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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 31.07.2021


Be Natural – Sei Du Selbst. Kinostart: 5. August 2021
Ellen Katz

Späte und umso notwendigere Femmage an eine große Pionierin an der Wiege des Kinos durch eine Erbin im Geiste. Pamela B. Green möchte der Drehbuchautorin, Produzentin und Studiobesitzerin Alice Guy-Blaché (1873 – 1968) einem größeren Publikum bekannt machen. BE NATURAL - SEI DU SELBST wird in der Originalfassung erzählt von Oscarpreisträgerin Jodie Foster.




Eines meiner liebsten Bücher trägt den Titel: "Written out of history". Geschrieben von Sondra Henry & Emily Taitz über Frauen, die Außerordentliches geleistet haben, aber dann nicht einfach nur von der Nachwelt "vergessen", sondern regelrecht von der patriarchalen Geschichtsschreibung eliminiert wurden. Nie traf dies mehr zu als bei der französischen Filmpionierin Alice Guy Blaché (1873 – 1968). Sie war nicht nur die erste Regisseurin überhaupt, die mit ihren Filmen Geschichten erzählte, sie verfasste auch die Drehbücher, engagierte Schauspieler*innen, produzierte und hatte sogar ihr eigenes Studio SOLAX. Ein Leben für das neue Medium des bewegten Bildes, das sie mit hunderten von Filmen wesentlich mitprägte, sowohl in Frankreich als auch in den USA. Dort scheint sie nur wenigen bekannt zu sein, vielleicht auch, weil sich Hollywood vor allem mit der eigenen Geschichte beschäftigt und weniger mit den Anfängen der Kunst in Frankreich. Tatsächlich gab es 1995 im nördlichen Nachbarland Kanada schon einen Dokumentarfilm über Alice Guy-Blaché - The Lost Garden: The Life and Cinema of Alice Guy-Blaché von Marquise Lepage - der jedoch kein größeres Publikum erreichte.

Fasziniert hatte die junge Alice die Filme der Brüder Lumiere gesehen. Sie arbeitete, um sich und ihre verwitwete Mutter zu ernähren, als Stenotypistin für die Firma Gaumont und fand, mit einer Filmkamera könne sie mehr anstellen, als nur die Wirklichkeit abzubilden. Ihr kleiner Film "La fee aux choux", den sie mit Freundinnen drehte, zeigt eine Frau, die zwischen Kohlköpfen tanzt und aus ihnen Babys holt. Er wurde ein unerwarteter Erfolg, und bald stieg sie zur Produktionsleiterin bei Gaumont auf, da der Firmengründer sowohl das Potential des Films als auch das seiner Stenotypistin erkannte. Die später so bezeichneten Stummfilme waren eigentlich gar nicht stumm. Alice Guy benutzte ein Verfahren, genannt Phonocéne, bei dem der Ton zuerst aufgenommen und später Lippen-synchron von den Darsteller*innen gemimt wurde.

Be Natural

Durch diese technische Neuerung lernte Alice Guy ihren späteren Mann Herbert Blaché kennen, der von Gaumont in die USA geschickt wurde. Sie folgte ihm ohne Enthusiasmus. Doch wer geglaubt hatte, Alice würde sich nach der Hochzeit damit begnügen, Hausfrau und Mutter zu sein, sah sich getäuscht. Sie gründete ihr eigenes Studio in New Jersey, wo auch viele andere Studios ihren Anfang nahmen, bis der Eddison Trust die gesamte Industrie nach Kalifornien vertrieb. Dort senkte zudem das Klima die Produktionskosten. In den Anfangsjahren bewies Alice Guy Blaché neben Kreativität, Experimentierfreude und Offenheit für technische Innovationen auch Geschäftstüchtigkeit und Durchsetzungsvermögen – notwendige Attribute, um in der hart umkämpften Branche zu überleben.

