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Beitrag vom 11.06.2016
Semer Ensemble - RESCUED TREASURE
AVIVA-Redaktion
Ein nahezu vergessenes Goldenes Zeitalter für jüdische Musiker:innen und Komponist:innen - dafür stehen die Lieder, die Hirsch Lewin mit seinem Semer Label in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts in Berlin einspielte.
Das Semer Ensemble erweckt diese Musik gut achtzig Jahre später mit bejubelten Konzerten und seinem Debütalbum Rescued Treasure zu neuem Leben.
Berlin in den Zwanzigerjahren. Hier findet sich Hirsch Lewin wieder, im Ersten Weltkrieg als Zwangsarbeiter aus Vilnius nach Deutschland verschleppt und nach dem Krieg in Berlin gestrandet. Lewin beschließt, in der Stadt zu bleiben, bekommt Arbeit in der Buchhandlung Gonzer und macht sich 1930 mit seiner eigenen Hebräischen Buchhandlung in der Grenadierstraße 28 selbständig.
Dort, inmitten des Scheunenviertels, Zentrum der Berliner Immigrantenszene, verkauft Lewin Bücher auf Hebräisch, Geschichts- und Kinderbücher, Gebetsschals, Kerzen und andere Gegenstände des religiösen Alltags. Seine Spezialität – damals noch eine Seltenheit: Grammophon-Schallplatten. 1932 gründet er sein eigenes Label Semer. Im Jahr darauf kommen die Nationalsozialisten an die Macht, verbieten jüdischen Musiker:innen in nicht-jüdischen Zusammenhängen aufzutreten. Semer hält unter der nationalsozialistischen Herrschaft am längsten durch und wird zu einer regelrechten Arche Noah für jüdische Musiker:innen, die sonst keine Möglichkeiten mehr haben zu spielen und ihren Lebensunterhalt dadurch zu bestreiten.
Fünf Jahre produziert Lewin fieberhaft Aufnahme um Aufnahme – die umfassende Dokumentation einer von der völligen Auslöschung bedrohten Welt. Am 9. November 1938 attackieren SA-Horden auch die Hebräische Buchhandlung, zerstören Laden und Lager einschließlich 4.500 Schallplatten und 250 Matrizen. Semer gerät zunehmend in Vergessenheit.
Hirsch Lewin wurde 1939 verhaftet und in Sachsenhausen inhaftiert. Unter der Bedingung, dass er Deutschland sofort verlässt, wurde er nach einem halben Jahr entlassen. Er schaffte es unter großen Schwierigkeiten nach Palästina, wo sich 1944 seine gesamte Familie wieder traf und er mithilfe seines Sohnes ins Plattengeschäft zurückkehrte. Er starb 1958 in Israel.
Schnellvorlauf in die Gegenwart: In den Neunzigerjahren macht sich der Musikethnologe Dr. Rainer E. Lotz daran, den Semer-Katalog noch einmal in seiner Gesamtheit zusammenzusuchen Es gelingt ihm, anhand von über die ganze Welt verstreuten Exemplaren nahezu sämtliche erhalten gebliebene Veröffentlichungen wiederzufinden.
2012 beauftragt das Jüdische Museum Berlin mit Alan Bern einen der profiliertesten internationalen Vertreter der neuen jüdischen Musik und Programmdirektor des Yiddish Summer Weimar, mit einem Programm zeitgenössischer Interpretationen ausgewählter Beispiele aus dem Semer-Katalog. Bern stellt ein Weltklasse-Ensemble von Musiker_innen aus allen Bereichen seiner künstlerischen Aktivitäten zusammen – Amerika und Berlin, alte und junge Generation. „Verblüffend“, sagt er, "wie es 80 Jahre nach der Vernichtung dieser Kultur wieder eine ganze Szene von Musikern gibt, die das Zeug für ein solches Projekt haben!"
Um den erfahrenen Jazzbassisten Martin Lillich herum schöpft das Ensemble ausgiebig aus dem großen Reservoir an Talenten, über das die neue Berliner Szene verfügt, schlagen Funken zwischen zwei der produktivsten Pioniere der neueren jüdischen Musik – Lorin Sklamberg und Paul Brody – und vier Gallionsfiguren einer neuen Generation kraftvoller Performer:innen - Daniel Kahn, Sasha Lurje, Mark Kovnatskiy und Fabian Schnedler.
