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Beitrag vom 25.03.2009
Deutschland 09 - 13 kurze Filme zur Lage der Nation
»Nana« Nicole Wenger
Deutschland im Frühjahr 2009 – ein Land in der Krise? Eine Gruppe erstrangiger FilmemacherInnen gibt kritische, differenzierte und individuelle Ein- und Ausblick in die sozial-politische ...
... Situation der Bundesrepublik.
Ja, Deutschland steckt in der Krise in wirtschaftlicher, sozialer, politischer und kultureller Hinsicht. Die Zeiten und ihre Menschen sind mehr als unsicher. Gerade jetzt - gut sechzig Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik, vierzig Jahre nach der StudentInnenrevolte, über dreißig Jahre nach dem "Deutschen Herbst", den Anschlägen der RAF und zwanzig Jahre seit der Wiedervereinigung - steht die Demokratie (immer noch) auf wackligen Beinen. Die Angst sitzt der Bevölkerung im Nacken. Auch der "Spaßgesellschaft" bleibt das Lachen im Halse stecken. Furcht kommt auf, vor dem wirtschaftlichen Ende, der sozialen Verantwortung, der totalitären Überwachung, der Globalisierung und einem Terror, bei dem die Täter und Opfer nicht mehr auszumachen und zu finden sind.
Die ersten Abgesänge auf "Multikulti" und die Demokratie werden laut, die mündige BürgerIn wird angesichts der täglichen Schreckensnachrichten schweigsam und viele Medien neigen zur entpolitisierten Unterhaltung. Gerade jetzt scheint ein geeigneter Zeitpunkt zu sein, sich zu fragen, wie es um uns, dieses Land, und die Demokratie bestellt ist.
Dieser Bestandsaufnahme haben sich Mit-Initiator Tom Tykwer (Feierlich reist) sowie zwölf weitere RegisseurInnen auf sehr unterschiedliche Weise angenommen: Jedem stand es frei, in welcher Form sie oder er sich mit dieser "Nation" beschäftigt, sei es satirisch, experimentell, dokumentarisch ... Die Ergebnisse dieses Projekts fallen dabei keineswegs einheitlich aus, hinterlassen bei den ZuschauerInnen vereinzelt kryptische Fragezeichen, aber auch Hoffnung und die Motivation, sich mit diesem Land auseinander zu setzen. Die Liste der beteiligten RegisseurInnen und der SchauspielerInnen liest sich dabei wie das Who-is-Who des deutschen Films:
Fatih Akin zeichnet in seinem Beitrag Der Name Murat Kurnaz die Verschiebung der Grenzen zwischen Opfer und Täter und den schleichenden Austausch von Freiheit gegen eine vermeintliche Sicherheit, die nicht für alle gleichermaßen gilt, nach. Für ihn steht der Name Kurnaz symbolisch für Folter und Terror, welche jede/n treffen kann, der sich heute zur falschen Zeit, mit dem "falschen Pass" am falschen Ort befindet. Mit einem ähnlichen Thema beschäftigt sich auch Hans Weingartner in Gefährder. Auch er thematisiert die Sicherheitspolitik Deutschlands und die Umkehr von der Unschulds- zu einer Verdächtigkeitsvermutung. Anhand eines realen Falles zeigt er, wie aus einem Soziologiedozenten sehr schnell ein Terrorverdächtiger werden kann, der aufgrund eines "falschen" Wortes in das Fadenkreuz des BND und der Justiz gerät. Deutlich wird auch hier das Klima einer langsam gärenden terror-paranoiden Gesellschaft, die stark an die Zeiten des Deutschen Herbst von 1977/1978 und die Fassbindersche Debatte um die öffentliche Diskussion der Demokratie und der Meinungsfreiheit erinnert. Isabelle Stever verlegt Eine demokratische Gesprächsrunde zu festgelegten Zeiten in das Klassenzimmer und Nicolette Krebitz versetzt bei ihrem Beitrag Die Unvollendete eine sechzehnjährige Autorin in das Jahr 1969 zurück und lässt sie mit Susan Sontag und Ulrike Meinhof über die Gegenwart konferieren – eine ungewöhnliche Zusammenführung unterschiedlicher Sichtweisen und auch Generationen.
