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Jüdisches Leben
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Beitrag vom 07.03.2006
World Quintet - das Interview mit David Klein
Sarah Ross
Lesen Sie im Folgenden, wie die Gedichte der jüdischen Lyrikerin Selma Meerbaum-Eisinger ihren Weg ins Tonstudio fanden und eines der berührendsten Musikalben überhaupt entstanden ist.
David Klein, von dem die Idee und das Konzept zur Vertonung von Selma Meerbaum-Eisingers Gedichten stammt, hat zusammen mit seinem World Quintet und zahlreichen deutschen SängerInnen ein musikalisches Gedichtband erschaffen, durch das die Dichterin Selma die HörerInnen auch nach ihrem Tod noch mit in ihre Welt zieht, die von großen Gefühlen, Angst, Hoffnung und einem unbändigen Willen zu Leben geprägt war.
Wie bist Du zum ersten Mal auf die Gedichte von Selma Meerbaum-Eisinger gestoßen?
Ich habe vor einigen Jahren die Schauspielerin Anne Bennent am Fernsehen (Arte, was sonst...) über das Buch sprechen hören. Der Titel Ich bin in Sehnsucht eingehüllt hat mich, als bekennender Romantiker, sofort angesprochen und ich habe mir das Buch gekauft.
Welche Emotionen / Gedanken haben die Gedichte in Dir ausgelöst?
Man findet in den Gedichten ja keinen Hinweis auf die Zeit, in der sie geschrieben wurden. Fragen sich nicht auch heute jede Nacht Millionen von Menschen, während sie von Disco zu Disco und von Partner zu Partner hetzen, auf ihrer Suche nach Liebe und einem Lebensinhalt: "Gehört die Nacht mir, oder ich, gehör’ ich ihr?". Wie viele Kriege muss es noch geben, bis die Menschen "zu traurig" sind, "um sich noch zu hassen."? Haben wir nicht alle schon mit einem geliebten Menschen die "goldensten Lügen" geträumt? Und sind da nicht trotz allem immer wieder "Sonnenstrahlen, welche scheinen, als ginge sie der Regen gar nichts an."?
Deshalb wollen wir Selmas’ Gedichte auch nicht nur auf den historischen Hintergrund reduzieren, sondern sehen sie als zeitlose Texte eines jungen Mädchens, das sich Gedanken machte über die Liebe und das Glück, über Tod und Trauer, über Sehnsucht und Hoffnung. Gefühle, die heute genau so aktuell sind, wie zur Zeit ihres kurzen Lebens.
Wie entstand die Idee, die Gedichte zu vertonen?
Aus Liebe! Ich war zu der Zeit in eine junge Frau verliebt, von der ich wusste, dass sie Lyrik mag. Eine ihrer Lieblingsschriftstellerinnen war Hilde Domin, welche sich ja auf dem Umschlag von Ich bin in Sehnsucht eingehüllt begeistert über Selmas’ Gedichte äußert. Ich habe also meiner Angebeteten das Buch geschenkt, allerdings ungelesen! Wir sind dann auch tatsächlich zusammengekommen und ich habe ihr irgendwann während eines Telefongesprächs gestanden, dass ich das Buch gar nicht gelesen hatte. Sie fand das ziemlich witzig und las mir dann am Telefon das Gedicht Ich bin die Nacht vor. Da fiel es mir wie Schuppen von den Ohren: Songtext! Ich habe also angefangen, mich mit Selmas’ Gedichten zu befassen und Musik dazu zu schreiben.
Wie lange habt Ihr an dem Projekt gearbeitet?
Mit den Verhandlungen mit Hoffmann&Campe wegen der Vertonungsrechte, dem Kontakt zu den InterpretInnen, der Komposition, der Orchestrierung des Sinfonieorchesters und den Aufnahmen, gut fünf Jahre.
Die musikalische Bandbreite, die die InterpretInnen repräsentieren, ist unheimlich groß. Wie kam es dazu, dass Ihr so unterschiedliche KünstlerInnen angesprochen habt?