Drei Jahre lang entwickelt das Semer Ensemble sein Programm auf erfolgreichen Tourneen quer durch Europa bis zur Aufnahmereife, und spielt es unter der Regie von Produzent Ben Mandelson in drei exklusiven Konzerten im November 2015 im Studio des Gorki Theaters Berlin schließlich zur Veröffentlichung ein.
Aufgenommen nach der üblichen Methode aus den Anfangstagen der Plattenindustrie – live vor Publikum, aber ohne Publikumsreaktionen, Applaus inklusive – schlägt die Aufnahme auch den Bogen zur großen Musiktradition des Gorki Theaters Berlin zwischen 1827 und 1943.
Rescued Treasure, das Ergebnis der Aufnahmen im Gorki Theater, ist eine bewegende Reise in die Vergangenheit. Das historische Gewicht in der besonderen Intensität des Live-Settings zwischen Musiker:innen und Publikum adäquat eingefangen, ist es in State-of-the-Art-Studioqualität produziert und liebevoll zur Veröffentlichung editiert. Lieder von Liebe, amourösen Affären und Eifersucht, dem Krieg, der Torah, dem Sozialismus, Pianolas und dazu tanzenden Mädchen – eine weit geöffnete Tür in ganze Welten vergleichbarer Schätze, die es ebenfalls noch zu heben gilt.
Mit seiner künstlerischen Tiefe und Virtuosität erweckt das Semer Ensemble Hirsch Lewins Originalaufnahmen in ihrer gesamten stilistischen Bandbreite zu neuem Leben.
Frische Interpretationen und provozierend moderne Arrangements schlagen den Bogen zwischen der Musik im Berlin der Neunzehndreißiger Jahre und der neuen jüdischen Szene von heute: Cabaret und russischer Folk, jiddische Theaterhits, Opernarien und Lieder aus der jüdischen Liturgie – ein schmaler, aber schillernder Querschnitt aus dem breiten Spektrum der Musik damals und heute. Energisch und mit voller Hingabe holt Semer Ensemble eine fast vergessene Epoche zurück in die Gegenwart.
AVIVA-Tipp: Das Semer Ensemble hat mit "RESCUED TREASURE" wahrlich einen verlorenen Schatz aus der Vergessenheit geborgen. Es macht glücklich und traurig zugleich, den Liedern einer so grausam zerstörten Welt zuzuhören. Dieses Album verdient eine große Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit!
Semer Ensemble
RESCUED TREASURE
VÖ: 10.06.2016
Label: Piranha
Vertrieb: Indigo / !K7
Formate: CD und Digital
Katalognummer: PIR-CD2959
EAN: 826863295922
Labelcode: 07717
Besetzung:
Alan Bern (piano, accordion, music director)
Daniel Kahn (voice, accordion)
Fabian Schnedler (voice, electric guitar)
Lorin Sklamberg (voice, accordion)
Mark Kovnatsky (violin)
Paul Brody (trumpet) Sasha Lurje (voice)
Die Stücke:
Ich Tanz Und Mein Herz Weint
Scholem Baith
Simchu Bi Jeruschalajm
Die Welt Ist Klein Geworden
Kaddisch
Das Kind Liegt In Wigele
Czardas
Achenu Kol Bes Isroel
Jad Anuga
Lebka Fährt Nach Amerika
Im Gasthof Zur Goldenen Schnecke
Vorbei
Weitere Informationen:
www.facebook.com/Semer.Reloadedund www.piranha.de
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Die Frau im Dunkeln - Chanson-Text-Collage von Evelin Förster
Dass im Kabarett des frühen 20. Jahrhunderts Frauen als Sängerinnen und Tänzerinnen eine große Rolle gespielt haben, steht außer Frage. Claire Waldoff, Marlene Dietrich, Therese Giehse und Valeska Gert kennt jede/r. Dass Frauen aber auch als Komponistinnen und Texterinnen gewirkt haben, weiß kaum jemand. Die Berliner Sängerin Evelin Förster forscht nach diesen vergessenen Künstlerinnen. (2009)
Populäre jüdische Künstler. Musik & Entertainment 1903-1933. Berlin Hamburg München
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Quelle: Piranha