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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 13.03.2012


Vita Sackville-West - Eine Frau von vierzig Jahren
Annika Hüttmann

Die Autorin, die Virginia Woolf als Vorbild für "Orlando" diente, sorgte 1932 mit der Liebesgeschichte einer Frau zu einem viel jüngeren Mann für reichlich Aufsehen. Die ebenso intensive ...




... wie komplizierte Beziehung der ProtagonistInnen ist im Jahr 2012 weniger skandalös, lässt eineN aber trotzdem nicht kalt.

Als Evelyn Jarrold - vierzig Jahre, verwitwet und Mutter eines fast erwachsenen Sohnes, und Miles Vane-Merrick, fünfzehn Jahre jünger, aufstrebender Politiker und Schriftsteller, sich auf einem Ball begegnen, verlieben sie sich sofort leidenschaftlich ineinander und beginnen eine Affäre. Für Evelyn bedeutet dies eine riesige Veränderung ihres bisherigen Lebens. Während sie vorher mühelos einen Platz in der sozial hochgestellten, konservativen Familie ihres verstorbenen Mannes einnahm und ihr Interesse hauptsächlich darin bestand, gut auszusehen und bewundert zu werden, muss sie nun all dies hinterfragen. Für den jungen Miles ist es unverständlich, dass es für sie so wichtig ist, was andere über sie denken - auch wenn er sie liebt, hält er sie für oberflächlich und altmodisch.

"Es ist schon ein seltsamer Gegensatz, dich aufs Modernste gekleidet zu sehen und dabei die altmodischsten Ansichten aus deinem Mund zu hören. Aber das gibt deiner Persönlichkeit gerade den reizvollen Bruch: Die Viktorianerin und die moderne Frau. Der Widerspruch zwischen deinem Inneren und deinem Äußeren. Du solltest dich altmodisch kleiden - Gott sei Dank tust du´s nicht."

Evelyn, die das erste Mal richtig verliebt ist, fordert von ihrem Liebhaber viel Aufmerksamkeit, ist eifersüchtig und besitzergreifend. Miles dagegen schätzt vor allem Freiheit und Unabhängigkeit und verhält sich Evelyn gegenüber häufig egoistisch und überheblich. Im Gegensatz zu ihr möchte er offen zu seiner Liebe stehen, auch wenn das für die Menschen, mit denen Evelyn verkehrt, ein Skandal wäre. Obwohl die beiden also eigentlich sehr schlecht zusammen passen und sich ständig streiten, ist die Anziehung so groß, dass sie immer wieder versuchen, die Probleme hinter sich zu lassen, die der Altersunterschied und ihre verschiedenen Ansichten und Lebenswirklichkeiten mit sich bringen. Doch vor allem Evelyn leidet unter dem ständigen Auf und Ab und sieht sich gezwungen Konsequenzen zu ziehen, auch wenn sie dafür einen hohen Preis bezahlt.

Vita Sackville-West lässt in ihrem Roman zwei Generationen aufeinander prallen. Evelyn ist noch fest im viktorianischen Zeitalter und dessen Idealen verhaftet, Miles steht für ein radikal neues England der 1930er Jahre. Während die Familie von Evelyns verstorbenen Mann noch konservativer ist als sie selbst, identifiziert sich ihr Sohn Dan mit den Ansichten Vane-Merricks. Stellenweise wird zwar deutlich, dass die Autorin eher wie ihre jungen männlichen Romanfiguren denkt, aber sie nimmt sich sehr zurück, was Wertungen bezüglich ihrer ProtagonistInnen betrifft. Gerade das macht die tragische Liebesbeziehung sehr glaubwürdig. Sowohl Evelyn als auch Miles werden mit positiven und negative Seiten dargestellt, mal als stur und überfordert, mal als euphorisch, reumütig und liebenswert. So wird sowohl nachvollziehbar, warum sich die beiden so sehr zueinander hingezogen fühlen, als auch, warum ihre Liebe fast unmöglich ist.

Als "Eine Frau von vierzig Jahren" oder "Family History", wie der Originaltitel lautet, 1932 das erste Mal erschien, war die Schilderung der damals unkonventionellen Liebesgeschichte noch recht skandalös. Auch wenn heute eine solche Romanze kaum jemanden noch ernsthaft schockieren kann, und einige der typisch "weiblichen" und "männlichen" Eigenschaften, von denen der Roman ausgeht, aus heutiger Sicht sehr veraltet dargestellt sind, bleibt die geschilderte Liebesgeschichte fesselnd und berührend. Die Autorin beschreibt große Gefühle fast ohne Kitsch und mit feinem psychologischen Einfühlungsvermögen. Hinzu kommt, dass das Buch als Zeitdokument interessant ist und zeigt, dass Vita Sackville-West nicht nur als Persönlichkeit, Freundin und Geliebte von Virginia Woolf eine Rolle spielte, sondern vor allem als wichtige und mutige Autorin des letzten Jahrhunderts.

AVIVA-Tipp: "Eine Frau von vierzig Jahren" liefert anhand einer sehr treffsicher geschilderten tragischen Liebesbeziehung ein Portrait Englands zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts. Achtzig Jahre nach der Erstveröffentlichung sind die allgemeinen zwischenmenschlichen Beobachtungen der Autorin noch immer voller Wahrheiten. Der Blick hinter die Kulissen englischer Aristokratie ist vielleicht inzwischen weniger gewagt, aber trotzdem noch sehr reizvoll.

Zur Autorin: Vita Sackville-West, lebte von 1892 bis1962 in England, zeitweise auch in Persien. Sie veröffentlichte mehr als 50 Bücher, darunter sehr erfolgreiche Romane, Reisebeschreibungen und Bücher über das Gärtnern. 1913 heiratete sie den Diplomaten und Kritiker Harold Nicolson, die Ehe hielt ein Leben lang, beide PartnerInnen führten jedoch nebenher langjährige homosexuelle Beziehungen. Sackville-West war mehrere Jahre mit der Schriftstellerin Violet Trefusis liiert, später mit Virginia Woolf, deren Roman "Orlando" als Liebeserklärung an sie gelesen werden kann. "Eine Frau von vierzig Jahren" erschien in Deutschland zunächst 1950 und 1987 als Taschenbuch.

Vita Sackville-West
Eine Frau von vierzig Jahren

Originaltitel: Family History
Edition Ebersbach, erschienen im Februar 2012
Gebunden, 415 Seiten, mit Lesebändchen
978-3-86915-047-5
24,80,- Euro

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Beitrag vom 13.03.2012

Annika Hüttmann