Verlorene und wieder gefundene Erinnerungen. Meta Adler - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Juedisches Leben Writing Girls



AVIVA-BERLIN.de 9/2/5784 - Beitrag vom 17.07.2012


Verlorene und wieder gefundene Erinnerungen. Meta Adler
Donna Swarthout

Die jüdisch-amerikanische Schriftstellerin Donna Swarthout zieht nach Berlin und stößt dort unerwartet auf eine verlorene und vergessene Verwandte. Sie macht sich auf eine Reise, um sicher zu...




… stellen, dass das Andenken ihrer Großtante Meta erhalten bleibt.

Als ich meine Kindheit im New Jersey der 1960er Jahre verbrachte, hinterließ der Stempel der deutsch-jüdischen Kultur hat seinen Abdruck auf mir. Meine Nanas, Papas und Tanten sprachen Deutsch und Jiddisch und servierten Kuchen an Stelle von Cookies. Sie zogen sich schicker an, als der Durchschnitt der AmerikanerInnen und wirkten sehr kultiviert. Sie waren immer noch ImmigrantInnen in einem neuen Land, deren Abhängigkeit von einander die Verbundenheit innerhalb unsere weit verstreuten Familie verstärkte.

Jahrzehnte später, als ich als Erwachsene in Kalifornien und Montana lebte, gab es nur wenig Kontakt mit meinem kulturellen Erbe. Ich versuchte oftmals, in die Vergangenheit einzutauchen und die Erinnerungen meiner Kindheit hervor zu holen, um ihre Präsenz wieder in meinem Alltagsleben zu spüren. Aber wie konnte ich diese verschwommenen Eindrücke von früher fassen, während sie immer weiter von mir weg drifteten? Meine Erinnerungen waren nicht mehr fassbar oder detailliert genug, um mehr als eine Fußnote zu meiner Identität darzustellen. Ich trieb in diesem riesigen Ocean namens Amerika ohne einen Anker durch mein Leben, ohne einen wirklichen Begriff von "zu Hause" zu haben.

Die meisten meiner in Deutschland geborenen Verwandten sind mittlerweile verstorben, so dass der einzige Weg, mich meinen Wurzeln anzunähern, war, in das Land zurück zu kehren, aus dem sie geflohen waren. Ich tat diesen Schritt vor zwei Jahren und seitdem bin ich ohne Plan oder Landkarte durch die Räume eines Ortes gewandert, welcher mir neu und vertraut zugleich ist. Die Geschehnisse, die meine Eltern hinter sich gelassen haben, sind hier und warten darauf, dass ich sie erforsche und die Erinnerungen meiner Kindheit scheinen eher in Reichweite. Ich habe den Zweig der Familiengeschichte gewählt, der 1938 abgebrochen wurde, und nähe ihn wieder in das Gewebe eines veränderten Deutschlands ein.

Wie eine Zeitreisende bin ich durch Vergangenheit und Gegenwart gegangen und habe versucht, das Ausmaß zu verstehen, in dem Deutschland mich in Besitz nimmt. Ich habe mich dem Schmerz und dem Genozid geöffnet, der nicht verstanden werden kann und ich habe die Freude darüber gespürt, in der vibrierenden Landschaft jüdischen Lebens in Berlin meinen Platz zu finden. Ich kam hierher, um die Kultur zu erleben, die als Kind meine Sinne so sehr berauscht hat, aber ich habe nie erwartet, irgend etwas zu finden, das Licht auf meine eigene Familiengeschichte wirft. Ich habe meine Familie nie verdächtigt, Geheimnisse zu hüten.