Ich habe mich intensiv durch die deutsche Gesangslandschaft gehört und eine Auswahl von InterpretInnen zusammengestellt, unabhängig von Alter, Geschlecht und davon, welche Stilrichtung sie vertreten. Dann habe ich einfach den Telefonhörer in die Hand genommen und angefangen, die ausgewählten KünstlerInnen zu kontaktieren. Sobald sie jeweils den Gedichtband gelesen hatten, wollten alle sofort mitmachen. So gesehen hat Selma sie für unser Projekt gewonnen.
Mit welchem Respekt und Einfühlungsvermögen sich diese Sängerinnen und Sänger in den Dienst der Gedichte gestellt und diese aus der Tiefe ihrer Seele interpretiert haben, war für uns eine einzigartige Erfahrung und eine große musikalische und menschliche Bereicherung.
Thomas D
Die Aufnahmen mit Thomas waren absolut relaxed und er unglaublich sympathisch und unkompliziert. Wir haben auf seinem Hof in der Eifel aufgenommen und Thomas’ Manager Parago holte uns vom Bahnhof in Köln ab. Wir waren ziemlich hungrig, was wir Parago auch mitteilten. Der rief sofort Thomas an: "Thomas, die Jungs haben Hunger!". Wir kamen also an und wurden von Thomas empfangen, der am Herd stand und für uns Bratkartoffeln mit Tofu kochte. Sehr lecker! Dementsprechend easy waren dann auch die Aufnahmen.
Ute Lemper
Ich liebe Ute! Und jedes Mal, wenn ich ihren Song höre, verliebe ich mich mehr in sie. Ute ist eine großartige Künstlerin, die trotz ihres weltweiten Erfolges erfrischend bodenständig und zugänglich geblieben ist. Wir haben sie in New York aufgenommen. Was für eine Frau!
Yvonne Catterfeld
Yvonne hat uns mit ihrem Können und ihrer bescheidenen und aufrichtigen Art restlos begeistert. Diese Frau kann alles singen! Sie singt eines der schwersten Lieder und den Tonmeistern im Teldexstudio in Berlin, die am Vortag noch Cecilia Bartoli (legendäre Sopranistin) aufgenommen hatten, ist echt der Kiefer runter gefallen. Das hatten sie von Dieter Bohlens ehemaligem Schützling nicht erwartet.
Hartmut Engler
Völlig unkompliziert und sympathisch. Hartmut hatte sofort zugesagt und kam nach Basel ins Studio. Er sang einen sehr bewegenden Take, der mir die Tränen in die Augen trieb. "Es ist vorbei, die helle Zeit, die Lachen uns gelehrt, sie ging entzwei, Zwiespalt gedeiht, wenn auch die Welt sich wehrt." Ich habe ihm jedes Wort geglaubt! Total Hartmut und doch ganz anders als ich ihn je gehört hatte.
Reinhard Mey
Eines meiner ganz großen Vorbilder was persönliche und musikalische Integrität anbelangt. Wir haben mehrmals gemailt und dabei wurde mir bewusst, dass ich mit den Liedern dieses Mannes groß geworden bin. Ihn zu treffen und mit ihm Musik zu machen, war ein ganz spezielles Erlebnis für mich. Seine Interpretation von Abend I ist so voller Wärme und Einfühlsamkeit und zur gleichen Zeit voller - wie Shakespeare sagt: "Sweet Sorrow". Großartig!
Habt Ihr vorgegeben, welcher Interpret welches Gedicht vertont?
Wir hatten beim Komponieren immer die Stimme der Sängerin oder des Sängers im Ohr, für die wir das Stück komponierten. Wir haben also nicht einfach für eine weibliche oder männliche Stimme komponiert, sondern für einen bestimmten Interpreten. Ich habe mich lange damit beschäftigt, wer welches Gedicht interpretieren soll und erfreulicherweise waren alle mit ihrem Text total glücklich. Nur Joy habe ich zwei Gedichte zur Auswahl gegeben und sie hat sich sofort in Schlaflied für die Sehnsucht verliebt.
