jeckes sind. "Die Polizeispitze war damals nahezu fest in deutscher Hand, wenn ich das mal so sagen darf", lacht er. "Aber die haben meinen Ansatz für polizeiliche Arbeit, an die Wurzeln von Konflikten zu kommen, überhaupt nicht geteilt. Für sie war ein Feind ein Feind, und ein Problem war dadurch zu erledigen, dass man den Feind erledigt. Wir haben darüber immer wieder sehr offen diskutiert, aber wir konnten uns nie verständigen." Für Hübner, den "blutigen Anti-Militaristen", bedeutet, Gewalt nur mit Gewalt zu begegnen, eine endlose Spirale. "Und das kann in Israel nicht anders sein als anderswo."

Die Verständigung klappt an anderen Stellen um so besser. Die älteren israelischen Kollegen zeigen "manchmal fast so eine Art Heimweh" angesichts der deutschen, jüngere setzen sich dann doch an den gemeinsamen Eßtisch, man lernt, "sich persönlich in die Augen zu schauen, sich als Menschen zu erkennen." Freundschaften entstehen. Und hin und wieder, bei einem Gegenbesuch in Berlin, wagt einer der gewaltsam aus Deutschland Vertriebenen, die Stätten seiner Kindheit aufzusuchen, allein für sich, nur freundlich eskortiert von einem jungen deutschen Polizisten, und "spricht mich plötzlich beim Abendessen auf Deutsch an. Das muss für ihn gewesen sein wie ‘Heinrich, der Wagen bricht’ - als ob ein Ring um die Brust plötzlich zerspringt", erzählt Hübner. "Für mich war das überwältigend."

Mickey Aron wird am 1. August 1980 im Rang eines "superintendent" (etwa Polizeirat) frühpensioniert. Dass er den Dienst quittiert, hat auch gesundheitliche Gründe. Er fährt nach Berlin, ruft Hübner an, "und der sagt als erstes: Und wer wird uns jetzt führen?" Das wird einer der vielen anderen Jeckes übernehmen müssen, denn Mickey Aron bleibt in Berlin. Auch weil Klaus Hübner ihn in seiner Riesenbehörde gut gebrauchen kann. Als EDV-Fachmann, als Verwaltungsspezialisten. Eine Uniform muss er nicht anziehen - er kann in seinem Alter ohnehin kein Beamter mehr werden. Er würde das auch nicht wollen. Aber er hilft mit, die "Polizeihistorische Sammlung" aufzubauen, und wird schließlich bis zur zweiten Pensionierung Geschäftsführer des Sozialwissenschaftlichen Dienstes in der Polizeischule.

Nach Israel fahren er und Sofia oft. Zwei seiner Söhne sind dort Polizisten, den dritten hat die Wehrdienstzeit im Libanonkrieg so traumatisiert, dass er "mit Militär nichts mehr zu tun haben wollte. Er ging in die Wirtschaft." Der jüngste ist Computerspezialist. Bei dessen Hochzeit waren sie vor kurzem. Seitdem geht ihm ein Dilemma nicht aus dem Kopf. "Ich bin stolz auf dieses Land, ich hab da meine besten Jahre verbracht, ich spreche die Sprache, aber -", er zögert, "- ich fühl mich da nicht mehr heimisch." Seine Gefühle schwanken zwischen der Überzeugung, dass ein Kompromiss her muss und möglich ist, und der Wut über "dieses sinnlose Umbringen". Es geht vielen Israelis ähnlich, sagt er. "Es ist anders geworden, zu egoistisch vielleicht. Konträr zu den Idealen, die ich für Israel gefühlt hatte."



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Beitrag vom 28.02.2006

AVIVA-Redaktion