Letztes Jahr habe ich in die Vergangenheit hinein gegriffen und entdeckte meine Großtante Meta. Meta lebte mit der Familie meines Vaters zusammen, erst Altwiedermus und später in Frankfurt, bis sie 1938 nach Amerika abreisten. Meta war eine einfache Frau von Land, die nie heiratete und als Dienstmagd arbeitete. Als jedeR in der Familie außer Meta die Bedingungen für eine Einreise in die USA erfüllte, wurde eine Entscheidung getroffen. Mein Großvater, Metas Bruder, arrangierte die Flucht für seine Frau, seine Kinder und für seine Schwiegermutter. Meta wurde zurück gelassen.

Die Bestätigung von Metas Schicksal kam von der Yad Vashem Datenbank in Jerusalem. Ihr Tod widersprach der Version der Familiengeschichte, die von meinen Eltern erzählt worden war, der Version, in der alle in die Sicherheit entkamen. Meta gehörte zum Haushalt meines Vaters, also hätte ich von ihr erfahren sollen. Die Entdeckung, dass unsere Familie das Andenken an sie nicht aufrecht erhielt, tat mehr weh, als der dumpfe Schmerz, von ihrem Schicksal zu erfahren. Als die Familie meines Vaters die Tür zu ihrem Heimatland hinter sich schloss, sperrten sie Meta in eine Vergangenheit ein, die vor der nächsten Generation verborgen gehalten wurde.


Meta Adler. © Familie Adler

Mein Vater war acht Jahre alt, als er Deutschland verließ, also muss er sich an Meta erinnert haben. Aber er starb vor neun Jahren, so dass ich keine Chance hatte, seine Erinnerungen an und seine Gefühle für die Tante zu ergründen, die plötzlich aus seinem Leben verschwunden war. Statt dessen erfuhr ich die groben Umrisse von Metas Geschichte von einer Dorfhistorikerin in Altwiedermus, nahm dankbar das eine Photo an, das sie mir gab und sammelte die spärlichen Hinweise, die noch vorhanden waren.

Es wäre einfacher gewesen, die Vergangenheit ruhen zu lassen, meine Entschlossenheit, die Lücke in der Familiengeschichte zu füllen, aufzugeben. Ich hätte die unangenehmen Gespräche mit meiner Tante vermeiden können, die Vorwürfe meines Cousins, aus unlauteren Motiven zu forschen, die zahllosen Stunden des Suchens nach Dokumenten, die zerstört wurden. Aber die Ungerechtigkeit eines verlorenen Andenkens wog so viel schwerer, als die Spannungen, die dadurch entstanden sind, dass ich ein Familienschweigen gebrochen habe.

Das Schweigen meines Vaters war am ehesten nachvollziehbar. Er wollte einfach, dass seine zwei Töchter hörten, wie die Familie nach Amerika entkam, sich als arme ImmigrantInnen empor kämpften und erfolgreich den Amerikanischen Traum lebten. Er beschützte uns vor der Trauer über einen Verlust, den er nicht hatte verhindern können. Aber die Nachkommen derer, die entkommen waren und überlebt hatten, sollten nicht von Wissen oder Trauer verschont werden, wir haben eine kollektive Verantwortung, die Geschichten zu erfahren und uns an sie zu erinnern.

Mehr als sieben Jahrzehnte des Schweigens über ein vergessenes Opfer des Holocausts sind nun vorbei. Am 2. Juli 2012 haben wir vor der früheren Wohnstätte der Adlers in Altwiedermus einen Stolperstein für Meta gesetzt. Wir haben Meta wieder in ihren Platz in unserer Familie und in ihrem Dorf eingefügt. Dieser kleine Stein ist ein greifbarer Beweis eines verlorenen Lebens, wie ein Grabstein bezeichnet er einen Ort, um die Tote zu ehren. Metas Stein ist eine dauerhafte Verbindung zur Vergangenheit, für unsere Familie und für eine Stadt, die seit 1938 keine jüdische Bevölkerung mehr gehabt hat.