Wie war die Stimmung im Studio bei den Aufnahmen?
Pure Magie! Dabei ist folgendes zu bedenken: man legt einen Aufnahmetermin fest und hat dann eine bestimmte Anzahl Stunden zur Verfügung, in der man den betreffenden Song aufnehmen muss. Nun sind wir ja alle Menschen und keine Maschinen, es hätte also durchaus sein können, dass der Eine oder die Andere an einem bestimmten Tag gesanglich oder emotional einfach nicht disponiert gewesen wäre.
Das Gegenteil war aber der Fall. Nachdem wir uns begrüßt hatten (die meisten InterpretInnen haben wir ja im Studio das erste Mal gesehen) und ein bisschen gequatscht oder Ping-Pong gespielt hatten, haben wir angefangen aufzunehmen. Von dem Moment an war es, als hätte sich der Himmel geöffnet. Die Atmosphäre war von so viel gegenseitigem Respekt, Bewunderung und Wohlwollen geprägt, dass wir den jeweiligen Song in Rekordzeit aufgenommen hatten. Es war fast so, als ob Selma, wo immer sie jetzt auch sein mag, ihre Hand schützend über das Projekt gehalten hätte. Diese ganz spezielle Stimmung kam auch in einer Art Ritual zum Ausdruck, dass sich von Anfang an etabliert hatte. Jedes Mal, bevor ich einem der InterpretInnen das Playback startete, sagte ich: "hier kommt’s, von uns, für Dich, mit Liebe."
Welche Leute wollt Ihr mit dem Projekt erreichen?
Selmas Gedichte - das wurde uns bei der Arbeit an den Vertonungen bewusst - sind zeitlos. Geschrieben in einer dunklen Epoche, klingen sie heute noch immer frisch und lebendig, lange nach dem Tod der Autorin. Die Gefühle eines jungen Mädchens, festgehalten 1941, werden 60 Jahre später in gleichem Masse gelebt.
Die Verbrechen der NS- Zeit verblassen langsam, werden vergessen und vor allem bei jungen Menschen ersetzt durch aktuelle Themen wie den Irak- Krieg oder die wachsende Zukunftsangst. Mit dem Vergessen steigt jedoch die Gefahr der Wiederholung in ähnlicher Form.
Gleichzeitig unternehmen rechtsradikale Gruppierungen alle erdenklichen Anstrengungen, Jugendliche mit ihrem gefährlichen und Menschen verachtendem Gedankengut zu manipulieren. So werden auf den Schulhöfen Deutschlands von Neonazis tausende CDs mit rechtsradikalen Inhalten gratis verteilt, um orientierungslose Jugendliche mit der "Einstiegsdroge Musik" zu korrumpieren und für sich zu gewinnen.
Mehr denn je braucht es Menschen, welche diesen Tendenzen entgegenwirken und Jugendlichen Alternativen bieten, die ihrem natürlichen Drang nach Gerechtigkeit, Kreativität und Tiefgang gerecht werden.
Selma- In Sehnsucht eingehüllt ist ein Gesamtkonzept, welches diesen Anspruch auf mehreren Ebenen erfüllt. Die Musik- CD mit den liebevoll umgesetzten Vertonungen, die Neuauflage des Gedichtbandes, das Hörbuch - sie bieten Stoff für Schulen, Diskussionen, regen zur eigenen Dichtung an und bieten Alternativen zu den üblichen Hör- und Denkgewohnheiten.
Anlässlich eines Pilotprojekts an einer Schweizer Schule konnte ich mich persönlich davon überzeugen, wie groß der Wunsch nach mehr Substanz und Tiefe bei den Jugendlichen ist.
In einem 4- stündigen freiwilligen Workshop schrieben 50 Schülerinnen und Schüler nach der Vorstellung des Selma- Projektes wundervolle Gedichte und diskutierten die Thematik des Holocaust, den sie durch Selmas Schicksal in einem gänzlich neuen Licht sahen. Doch auch über die Liebe, das Glück, Trauer, Angst und Hoffnung wurde intensiv gesprochen.