Überall in den Guy-Blaché Produktionsräumen hatte die Chefin, die Zeit ihres Lebens mit der englischen Sprache haderte, riesige Schilder aufhängen lassen, auf denen die programmatische Weisung an ihre Schauspieler*innen stand: BE NATURAL. Und das ist bis heute den wenigen erhaltenen Filmen anzusehen, die das Studio hervorbrachte, 22 davon in Spielfilmlänge. Beleg dafür, dass sich ihre Arbeit immer weiterentwickelte.

Zurück nach Frankreich

Der erste Weltkrieg, die Wirtschaftskrise und ein Großbrand besiegelten das Schicksal von SOLAX. Das Studio musste Insolvenz anmelden. Auch privat stand es für Alice nicht zum Besten. Ihr Mann verließ sie wegen einer jüngeren Frau. Alice reichte die Scheidung ein und ging 1922 mit ihrer Tochter Simone nach Frankreich zurück. Vergeblich versuchte sie, als Regisseurin Arbeit zu finden, und stieß stets auf verschlossene Türen. Wie zuvor sie selbst, war es nun ihre Tochter, die die Mutter ernährte. Zwar wurde sie 1958 für ihre Verdienste mit der Mitgliedschaft der Ehrenlegion bedacht, inszenierte aber keine weiteren Filme.

Alice Guys Beitrag zur Filmgeschichte wurde weder von Filmhistoriker*innen noch von Gaumont als erwähnenswert angesehen. Sie schrieben ihre Werke, die inzwischen in alle Winde zerstreut, vernichtet oder beschädigt waren, männlichen Regisseuren zu. Ihre Korrekturversuche wurden systematisch ignoriert. So blieb ihr nur noch, ihre Memoiren zu schreiben und ihre letzten Jahre damit zu verbringen, ihren Filmen nachzujagen und ihre Erinnerungen Verlagen anzubieten, die kein Interesse daran hatten, sie zu veröffentlichen. Erst acht Jahre nach ihrem Tod 1968 erschienen sie in Frankreich, das endlich bereit war, sich ihrem großartigen Vermächtnis anzunehmen.

Es ist ein nicht zu überschätzender Verdienst von Regisseurin Pamela B. Green, sich dieser anfangs durchaus erfolgreichen und später um die Anerkennung betrogenen Filmpionierin in achtjähriger, akribischer Detektivarbeit angenähert zu haben. Sie fand eine Fülle interessanten Materials einschließlich eines Interviews mit der über neunzigjährigen Alice Guy für das französische Fernsehen aus dem Jahr 1964 und eines Interviews mit ihrer Tochter Simone auf einer alten Videokassette, die erst nach einem Aufenthalt in einem Ofen (!) abspielbar wurde. Nur ein Beispiel dafür, wie Pamela Green bewirkte, dass die verbliebenen 150 von rund 1000 Filmen restauriert, sicher aufbewahrt und einem Publikum zugänglich gemacht werden konnten.

Zahlreiche Ausschnitte aus Alice Guys Filmen - wie Green sehr überzeugend zeigt - weisen sie als frühe Feministin aus, lange bevor es den Begriff gab. Ihre Protagonistinnen sind aktive, oft dominante Frauen, und sie scheut sich nicht, Themen wie Gewalt gegen Kinder, Arbeitskämpfe und andere kontroverse Themen aufzugreifen. In ihrer Arbeit ließ sie sich auch durch den in den USA grassierenden Rassismus nicht behindern. Als sich weiße Schauspieler*innen weigerten, gemeinsam mit schwarzen in einem Film aufzutreten, besetzte sie alle Rollen mit einem für damalige Verhältnisse revolutionären "all black cast".

Schnipsel-Jagd

Durchzogen ist das Portrait der Alice Guy-Blaché mit der Spurensuche der Regisseurin Green, dabei kommen alle möglichen "State of the Art" Techniken zum Einsatz, die diese als Spezialistin für Titel- und Story-Sequenzen mithilfe von Motion Graphics und Animation mitbringt. Manche Effekte fügen sich stilistisch gut in die Erzählung ein, anderes wirkt überladen und bei der Informationsdichte für die Zuschauerin verwirrend. Besonders das hektische, Werbespots entliehene Schnitt-Tempo, das keine Zeit lässt, ein Bild oder einen längeren Filmausschnitt auf sich wirken zu lassen, sowie auch die schiere Masse an Talking Heads, deren Beiträge nicht immer erhellend sind, machen das Zuschauen mitunter unnötig anstrengend. Weniger wäre hier mehr gewesen.