© Donna Swarthout. Das frühere Haus der Familie Adler in Altwiedermus

Metas Gedenkzeremonie war das Ergebnis von mehr als einem Jahr Arbeit daran, eine Lücke in meiner Familiengeschichte zu füllen. Ich bin nicht nach Deutschland gekommen, um Stammbaumforschung zu betreiben, oder eine Historikerin des Holocausts zu werden. Ich hatte nie erwartet, die Art Schmerz und Trauer zu erfahren, die ich für Meta fühlte. Aber mein Bedürfnis, die Vergangenheit wiedergut zu machen, hat mich auf die Spur eines einzelnen Opfers gebracht, und mir eine tiefe Traurigkeit beschert, vor der ich bisher als Tochter deutsch-jüdischer Eltern beschützt worden war.

Als ich an einem regnerischen Montagmorgen auf den Stufen zu dem Haus, in dem mein Vater seine Kindheit verbracht hat, vor einer kleinen Gruppe Menschen stand, die sich zu Metas Andenken versammelt hatten, konnte ich nur mühsam genug Fassung bewahren, um für Meta sprechen zu können. Aber mit der Unterstützung meiner Schwester und meines Sohnes, der über seine Bar Mitzvah in Berlin das Geld für Metas Stolperstein gesammelt hatte, gab ich dem Leben einer vergessenen Frau eine Stimme. Es ist eines der kraftvollsten Dinge, die ich in meinem Leben getan habe.


© Donna Swarthout. Donna Swarthout nach der Stolperstein-Zeremonie vor dem früheren Haus der Familie Adler in Altwiedermus

Seit ich nach Deutschland gekommen bin, habe ich noch andere Entdeckungen über meine Familie gemacht, Entdeckungen vom Verlieren und (Wieder-)Finden eines Landes, welches viele Fragmente einer dunklen Vergangenheit enthält. Jede Entdeckung stärkt meinen Sinn für mein Selbst und hilft mir, meinen Platz als eine jüdische Frau im heutigen Deutschland zu finden. Ich will mich nicht in der Vergangenheit verlieren, aber ich will sie als einen Teil, der zurück gelassen wurde, berühren und bewahren, um die wieder erlangten Erinnerungen mit mir in die Zukunft zu nehmen. Ich fühle mich jetzt freier, in der Gegenwart zu leben, bereit, die Seiten eines neuen Kapitels meiner deutsch-jüdischen Familiengeschichte zu füllen.


© Donna Swarthout

Donna Swarthout zog im Juli 2010 mit ihrem Ehemann und ihren drei Kindern von Bozeman in Montana nach Berlin. Sie ist die Tochter deutsch-jüdischer Eltern, die 1938 aus Deutschland geflohen sind. Sie hat einen Masterabschluss in Politikwissenschaften von der University of California Berkeley und fast fünfzehn Jahre Erfahrung als Collegelehrerin. Swarthout hat ihre deutsche Staatsbürgerinnenschaft im letzten Herbst wieder erlangt, während ihr ältester Sohn seine Bar Mitzvah in Berlins früherem jüdischem Waisenhaus erhielt. Letztes Jahr entdeckte sie, dass ihre Großtante Meta ein Opfer des Holocausts geworden war.

Swarthout hatte bereits früher für das "Jewish Writing Project" eine Geschichte zu Meta geschrieben, die unter jewishwritingproject.wordpress.com gelesen werden kann.

Auf ihrem Blog "Full Circle" können Sie mehr über sie erfahren.




Lesen Sie auch die englische Version dieses Artikels auf AVIVA-Berlin.


Das Projekt "Jüdische Frauengeschichte(n) in Berlin - Writing Girls - Journalismus in den Neuen Medien" wurde ermöglich durch eine Kooperation der Stiftung ZURÜCKGEBEN, Stiftung zur Förderung jüdischer Frauen in Kunst und Wissenschaft



und der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ)



Weitere Informationen finden Sie unter:

www.stiftung-zurueckgeben.de

www.stiftung-evz.de



Jüdisches Leben > Writing Girls

Beitrag vom 17.07.2012

AVIVA-Redaktion