Ein weiteres Glanzlicht dieses Episodenfilms setzt Dani Levy mit seiner sozial-utopischen Auslotung der Wirklichkeit. In Joshua begibt er sich mit seinem Alter Ego auf die Suche nach einem Ausweg aus der emotionalen Resignation und einem Heilmittel gegen die bürgerliche Depression. Seine Figur – Levy - befragt die Menschen auf der Straße zu Stimmung und Lage dieses Staates. Es herrscht im Innern die große Depression. Dabei sind Einbildung, Ursache, Symptom und "Krankheit" nicht mehr klar auszumachen. Bestimmt die Angst die Gesellschaft oder verursacht diese die deutsche Melancholie? Levy konsultiert einen Psychiater, der weiß Rat – Promorganas, ein deutsches Heilmittel und garantiert pflanzlich. Diese Volksdroge wirkt. Fröhlichkeit und Optimismus durchfluten das Land, spontanes multi-kulturelles Arkadien entsteht, Levy wirbelt seinen Sohn durch die Luft – Joshua fliegt. Die Wirkung ist nicht von Dauer, die Stimmung kippt. Levy legt eine weitere Ampulle der Droge nach.
Auch Wolfgang Becker transportiert die deutsche Gesellschaft in sein Krankes Haus und offenbart eine desolate Nation, die sich kaum noch zu helfen, geschweige denn zu retten weiß. In Sylke Enders Beitrag Schieflage begegnen sich in einer deutschen Suppenküche drei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und deren Leben doch allesamt in Schieflage geraten ist. Dominik Graf zeigt in seiner Bilderstrecke Der Weg, den wir nicht zusammen gehen in Super 8-Format eine Art Dokumentation des Verfalls, eine deutsche Nachkriegs-Architektur die als ein Synonym für die Identifikationskrise des Einzelnen wie der Gesellschaft gelesen werden kann. Christoph Hochhäusler erzählt in Séance ein deutsches Märchen und eine Zukunftsvision, welche sich so auf der Erde entfernten Seite des Mondes zutragen könnte. Romuald Karmakar gibt in Ramses Einblicke in die Halb- und Unter-Welt eines persischen Animier-Barbesitzers. Auch seine Zeiten haben sich verändert, seine Welt ist im Wandel begriffen und doch eng mit der Vergangenheit verbunden. Angela Schanelec(Erster Tag) reiht und blendet unterschiedliche Raum-Ansichten in- und aneinander. Ihre Intention lässt sich leider nur schwer nachvollziehen. Und Hans Steinbichler lässt in Fraktur einen modernen Candide – den Industriellen Beintl - beinahe an der Welt und vor allem an der FAZ verzweifeln: Diese hat ihr Layout geändert und damit – für ihn – die Bürgerliche Welt und Bildung dem Schwinden preisgegeben. Doch Beintl beschließt zu handeln...
AVIVA-Tipp: "Deutschland 09" ist eine ambitionierte Auseinandersetzung der neuen deutschen Film-Generation, die dieses Land auf disparate Art und Weise, abstrakt, emotional, distanziert, global – eben sehr individuell analysiert. Nicht alle Beiträge werden sich der Einzelnen erschließen. Unterschiedliche Emotionen werden die ZuschauerInnen durchfluten. Dennoch, "Deutschland 09" ist ein wirklich sehenswertes und aufwühlendes Filmereignis für Jede/n, der oder die die Hoffnung in diesem Land noch nicht aufgegeben hat!
Deutschland 09
Deutschland 2009
Regie: Fatih Akin, Wolfgang Becker, Sylke Enders, Dominik Graf, Christoph Hochhäusler, Romuald Karmakar, Nicolette Krebitz, Dani Levy, Angela Schanelec, Hans Steinbichler, Isabelle Stever, Tom Tykwer, Hans Weingartner.
HauptdarstellerInnen: Josef Bierbichler, Benno Fürmann, Eva Habermann, Helene Hegemann, Sandra Hüller, Karl Markovics, Denis Moschito, Jasmin Tabatabai u.a.
Verleih: Piffl Medien
Lauflänge: 151 Minuten
Kinostart: 26.03.2009
Weitere Informationen: www.Deutschland09-der-film