Die gleichaltrige Selma hatte sie nachhaltig beeindruckt und berührt. Inspiriert von Selmas Gedichten und der einfühlsamen Musik fanden sie einen neuen Zugang zu ihren eigenen Gefühlen. Anfängliche Scheu wich einer schier unbändigen Kreativität, die sie über sich selbst staunen ließ - sie waren über sich hinausgewachsen.
Ich bin überzeugt, dass durch die Identifikation mit einer 15- jährigen Autorin, deren Texte von den bekanntesten deutschen Popstars und Liedermachern interpretiert werden, das Vertrauen von jungen Menschen in die eigene Kreativität erheblich gestärkt werden kann. Zudem erleichtert ein solches Projekt, dass ich mir durchaus auch als festen Bestandteil des Schulstoffes vorstellen kann, Jugendlichen den Einstieg in Lyrik und Literatur.
Diese Art der Konfrontation mit einem Einzelschicksal fördert meines Erachtens Toleranz und veranschaulicht für Jugendliche nachvollziehbar die Folgen von Rassismus. Ganz abgesehen von der Möglichkeit der Vergangenheitsbewältigung ohne erhobenen Zeigefinger. Aber grundsätzlich wollen wir natürlich Menschen aller Altersklassen erreichen, die harmonisch und melodisch interessante Musik, sowie Texte mit Inhalt und Tiefgang mögen, selbst gemacht, von Menschen statt Maschinen.
Welche Resonanz erhofft Ihr euch von Publikum und Presse? Was war das Ziel des Projekts?
Selma gehört ja nicht zu den von den Nazis verfolgten Dichtern, deren Werke auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Sie war 1933 knapp neun Jahre alt. Ihre ersten Gedichte entstanden 1939, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Da war sie fünfzehn und schon eine Dichterin. Als Dichterin konnte sie nicht, wie es vielen Autoren über 1945 hinaus erging, vergessen werden. Selma Meerbaum-Eisinger wurde gar nicht bekannt. Sie starb 1942, 18-jährig im SS-Arbeitslager Michailowska.
Dass ein junger, lebensfroher Mensch mit einem so außergewöhnlichen Talent einfach umgebracht wird und nur ganz wenige davon erfahren, dass dieser Mensch gelebt, geliebt, gelacht und Gedichte von berückender Schönheit geschrieben hat, das konnten und wollten wir nicht akzeptieren. Wir haben also begonnen, Selmas’ Gedichte zu vertonen und möchten so vielen Menschen wie möglich mit Selmas’ Gedichten, die so voller Sehnsucht und Traurigkeit sind, aber auch voll von Liebe, Glück und Hoffnung, zurufen: Lebt, liebt und gebt nie auf!
Werden junge Leute, die Yvonne Catterfeld und Thomas D es cool finden, euer musikalisches Universum verstehen? Ihr spielt ja nicht gerade Chartmusik...
Ganz wichtig! Ich sehe es als Aufgabe eines Künstlers, sich weiter zu entwickeln und gleichzeitig das Publikum herauszufordern, neue Hörgewohnheiten zu entwickeln. Stravinsky, Bartok und Schönberg brauchten Jahrzehnte, bis sich das Publikum nach Mozart, Bach und Beethoven an Ihre Musik gewöhnt hatte.
Das geht natürlich nur, wenn das Publikum auch mit verschiedenen Arten von Musik konfrontiert wird. Leider findet das aufgrund der Formatradios und des Diktats der großen Konzerne immer weniger statt. Wie sollen sich Jugendliche musikalisch weiterentwickeln, wenn sie am Radio und TV immer den gleichen profitorientierten Einheitsbrei serviert bekommen? Da gilt es Einiges an Aufklärungsarbeit zu leisten und ich hoffe, unser Projekt trägt ein wenig dazu bei.
Lesen Sie auch die Rezension zum Album auf AVIVA-Berlin.
Weitere Informationen zum Album und zum World Quintet finden Sie hier:www.selma.tv und www.worldquintet.com