AVIVA-Tipp: Trotz dieser Einschränkung ein wichtiges und interessantes Künstlerinnenportrait. Nicht nur für filmhistorisch Interessierte empfehlenswert.

Be Natural – Sei Du Selbst
OT: Be Natural: The Untold Story of Alice Guy-Blaché
USA 2019
Regie & Drehbuch: Pamela B. Green, Joan Simon
Schnitt: Pamela B. Green
Kamera: Boubkar Benzabat
Sprecherin: Jodie Foster
Ausführende Produzent*innen: Jodie Foster, Robert Redford, Geralyn Dreyfous
Mit: Alice Guy-Blaché, Simone Blaché, John Bailey, Geena Davis, Patty Jenkins, Ben Kingsley u.a.
103 Min.
Verleih: Filmperlen
Mehr zum Film und der Trailer unter. filmperlen.com/filme/be-natural

In BERLIN wird BE NATURAL - SEI DU SELBST in folgenden Kinos zu sehen sein:
Filmkunst 66, Cinema Paris, Delphi Lux, Bali, Sputnik, Bundesplatz Kino. Sowie ab dem 19. August auch im Klick

Auszeichnungen:
Nominierung für den Dokumentarfilmpreis L´OEil d´or beim Festival de Cannes 2018.
Nominierung Critic´s Choice Documentary Award 2019; Gewinner Clio Entertainment Silver Award 2019.

Zur Regisseurin: Pamela B. Green stammt aus New York, aber lebte die meiste Zeit ihres Lebens in Europa und Israel.
Ihr Dokumentarfilm BE NATURAL - SEI DU SELBST über die erste weibliche Filmemacherin Alice Guy feierte 2018 bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes in der Kategorie "Cannes Classics" Premiere und wurde u. a. beim Deauville Festival du Cinéma Américain, beim Telluride Film Festival und beim BFI London Film Festival gezeigt. Der Film kam 2019 in den USA, Kanada, Australien und Neuseeland in die Kinos und wurde von der Kritik gefeiert.
Pamela B. Greens Arbeit ist sehr weit gefächert. Besonders bekannt ist sie als Gestalterin von Titel- und Storysequenzen mithilfe von Motion Graphics und Animation. Sie produzierte Haupttitel und fungierte als Beraterin für Storysequenzen und Marketingkampagnen für Filme wie die Bourne-Reihe, Fast and Furious, Die Muppets und mehrere Marvel-Comic-Franchises. Fürs Fernsehen und Streaming hat sie unter anderen die Titel für Supergirl, The Flash und Quantico designt. Sie hat sowohl Musikvideos als auch Werbespots gedreht und produziert und war als Creative Director sowie als Produzentin an Shows wie den Academy Awards und den MTV Awards beteiligt.
Auch "Legwork Collective" wurde von ihr gegründet: "Mediendetektiv*innen" recherchieren und erwerben die Rechte an außergewöhnlichem Archiv- und Filmmaterial, Standbildern und Tonspuren u. a. für die Verwendung in Spielfilmen, Dokumentationen, TV-Serien und Werbespots.
Aktuelle Infos: https://twitter.com/_pamelabgreen

Mehr zu Alice Guy-Blaché:

Ein Portrait von Alice Guy-Blaché mit vielen weiterführenden Informationen und einer Filmographie auf Women Film Pioneers Project: wfpp.columbia.edu

Mehr Infos zu Alice Guy-Blaché mit vielen weiterführenden Informationen und einer Filmographie in der Internet Movie Database: www.imdb.com

The Research & Books of Alison McMahan, the author of the award-winning Alice Guy Blaché, Lost Visionary of the Cinema (Bloomsbury, 2002) aliceguyblache.com



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Beitrag vom 31.07.2021

AVIVA-Redaktion